Oblomow

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Fünftes Kapitel

Oblomow, Edelmann von Geburt, Kollegiensekretär von Rang, lebte seit zwölf Jahren beständig in Petersburg.

Einst, als seine Eltern noch am Leben waren, hatte er weniger Räume, nahm nur zwei Zimmer ein und begnügte sich mit dem einen Diener Sachar, den er sich von dem Gut mitgebracht hatte. Doch nach dem Tode des Vaters und der Mutter war er der einzige Besitzer von dreihundertfünfzig Seelen, die er in einem der entlegensten Gouvernements, beinahe in Asien, geerbt hatte. Er bekam jetzt statt fünf- sieben-bis zehntausend Rubel Jahresrente, und sein Leben spielte sich von nun an in einem anderen, größeren Rahmen ab. Er mietete sich eine größere Wohnung, fügte zu seinem Dienstbotenetat einen Koch hinzu und hielt sogar eine Zeitlang ein paar Pferde. Damals war er noch jung, und wenn man auch nicht behaupten kann, daß er lebhaft war, war er doch wenigstens lebhafter als jetzt; er war noch von verschiedenen Bestrebungen erfüllt, hoffte immer auf etwas, erwartete viel vom Schicksal und von sich selbst, bereitete sich immer zu einer Laufbahn, zu irgendeiner Tätigkeit vor – vor allem natürlich innerhalb seiner Amtsstellung, die ja auch das Ziel seiner Reise nach Petersburg war. Dann hatte er vor, auch in der Gesellschaft eine gewisse Rolle zu spielen. Endlich, in der entfernten Perspektive des Überganges der Jugend in ein gesetztes Alter, schwebte seiner Phantasie ein verlockendes, glückliches Familienleben vor. Aber ein Tag folgte dem anderen, die Jahre flogen hin, der Flaum um sein Kinn wurde zu einem struppigen Bart, die strahlenden Augen verwandelten sich in zwei trübe Punkte, die Gestalt rundete sich, das Haar begann unbarmherzig auszugehen, er vollendete sein dreißigstes Jahr, und er war auf keinem einzigen Gebiete auch nur um einen Schritt nach vorwärts gerückt und stand dort noch immer an der Schwelle seiner Laufbahn, dort, wo er sich vor zehn Jahren befunden hatte.

Das Leben zerfiel in seinen Augen in zwei Hälften: Die eine setzte sich aus Arbeit und Langeweile zusammen, die zweite aus Ruhe und friedlicher Fröhlichkeit. Infolgedessen machte ihn seine wichtigste Laufbahn – das Amt – in der ersten Zeit auf eine sehr unangenehme Weise stutzig.

Er war in dem Innern der Provinz inmitten der sanften und gefühlvollen Sitten und Gebräuche der Heimat aufgewachsen, kam im Laufe von zwanzig Jahren nicht aus den Umarmungen der Verwandten, Freunde und Bekannten heraus und war so von Familiensinn durchdrungen, daß er sich auch sein künftiges Amt in der Art irgendeiner Familienbeschäftigung vorstellte, etwa in der Form des trägen Notierens der Einkünfte und Ausgaben, wie sein Vater es tat. Er glaubte, daß die Beamten irgendeines Ortes einen intimen, innigen Familienkreis bildeten, der sich unermüdlich um die Ruhe und das Vergnügen seiner Mitglieder sorgte, daß der Dienst im Amt durchaus obligatorische Gewohnheit wäre, an die man sich täglich zu halten hätte, und daß nasses Wetter, Hitze oder einfach eine Verstimmtheit immer eine genügende und gesetzliche Ursache wären, um nicht ins Amt zu gehen. Aber wie sehr kränkte es ihn zu sehen, daß mindestens ein Erdbeben sich einstellen müßte, damit ein gesunder Beamter nicht ins Amt zu gehen brauchte; in Petersburg kommen aber leider keine Erdbeben vor, eine Überschwemmung könnte zwar auch als Hindernis dienen, doch auch die tritt selten ein.

Oblomow wurde noch nachdenklicher, als vor seinen Augen Pakete mit der Aufschrift »eilig« und »sehr eilig« vorbeiflimmerten, als man ihm allerlei Erkundigungen und Exzerpte auftrug und zweifingerdicke Hefte vollzuschreiben befahl, die man wie zum Hohn Notizen nannte.

Außerdem mußte alles sehr schnell gehen, alle hatten es so eilig und gönnten sich gar keine Ruhe; sowie sie mit einer Sache fertig waren, stürzten sie mit einem wahren Ingrimm über eine andere her, als ob gerade diese die Hauptsache wäre; wenn sie aber damit fertig waren, verfiel auch sie der Vergessenheit, und es wurde eine dritte Angelegenheit vorgenommen, und so ging es bis in die Unendlichkeit fort! Ein paarmal weckte man ihn in der Nacht und ließ ihn »Notizen« schreiben, oder man holte ihn, wenn er auf Besuch war, durch einen Boten ab – und das wieder der Notizen wegen. Das alles erweckte in ihm große Angst und Langeweile. »Wann soll man denn leben? Wann leben?« flüsterte er bange.

Als er noch zu Hause war, hatte er gehört, der Chef sei der Vater seiner Beamten, und machte sich eine sehr rosige Vorstellung von demselben, indem er ihn fast als einen Verwandten ansah. Er dachte sich, er sei ein zweiter Vater, der nur für das eine lebt, wie er seine Beamten mit und ohne Ursache ununterbrochen belohnen könnte, und der sich nicht nur um ihre Bedürfnisse, sondern auch um ihre Vergnügungen sorgt. Ilja Iljitsch dachte, der Chef müßte sich in die Lage seines Beamten so hineinversetzen, daß er ihn besorgt fragen würde, wie er in der Nacht geschlafen habe, warum seine Augen trüb seien und ob er Kopfschmerzen habe. Doch er war gleich am ersten Tag seines Dienstes bitter enttäuscht. Mit der Ankunft des Chefs begann ein Hin- und Herrennen, ein Trubel, alle wurden verwirrt, stießen einander um, manche zupften sich ihre Kleider zurecht, in der Befürchtung, nicht anständig genug auszusehen, um sich dem Chef zu zeigen.

Oblomow bemerkte späterhin, daß das alles darauf zurückzuführen war, daß es Chefs gab, welche in dem bis zur Blödsinnigkeit erschrockenen Gesicht des Beamten, der ihnen entgegenrannte, nicht nur Achtung sich gegenüber, sondern auch Diensteifer und manchmal sogar Begabung sahen. Ilja Iljitsch brauchte sich vor seinem Chef nicht zu fürchten, da dieser ein gutmütiger Mensch mit angenehmen Manieren war; er hatte noch nie jemand Böses getan, die Beamten waren vollkommen zufrieden und wünschten sich nichts Besseres. Niemand hatte ihn jemals etwas Unangenehmes sagen, schreien oder lärmen gehört; er verlangte nie etwas, er bat immer. Er bat, eine Angelegenheit zu erledigen, er bat, man möchte ihn besuchen, er bat auch, man möchte sich verhaften lassen. Er duzte nie jemand, er sagte zu allen Sie, jedem einzelnen Beamten und allen zusammen. Doch alle seine Untergebenen wurden in seiner Anwesenheit befangen; sie beantworteten seinen freundlichen Blick nicht mit ihrer eigenen, sondern mit einer fremden Stimme, mit welcher sie sonst niemals sprachen. Auch Ilja Iljitsch wurde plötzlich befangen, ohne zu wissen, weshalb, wenn der Chef ins Zimmer trat, und auch er verlor seine eigene Stimme und bekam eine andere, dünne und häßliche, sobald der Chef ihn anredete.

Ilja Iljitsch stand auch trotz des gutmütigen, nachsichtigen Chefs sehr viel Angst und Langeweile im Dienste aus. Gott weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er einen strengen und anspruchsvollen Vorgesetzten über sich gehabt hätte! Oblomow blieb mit Mühe und Not zwei Jahre lang im Amt; vielleicht würde er auch noch ein drittes ertragen haben, um zu einem höheren Rang zu kommen; aber ein besonderer Fall nötigte ihn, den Dienst früher zu verlassen. Er schickte eines Tages ein wichtiges Papier statt nach Astrachanj nach Archangelsk. Die Sache kam ans Licht; man begann nach dem Schuldigen zu suchen. Alle erwarteten neugierig, der Chef würde Oblomow kommen lassen und ihn ruhig und kühl fragen, ob er das Dokument nach Archangelsk fortgeschickt habe, und alle waren darauf gespannt, mit welcher Stimme Ilja Iljitsch ihm antworten würde. Einige meinten, er würde gar nicht antworten, die Stimme würde ihm versagen. Beim Anblick der anderen wurde Ilja Iljitsch selbst von Angst erfaßt, obwohl er zugleich mit allen anderen wußte, der Chef würde sich auf einen Verweis beschränken: doch sein eigenes Gewissen war viel strenger als die zu erwartende Rüge. Oblomow wartete die verdiente Strafe nicht ab, sondern ging nach Hause und schickte ein ärztliches Attest.

Dieses Attest lautete: »Ich, der Gefertigte, bezeuge mit der Beidrückung meines Siegels, daß der Kollegiensekretär Ilja Oblomow mit Herzverfettung und der Erweiterung der linken Herzkammer behaftet ist (Hypertrophia cordis cum dilatatione ejus ventriculi sinistri) und außerdem ein chronisches Leberleiden hat (Chepatitis), das sich gefährlich zu entwickeln droht und sowohl die Gesundheit als auch das Leben des Kranken schädigen könnte; die darauf hinweisenden Anfälle werden wohl durch den täglichen Amtsdienst verursacht. Darum halte ich es, um diesen krankhaften Anfällen vorzubeugen und dieselben zu beschwichtigen, für notwendig, Herrn Oblomow den Dienst vorläufig zu verbieten und ihm überhaupt das Vermeiden jeder geistigen Arbeit und jeder Tätigkeit vorzuschreiben.«

Doch das half nur für einige Zeit; er mußte ja einmal wieder gesund werden – und dann folgte wieder das tägliche Versehen seines Amtes. Oblomow konnte das nicht länger ertragen und suchte um seine Entlassung nach. So schloß seine amtliche Tätigkeit, um niemals wieder aufgenommen zu werden.

Seine gesellschaftliche Laufbahn wollte ihm besser gelingen. In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Petersburg, in seiner ersten Jugend, belebten sich seine ruhigen Gesichtszüge häufiger, die Augen leuchteten lange vor Lebensfeuer, ihnen entströmten Strahlen von Licht, von Hoffnung und von Kraft. Er regte sich wie die anderen auf, hoffte, freute sich über jede Kleinigkeit und litt auch um einer jeden Kleinigkeit willen. Doch das war schon lange her, noch in jener zarten Periode, in welcher man in jedem Nebenmenschen einen aufrichtigen Freund sieht, sich fast in jede Frau verliebt und bereit ist, einer jeden Hand und Herz anzubieten, was manche auch ausführen, um dann das ganze übrige Leben darüber zu trauern. In diesen seligen Tagen fielen auch Ilja Iljitsch nicht wenig weiche, samtene, ja selbst leidenschaftliche Blicke aus den Augen der Schönen zu, außerdem sehr häufig ein vielversprechendes Lächeln, zwei, drei unprivilegierte Küsse und noch mehr freundschaftliche Händedrücke, die bis zu Tränen schmerzten.

 

Er ließ sich übrigens niemals von den Schönen gefangennehmen, war niemals ihr Sklave und nicht einmal ihr sehr fleißiger Arbeiter, schon deshalb nicht, weil mit der Annäherung an Frauen viel Scherereien verbunden sind. Oblomow beschränkte sich häufiger auf ein Anbeten aus der Ferne, in ehrerbietiger Entfernung. Das Schicksal führte ihn selten in der Gesellschaft mit einer Frau zusammen, daß er für ein paar Tage aufflammen und sich für verliebt halten konnte. Infolgedessen entwickelten sich seine Liebesverhältnisse nicht zu Romanen. Sie blieben gleich im Anfang stehen und ließen sich an Unschuld, Einfachheit und Reinheit von der Liebe irgendeiner erwachsenen Pensionärin nicht überbieten.

Am meisten mied er jene bleichen, traurigen Jungfrauen, die größtenteils schwarze Augen haben, in denen sich die »qualvollen Tage und nicht ganz schuldlosen Nächte« widerspiegelten, Jungfrauen mit von niemand gekannten Leiden und Freuden, mit blauen Ringen unter den Augen, Jungfrauen, die immer etwas anzuvertrauen und zu sagen haben und die, wenn es dazu kommt, erbeben, in plötzliche Tränen ausbrechen, dann den Hals des Freundes plötzlich mit den Armen umschlingen, ihm lange in die Augen, dann gen Himmel schauen und sagen, daß ihr Leben von einem Fluch bedroht sei, und manchmal in Ohnmacht fallen. Er wich ihnen ängstlich aus. Seine Seele war noch rein und jungfräulich; sie erwartete vielleicht ihre Liebe, ihre Zeit, ihre pathetische Leidenschaft, und später hörte sie mit den Jahren scheinbar zu warten auf und verzweifelte.

Noch kühler verabschiedete sich Ilja Iljitsch von dem Haufen seiner Freunde. Gleich nach dem ersten Brief seines Dorfschulzen von den Rückständen und der Mißernte vertauschte er seinen nächsten Freund, den Koch, mit einer Köchin, verkaufte dann die Pferde und schickte dann seine übrigen »Freunde« fort.

Fast nichts übte auf ihn eine genügende Anziehungskraft aus, um ihn aus dem Hause herauszulocken, und er setzte sich mit jedem Tage immer mehr und ständiger in seiner Wohnung fest.

Zuerst fiel es ihm schwer, den ganzen Tag angekleidet zu verbringen; dann wurde er zu faul, auswärts zu speisen, außer bei sehr nahen Verwandten, meistens bei ledigen Kameraden, bei denen man die Krawatte ausziehen und die Weste aufknöpfen durfte, es sich sogar »bequem« machen und eine Stunde lang schlafen konnte. Bald wurden ihm auch die Abende lästig. Er mußte einen Frack anziehen und sich täglich rasieren. Er hatte irgendwo gelesen, nur die Morgendünste wären gesund, während die Abenddünste schadeten, und begann sich vor Nässe zu fürchten. Trotz allen diesen Grillen gelang es seinem Freunde Stolz, ihn unter Menschen zu bringen; aber Stolz verreiste oft aus Petersburg nach Moskau, nach Nischnij-Nowgorod, in die Krim und auch ins Ausland, und ohne ihn gab sich Oblomow gänzlich seiner Abgeschlossenheit und Einsamkeit hin, aus welcher ihn nur etwas Außerordentliches, das sich vom gewöhnlichen Gang seines Lebens scharf abhob, aufscheuchen konnte; doch etwas Ähnliches kam nicht vor und war auch nicht vorauszusehen.

Außerdem war zu ihm mit den Jahren eine kindliche Schüchternheit zurückgekehrt, und weil er die verschiedenartigen äußeren Erlebnisse nicht mehr gewohnt war, erwartete er von allem, was außerhalb der Sphäre seines äußeren Lebens lag, Gefahr und alles Böse.

Ihn erschreckte zum Beispiel nicht der Riß im Plafond seines Schlafzimmers. Er hatte sich daran gewöhnt; es fiel ihm auch nicht ein, daß die stets geschlossene Luft seines Zimmers und das beständige Zuhausesitzen für seine Gesundheit beinahe verderblicher waren als die nächtliche Feuchtigkeit und daß die tägliche Überfüllung des Magens eine Art von progressivem Selbstmord bedeutete. Doch er hatte sich daran gewöhnt und fürchtete das alles nicht. Doch Bewegung, Leben, viele Menschen und Trubel waren ihm etwas Ungewohntes. Er fühlte sich in der Menschenmenge beengt; er stieg mit der schwankenden Hoffnung, glücklich ans Ufer zu gelangen, ins Boot und erwartete, wenn er im Wagen fuhr, die Pferde würden scheu werden und umschmeißen. Manchmal überlief ihn eine nervöse Angst. Er fürchtete sich vor der ihn umgebenden Stille und wußte oft selber nicht, warum es ihn kalt überlief. Es kam vor, daß er ängstlich in eine dunkle Ecke schielte, in der Erwartung, seine Phantasie würde ihm einen Streich spielen und ihm eine übernatürliche Erscheinung zeigen.

Das war das Ende seiner gesellschaftlichen Laufbahn. Er wies mit einer trägen Handbewegung alle seine Jugendhoffnungen von sich, die ihn betrogen hatten oder die er betrogen hatte, all die zarten, traurigen und lichten Erinnerungen, die manchem das Herz noch im Alter klopfen machen.

Sechstes Kapitel

Was macht er denn zu Hause? Liest er? Schreibt er? Lernt er? Ja, wenn ihm ein Buch oder eine Zeitung in die Hand kommt, liest er. Wenn er von irgendeinem merkwürdigen Werk hört, erwacht in ihm der Wunsch, es kennenzulernen; er sucht danach, bittet, ihm das Buch zu bringen; und wenn man es bald bringt, nimmt er es vor und beginnt sich eine Vorstellung über den Gegenstand zu bilden; nur noch ein einziger Schritt, und er würde denselben beherrschen; wenn man aber nach einer Weile hinsieht, ruht er schon wieder, apathisch auf die Zimmerdecke blickend, und das Buch liegt, nicht zu Ende gelesen und unverstanden, neben ihm. Die Abkühlung erfaßt ihn noch schneller als die Begeisterung. Er kehrt nie mehr zu dem verlassenen Buch zurück. Und dabei hatte er wie die andern, wie alle, bis zum fünfzehnten Jahr im Pensionat gelernt; dann entschlossen sich die alten Oblomows nach langem Kampf, Iljuscha nach Moskau zu schicken, wo er, ob er wollte oder nicht, den Lehrkursus bis zu Ende verfolgen mußte. Sein schüchterner, apathischer Charakter hinderte ihn daran, seine Faulheit und seine Launen vor fremden Leuten, in der Schule, wo man zugunsten von verwöhnten Muttersöhnchen keine Ausnahme machte, ganz zu äußern. Er saß notgedrungen in gerader Haltung in der Klasse da, hörte zu, was die Lehrer sagten, weil er nicht anders durfte, und lernte mit Mühe, schwitzend und seufzend seine Aufgaben.

Er überschritt niemals die Zeile, unter welcher der Lehrer mit dem Nagel einen Strich gezogen hatte, stellte ihm keinerlei Fragen und forderte keinerlei Erklärungen. Er begnügte sich damit, was im Hefte stand, und äußerte auch dann keine lästige Neugierde, wenn er nicht alles verstand, was er hörte und lernte. Wenn es ihm irgendwie gelang, ein Buch, das Statistik, Geschichte, politische Ökonomie hieß, zu bewältigen, war er ganz zufrieden. Wenn ihm aber Stolz Bücher brachte, welche er noch außer dem Gelernten lesen sollte, blickte Oblomow ihn lange schweigend an. »Auch du, Brutus, bist gegen mich«, sagte er seufzend und nahm die Bücher vor. Ein so übermäßiges Lesen erschien ihm unnatürlich und lästig. Wozu sind denn alle diese Hefte, auf welche man eine Menge Papier, Zeit und Tinte verwendet? Wozu sind die Schulbücher? Wozu sind endlich die sechs, sieben Jahre des Einsiedlertums, all die Strenge, die Strafen, das Einsperren und Quälen mit Aufgaben, das Verbot zu laufen, herumzutollen und lustig zu sein, wenn noch nicht alles zu Ende ist? Wann soll man denn leben? fragte er sich wieder. Wann soll man denn endlich dieses Wissenskapital, dessen größten Teil man im Leben gar nicht verwenden kann, in Umsatz bringen? Was werde ich zum Beispiel mit politischer Ökonomie, mit Algebra und Geometrie in Oblomowka anfangen? Und die Geschichte macht einen nur niedergeschlagen. Man lernt und liest, daß die Stunde der Trübsal gekommen ist, daß der Mensch unglücklich ist; er sammelt seine Kräfte, arbeitet, läuft hin und her, leidet furchtbar und müht sich ab, und das alles, um sich lichte Tage vorzubereiten. Jetzt kommen sie, und die Geschichte könnte ausrasten. Aber nein, es kommen wieder Wolken, das Gebäude stürzt zusammen, man muß wieder arbeiten und sich abmühen ... Die lichten Tage bleiben nicht, sie flüchten, und das Leben fließt und fließt immerzu weiter und wird immer wieder umgebaut.

Die ernste Lektüre ermüdet ihn. Den Denkern gelang es nicht, in ihm den Durst nach beschaulichen Wahrheiten wachzurufen. Aber die Dichter packten ihn mächtig, und er wurde dabei ein Jüngling wie alle. Auch für ihn kam der glückliche, niemand versagte Augenblick des Lebens, wo die Kräfte aufblühen, die Hoffnung auf das Sein, der Wunsch des Guten, der Taten und Wagnisse erwacht, die Epoche des Herzklopfens, des gesteigerten Pulses, des Bebens, der begeisterten Reden und süßen Tränen. Verstand und Herz läuterten sich. Er schüttelte die Schläfrigkeit von sich ab, die Seele verlangte nach Tätigkeit. Stolz verhalf ihm dazu, diesen Moment um so viel zu verlängern, als es für eine Natur, wie sein Freund sie besaß, nur irgend möglich war. Er ertappte Oblomow bei den Dichtern und hielt ihn im Laufe von anderthalb Jahren im Bann des Gedankens und der Wissenschaft. Er nützte den jugendlichen Aufschwung aus, schloß in das Lesen der Dichter außer dem Genuß neue Ziele ein, wies ihn mit einer gewissen Strenge auf die in der Ferne liegenden Wege ihres Lebens hin und riß ihn mit sich in die Zukunft. Beide regten sich auf, weinten und versprachen einander feierlich, einen vernünftigen und lichten Weg zu wählen. Stolz' jugendliches Feuer steckte Oblomow an, und er verging vor Sehnsucht nach Arbeit, nach einem fernen, aber verlockenden Ziel.

Doch die Blüte des Lebens entfaltete sich, ohne Früchte zu tragen. Oblomow wurde nüchtern und las nur manchmal, auf den Rat von Stolz hin, das eine oder das andere Buch; doch er tat es nicht auf einen Zug, nicht plötzlich und ohne Gier, er ließ seine Augen nur träge den Zeilen folgen. Wie interessant die Stelle, die er las, auch sein mochte, wenn ihn aber die Stunde des Speisens oder Schlafens dabei antraf, legte er das Buch mit dem Einband nach oben hin und ging Mittag essen oder löschte die Kerze aus und ging schlafen. Wenn man ihm den ersten Band gab, verlangte er, als er damit fertig war, nicht nach dem zweiten; wenn man ihm aber denselben brachte, las er ihn langsam zu Ende. Später konnte er nicht einmal den ersten Band bewältigen, sondern verbrachte den größten Teil seiner freien Zeit damit, daß er seine Ellbogen auf den Tisch legte und darauf den Kopf stützte; manchmal gebrauchte er statt der Ellbogen das Buch, welches Stolz ihm aufgedrängt hatte.

So beschloß Oblomow seine wissenschaftliche Laufbahn. Der Tag, an welchem er seine letzte Vorlesung hörte, bildete die Herkulessäulen seiner Gelehrsamkeit. Der Direktor der Anstalt zog durch seine Unterschrift auf dem Diplom denselben Strich, den der Lehrer früher mit seinem Nagel im Buch gezeichnet hatte, und unser Held hielt es für unnötig, seine wissenschaftlichen Bestrebungen diese Grenze überschreiten zu lassen. Sein Hirn bildete ein kompliziertes Archiv von toten Begebenheiten, Personen, Epochen, Ziffern, Religionen, zusammenhanglosen sozialwissenschaftlichen, mathematischen und anderen Wahrheiten, Aufgaben, Theorien usw. Das war eine Bibliothek, die aus einzelnen, verschiedenen Bänden über alle Gebiete des Wissens bestand.

Das Lernen hatte auf Ilja Iljitsch eine seltsame Wirkung ausgeübt: Für ihn lag zwischen der Wissenschaft und dem Leben ein ganzer Abgrund, den er nicht zu überbrücken versuchte. Das Leben und das Wissen existierten für ihn jedes für sich allein. Er lernte alle bestehenden und längst nicht mehr bestehenden Rechte, absolvierte auch den Kursus des praktischen Gerichtsverfahrens; als er aber aus Anlaß irgendeines Diebstahls im Hause einen Bericht an die Polizei schreiben mußte, nahm er einen Bogen Papier und eine Feder, dachte und dachte und ließ einen Schreiber holen. Die Bücher auf dem Gut führte der Dorfschulze. Was hatte denn die Wissenschaft damit zu tun? fragte er sich verblüfft.

Er kehrte ohne die Last des Wissens, das seinem frei herumirrenden oder träge schlummernden Denken eine Richtung hätte geben können, in seine Einsamkeit zurück. Was tat er denn? Er fuhr noch immer fort, sich das Muster seines eigenen Lebens vorzuzeichnen. Er fand darin, nicht ohne Grund, so viel Weisheit und Poesie, die man auch ohne Bücher und Gelehrtheit niemals ausschöpfen konnte. Nachdem er seine amtliche und gesellschaftliche Karriere aufgegeben hatte, begann er die Aufgabe seiner Existenz anders zu lösen, sann über seine Bestimmung nach und entdeckte endlich, daß der Horizont seiner Tätigkeit und seines Lebens in ihm selbst verborgen war. Er begriff, daß das Glück in der Familie und das Besorgen des Gutes sein Anteil waren. Bis dahin war er mit seinen Angelegenheiten nicht ganz vertraut; dieselben wurden statt seiner manchmal von Stolz besorgt. Er war weder in seine Einkünfte noch in seine Ausgaben genau eingeweiht, stellte niemals ein Budget zusammen und befaßte sich überhaupt mit gar nichts.

Der alte Oblomow hatte seinem Sohne das Gut in demselben Zustande übergeben, in dem er es von seinem Vater übernommen hatte. Obwohl er sein ganzes Leben im Dorf verbrachte, zerbrach er sich doch nicht den Kopf und klügelte sich nicht allerlei neue Einrichtungen aus, wie man es jetzt tut, um irgendwelche neue Quellen der Produktivität der Erde zu entdecken oder die alten auszudehnen, zu verstärken und so weiter. Er nahm für seine Felder dieselbe Aussaat, die sein Großvater genommen hatte, und behielt für die Feldfrüchte auch dieselben Absatzgebiete bei. Der Alte war übrigens sehr zufrieden, wenn eine gute Ernte oder ein erhöhter Preis sein Einkommen gegen das vorjährige vergrößerte; er nannte das Gottes Segen. Er liebte keine Anstrengung und keine Extravaganz im Gelderwerb. »Gott wird uns schon satt machen«, sagte er.

 

Ilja Iljitsch war anders als sein Vater und sein Großvater. Er lernte, lebte in der Welt; das alles brachte ihn auf verschiedene Gedanken, die dem Vater und Großvater fremd gewesen waren. Er begriff nicht nur, daß jeder Gewinn eine Sünde sei, sondern auch, daß es die Pflicht jedes Bürgers bilde, den allgemeinen Wohlstand durch ehrliche Arbeit zu unterstützen. Darum nahm der neue, den Anforderungen der Zeit entsprechende Plan der Einrichtung des Gutes und der Verwaltung der Bauern den größten Teil des Lebensmusters ein, das er sich in seiner Einsamkeit vorzeichnete. Die dem Plan zugrunde liegende Idee, seine Einteilung und Hauptbestandteile – das alles war in seinem Kopf längst fertig; es blieben nur die Details, die Überschläge und Ziffern übrig. Er arbeitet schon einige Jahre unermüdlich an diesem Plan, überlegt ihn sich und grübelt im Gehen und Liegen, zu Hause und wenn er auf Besuch ist darüber nach; er ergänzt und ändert die verschiedenen Teile oder stellt das gestern Erfundene und in der Nacht Vergessene in seinem Gedächtnis wieder her; und manchmal flammt in ihm plötzlich ein neuer, unerwarteter Gedanke wie ein Blitz auf, und sein Hirn beginnt fieberhaft zu arbeiten. Er ist nicht irgendein unbedeutender Vollstrecker fremder, fertiger Gedanken; er selbst ist der Schöpfer und zugleich Vollstrecker seiner Gedanken. Sowie er des Morgens aufgestanden ist, legt er sich gleich nach dem Frühstück auf das Sofa, stützt seinen Kopf auf die Hand und denkt, ohne seine Kräfte zu schonen, so lange nach, bis sein Kopf endlich von der schweren Arbeit müde wird und das Gewissen ihm sagt: Du hast heute für das allgemeine Wohl genug geleistet.

Nachdem Oblomow sich von seinen geschäftlichen Sorgen befreit hatte, liebte er es, sich in sich selbst zu vertiefen und in der von ihm erschaffenen Welt zu leben. Ihm war der Genuß hoher Gedanken zugänglich; ihm war auch menschliches Leid nicht fremd. Er weinte manchmal bitterlich in der Tiefe seiner Seele über den Jammer der Menschheit, litt, ohne daß jemand es erfuhr, namenlos, sehnte sich irgendwohin in die Ferne hinaus, wahrscheinlich in jene Welt, in die Stolz ihn mitzureißen pflegte ... Süße Tränen strömten über seine Wangen ... Es kam auch vor, daß er von Verachtung dem menschlichen Laster, der Lüge, der Verleumdung, dem über die ganze Welt verbreiteten Bösen gegenüber erfüllt wurde und daß in ihm der Wunsch aufflammte, den Menschen ihre Wunden zu zeigen; dann erwachten in ihm Gedanken, wogten wie Wellen im Meer in seinem Hirn auf und ab, wuchsen zu Vorsätzen heran und steckten sein ganzes Blut in Brand; die Vorsätze bilden sich zu Bestrebungen aus; von sittlicher Kraft durchdrungen, wechselt er in einem Augenblick zwei, drei Stellungen, erhebt sich mit leuchtenden Augen vom Lager, streckt die Hand vor und blickt begeistert um sich ... Jetzt gleich wird sich sein Streben verwirklichen und sich in eine Heldentat umsetzen ... und dann, o Gott! Welches Wunder, welche furchtbaren Folgen konnte man von so einer großen Anstrengung erwarten! ... Wenn man aber nach einer Weile hinschaut, ist der Morgen dahingeschwunden, der Tag neigt sich dem Abend zu, und mit ihm zugleich verlangen Oblomows ermüdete Kräfte nach Ruhe; der Sturm und die Erregung besänftigen sich in seiner Seele, der Kopf ernüchtert sich nach dem Denken, und das Blut kreist langsamer durch die Adern. Oblomow legt sich still und sinnend auf den Rücken, richtet seinen traurigen Blick auf das Fenster und folgt mit den Augen wehmütig der Sonne, die sich majestätisch hinter irgendein vierstöckiges Haus versteckt.

Wie oft hatte er der Sonne auf diese Weise das Geleite gegeben!

Des Morgens begannen das Leben, die Aufregung, die Träume von neuem! Er liebte es manchmal, sich als irgendeinen unbesiegbaren Feldherrn zu denken, im Vergleich mit welchem nicht nur Napoleon, sondern sogar Jeruslan Lasarewitsch1 nichts bedeuteten; er dachte sich einen Krieg und dessen Ursachen aus; er ließ zum Beispiel die Völker aus Afrika nach Europa wandern oder führte neue Kreuzzüge an, er kämpfte, besiegelte das Schicksal ganzer Nationen, zerstörte Städte, begnadigte, richtete hin und beging hehre, großmütige Taten. Oder er wählte sich die Laufbahn eines Denkers oder eines großen Künstlers: alle beten ihn an; er erntet Lorbeeren; die Menge läuft ihm nach und ruft aus: »Schaut, schaut, da geht Oblomow, unser berühmter Ilja Iljitsch!« In schlimmen Momenten litt er unter Sorgen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, legte sich mit dem Gesicht nach unten und wurde manchmal ganz verzweifelt; dann kniete er nieder und begann leidenschaftlich und inbrünstig zu beten, indem er den Himmel anflehte, irgendein drohendes Gewitter abzuwenden. Dann, nachdem er die Sorge um sein Schicksal dem Himmel überlassen hatte, wurde er allem auf der Welt gegenüber ruhig und gleichgültig, wie heftig das Gewitter auch sein mochte. So verbrauchte er seine sittliche Kraft, so regte er sich oft ganze Tage lang auf und erwachte nur dann tief seufzend aus dem verlockenden Traum oder den quälenden Sorgen, wenn der Tag sich dem Abend zuneigte und die Sonne als ein ungeheurer Ball majestätisch hinter das vierstöckige Haus zu sinken begann. Dann folgte er ihr wieder mit einem sinnenden Blick und einem traurigen Lächeln und schlummerte nach den Aufregungen friedlich ein.

Niemand sah und kannte dieses innere Leben Ilja Iljitschs; alle glaubten, Oblomow läge einfach da, äße, so viel er könne, und es wäre von ihm nichts zu erwarten; es rege sich kaum ein Gedanke in seinem Kopf. So sprach man auch überall, wo man ihn kannte, von ihm. Von seiner Begabung, von dieser inneren, vulkanischen Arbeit seines hitzigen Kopfes und seines humanen Herzens wußte und konnte nur Stolz erzählen; doch er war fast niemals in Petersburg anwesend. Sachar allein, der sein ganzes Leben an der Seite seines Herrn verbrachte, kannte dessen Lebensweise noch genauer; doch er war überzeugt, daß Oblomow und er etwas leisteten, normal und wie es sich gehörte lebten und daß man gar nicht anders leben sollte.

Fußnoten

1 Mythischer Held.

Siebentes Kapitel

Sachar hatte bereits sein fünfzigstes Jahr überschritten. Er war nicht mehr der unmittelbare Nachkomme jener russischen Kalebe, der ritterlichen Diener ohne Furcht und Tadel, welche ihren Herren bis zur Selbstvergessenheit ergeben waren, sich durch alle Tugenden auszeichneten und keinerlei Fehler aufzuweisen hatten. Dieser Ritter war einer mit Furcht und mit Tadel. Er gehörte zwei Epochen an, und beide hatten ihm ihren Stempel aufgedrückt. Von der einen hatte er die grenzenlose Ergebenheit dem Hause der Oblomow gegenüber geerbt und von der späteren, zweiten, die Raffiniertheit und Verderbtheit der Sitten. Obwohl er mit Leidenschaft an dem Herrn hing, kam doch selten ein Tag vor, an welchem er ihm nicht irgend etwas vorlog. Der Diener der alten Zeiten pflegte seinen Herrn vor Verschwendung und Unmäßigkeit zurückzuhalten, Sachar jedoch liebte es, mit seinen Kameraden auf die Rechnung seines Herrn zu trinken; der frühere Diener war keusch wie ein Eunuch, und dieser da lief immer zu einer Gevatterin von sehr verdächtiger Art hin. Der altmodische Diener hütete das herrschaftliche Geld sicherer als jeder Schrank, und Sachar, immer bestrebt, seinen Herrn bei irgendeiner Ausgabe um zehn Kopeken zu betrügen, eignete sich be stimmt jede auf dem Tisch liegende Kupfermünze an. Wenn Ilja Iljitsch vergaß, Sachar den Rest abzufordern, kehrte dieser nie mehr zu ihm zurück. Größere Summen stahl er nicht, vielleicht deshalb, weil er seine Bedürfnisse mit Zehnkopekenstücken maß oder weil er ertappt zu werden fürchtete, aber keinesfalls aus übertriebener Ehrlichkeit. Der alte Kaleb würde eher wie ein gut dressierter Jagdhund neben den seiner Obhut anvertrauten Eßwaren gestorben sein, als sie anzurühren sich getraut zu haben. Sachar aber dachte nur, wie er möglichst viel auch von dem ihm nicht Anvertrauten essen und trinken konnte; jener sorgte sich nur darum, daß sein Herr möglichst viel aß, und war traurig, wenn er nicht aß; und Sachar war traurig, wenn der Herr alles, was auf dem Teller lag, bis auf den Rest aufaß.