Oblomow

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Sachar schluchzte noch immer, und auch Ilja Iljitsch selbst war aufgeregt. Indem er Sachar ins Gewissen redete, erfüllte er sich tief mit dem Bewußtsein der Wohltaten, die er den Bauern erwiesen hatte, und sprach die letzten Vorwürfe mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen zu Ende.

»Nun, und jetzt geh mit Gott!« sagte er mit versöhnender Stimme zu Sachar. »Wart, gib mir noch Kwaß! Meine Kehle ist mir ganz ausgetrocknet, du könntest selbst darauf kommen, du hörst doch, daß dein Herr heiser ist? So weit hast du mich gebracht! Ich hoffe, du hast dein Vergehen begriffen«, sagte Ilja Iljitsch, als Sachar den Kwaß gebracht hatte, »und wirst in Zukunft deinen Herrn nicht mit andern vergleichen. Um deine Schuld gutzumachen, richte es irgendwie mit dem Hausherrn ein, damit ich nicht umzuziehen brauche. So sorgst du für die Ruhe deines Herrn. Du hast mich ganz verstimmt und mich eines jeden neuen, nützlichen Gedankens beraubt. Und wem hast du das geraubt? Dir selbst; ich habe mich ganz euch gewidmet, ich habe mich euretwegen pensionieren lassen und sitze hier eingeschlossen. Nun, Gott verzeih es dir! Jetzt schlägt es drei! Es bleiben nur zwei Stunden bis zum Essen; was kann man in zwei Stunden fertigbringen – gar nichts. Und ich habe eine Menge zu tun. Ich werde also den Brief bis zur nächsten Post verschieben und den Plan morgen entwerfen. Nun, und jetzt lege ich mich ein wenig nieder. Ich bin ganz ermattet; laß die Stores herab und schließe fest die Türen, damit man mich nicht stört; ich werde vielleicht eine Stunde lang schlafen; und wecke mich um halb fünf ...«

Sachar begann seinen Herrn im Arbeitszimmer von der ganzen Welt abzuschließen; zuerst deckte er ihn selbst zu und steckte die Decke unter ihn, dann ließ er die Stores herab, schloß alle Türen fest ab und ging in sein Zimmer.

»Daß dich der Teufel hol'!« brummte er, sich die Tränenspuren abwischend und auf die Ofenbank steigend. »Ein besonderes Haus, ein Gemüsegarten, ein Gehalt!« sagte Sachar, der nur die letzten Worte verstanden hatte. »Er versteht es, traurige Worte zu sagen. Er schneidet damit wie mit einem Messer ins Herz! Hier ist mein Haus und mein Gemüsegarten, hier werde ich auch sterben!« sagte er, wütend auf die Ofenbank schlagend. »Ein Gehalt! Wenn ich die Zehner und Kupfermünzen nicht sammeln würde, könnte ich mir keinen Tabak kaufen und meine Gevatterin nicht bewirten! Zum Kuckuck auch! ... Warum nur der Tod nicht kommt!«

Ilja Iljitsch legte sich auf den Rücken, schlief aber nicht gleich ein. Er dachte und dachte und wurde ganz aufgeregt.

»Ein zweifaches Unglück auf einmal!« sagte er und wickelte sich ganz mit dem Kopf in die Decke ein, »wie soll man dem widerstehen!«

Aber in Wirklichkeit hatte das zweifache Unglück, das heißt der unheilverkündende Brief des Dorfschulzen und die Übersiedlung in die neue Wohnung, Oblomow zu erregen aufgehört und war nur mehr unter die unangenehmen Erinnerungen gereiht worden. Die Unannehmlichkeiten, mit denen der Dorfschulze droht, sind noch in weiter Ferne, dachte er, bis dahin kann sich vieles ändern. Ein Regen könnte das Getreide in besseren Stand setzen; vielleicht ergänzt der Dorfschulze die Zahlungsrückstände, die flüchtigen Bauern werden »wieder in ihren früheren Wohnort eingesetzt werden«, wie er schreibt. Wohin sind diese Bauern geflüchtet? dachte er und vertiefte sich schon vom künstlerischen Standpunkt aus in die Betrachtung dieses Umstandes. Sie sind wohl in der Nacht, ohne Brot, in der Nässe fortgelaufen. Wo haben sie denn geschlafen? Doch nicht im Wald? Da kann man doch gar nicht sitzen! Im Bauernhaus stinkt es zwar, aber es ist wenigstens warm ... Warum rege ich mich denn auf? dachte er. Der Plan ist ja bald fertig – warum mache ich mir denn jetzt schon Angst? Ach, wie ich doch bin ... Der Gedanke an den Umzug beunruhigte ihn etwas mehr. Das war das neuere, spätere Unglück; doch in Oblomows ruhigem Geiste war auch dieses Faktum in das Stadium der Geschichte übergegangen. Obwohl er die Unvermeidlichkeit dieses Umzuges dunkel ahnte, um so mehr, als jetzt Tarantjew sich mit dieser Angelegenheit befaßte, schob er im Geiste dieses aufregende Ereignis seines Lebens doch wenigstens um eine Woche hinaus und hatte auf diese Weise volle acht Tage der Ruhe gewonnen! Und vielleicht würde Sachar alles noch so einzurichten versuchen, daß der Umzug überhaupt unnötig wurde; möglicherweise würde es auch so gehen. Der Umbau könnte auf den nächsten Sommer verschoben oder auch ganz aufgegeben werden. Die Sache würde sich schon irgendwie einrichten lassen! ... Man konnte doch nicht tatsächlich umziehen! ... So regte er sich abwechselnd auf und beschwichtigte sich selbst und fand endlich in diesen versöhnenden und beruhigenden Worten: vielleicht, möglicherweise, irgendwie auch diesmal, was er stets gefunden hatte, ein ganzes Arsenal von Hoffnungen und Tröstungen, wie sie in der Bundeslade unserer Väter eingeschlossen waren; es gelang ihm auch im gegenwärtigen Augenblick, sich damit vor dem zweifachen Unglück zu schützen. Schon umfing eine angenehme, leichte Starrheit seine Glieder und begann seine Gefühle ganz leicht mit Schlaf zu umnebeln, wie die ersten, schüchternen Fröste die Oberfläche der Gewässer trüben; noch ein Augenblick, und sein Bewußtsein wäre Gott weiß wohin fortgeflogen, aber plötzlich erwachte Ilja Iljitsch und öffnete die Augen.

»Ich habe mich ja noch nicht gewaschen! Das geht doch nicht! Ich habe ja auch noch nichts getan«, flüsterte er. »Ich wollte den Plan zu Papier bringen, habe es aber nicht getan, habe weder dem Kreisrichter noch dem Gouverneur geschrieben, habe einen Brief an den Hausherrn angefangen und ihn nicht beendigt, habe die Rechnungen nicht durchgesehen und kein Geld herausgegeben – der ganze Morgen ist verlorengegangen!«

Er sann nach ...

»Was ist denn das? Und der ›andere‹ würde das alles getan haben!« tauchte es in seinem Kopfe auf. »Der andere ... Was ist denn das, der ›andere‹?«

Er vertiefte sich in das Vergleichen seiner selbst mit dem »anderen«. Er dachte und dachte, und jetzt begann er sich über den »anderen« eine Vorstellung zu bilden, die derjenigen, die er Sachar beigebracht hatte, ganz entgegengesetzt war. Er mußte zugeben, daß der andere alle Briefe fertiggebracht hätte, ohne daß welcher und daß aufeinandergestoßen wären; der andere würde auch in die neue Wohnung übergesiedelt sein, hätte den Plan verwirklicht und wäre aufs Gut gefahren.

Auch ich könnte ja alles das tun ... dachte er. Mir scheint, ich sollte auch schreiben; ich habe doch früher kompliziertere Sachen als Briefe geschrieben! Wohin ist denn mein ganzes Wissen verschwunden? Und was ist es denn für eine Kunst umzuziehen? Man braucht nur zu wollen! Der »andere« trägt auch nie einen Schlafrock, ergänzte er noch die Charakteristik des anderen; »der ›andere‹« ... hier gähnte er ... »schläft fast gar nicht ... Der ›andere‹ genießt das Leben, kommt überallhin, sieht alles, ihn interessiert alles ... Und ich! ich ... bin nicht der ›andere‹!« – sagte er traurig und versank in tiefe Nachdenklichkeit. Er zog sogar den Kopf aus der Decke heraus.

Es kam einer der klaren, bewußten Momente in Oblomows Leben. Entsetzen erfaßte ihn, als in seiner Seele plötzlich eine lebendige, klare Vorstellung von dem Schicksal und der Bestimmung der Menschen erstand, als er zwischen dieser Bestimmung und seinem eigenen Leben eine flüchtige Parallele zog und als in seinem Kopfe verschiedene Lebensfragen eine nach der andern erwachten und furchtsam im Durcheinander aufwirbelten wie Vögel, die ein plötzlicher Sonnenstrahl in der schlummernden Ruine erweckt hat. Sein Mangel an geistiger Regsamkeit, das geringe Wachstum seiner sittlichen Kräfte und die Schwere, die ihm in allem hinderlich war, kränkten ihn und stimmten ihn traurig; an ihm fraß der Neid, daß andere so voll und ganz leben, während auf den schmalen, armseligen Pfad seiner Existenz ein schwerer Stein geworfen zu sein schien. In seiner schüchternen Seele erstand das qualvolle Bewußtsein, daß viele Saiten seiner Natur gar nicht geweckt worden waren, daß einige nur sehr leise berührt worden und keine einzige ganz ausgeklungen war. Und dabei fühlte er schmerzlich, daß in ihm wie in einem Grab etwas Schönes, Lichtes eingeschlossen war, das jetzt vielleicht schon tot war oder wie Gold in dem Schoß des Berges eingeschlossen lag und daß es schon längst Zeit war, dieses Gold in Scheidemünzen zu verwandeln. Aber die ser Schatz war schwer und tief mit Unrat und angeschwemmtem Schutt belastet. Jemand schien die ihm vom Leben und von der Welt zugedachten Schätze gestohlen und in seiner eigenen Seele vergraben zu haben. Etwas hinderte ihn daran, sich ins Leben zu stürzen und mit vollen Segeln des Verstandes und des Willens hinzufliegen. Ein heimlicher Feind hatte ihn beim Beginn seines Weges mit seiner schweren Hand belastet und ihn vom geraden Pfad der menschlichen Bestimmung weit fortgeschleudert ... Und ihm schien, er könnte aus dem Dickicht und der Wildnis niemals herausfinden. Der Wald um ihn herum und in seiner Seele wird immer dichter und dunkler; der Pfad verwildert immer mehr und mehr; das klare Bewußtsein erwacht immer seltener und weckt die schlummernden Kräfte nur für Augenblicke auf. Der Verstand und der Wille sind längst paralysiert und, wie es scheint, für immer. Die Ereignisse seines Lebens haben einen mikroskopischen Umfang angenommen, er wird aber auch damit nicht fertig; er geht nicht von einem Ereignis zum andern über, sondern wird von ihnen wie von einer Welle auf die andere geschleudert; er hat nicht die Macht, dem einen seine Willenskraft entgegenzustemmen oder sich von einem zweiten vernünftig hinreißen zu lassen. Diese heimliche Selbstbeichte erweckte in ihm ein bitteres Gefühl. Fruchtloses Bedauern der Vergangenheit, brennende Gewissensbisse verwundeten ihn wie Nadeln, und er bot alle seine Kräfte auf, um die Last dieser Vorwürfe von sich abzuschütteln, außerhalb seiner Person einen Schuldigen zu finden und auf ihn seinen Stachel zu richten. Aber auf wen? ... »Das alles ist ... Sachars Schuld!« flüsterte er. Er erinnerte sich an die Details der Szene mit Sachar, und sein Gesicht erglühte vor Scham. Wenn das jemand gehört hätte! ... dachte er, bei diesem Gedanken erstarrend. Gott sei Dank, daß Sachar es niemand wiedergeben kann; man würde es ihm auch nicht glauben; Gott sei Dank!

 

Er seufzte, verfluchte sich, wälzte sich von einer Seite auf die andere, suchte nach dem Schuldigen und fand ihn nicht. Sein Ächzen und Seufzen drang sogar Sachar zu Ohren.

»Wie der Kwaß ihn aufbläst!« brummte Sachar zornig.

»Warum bin ich denn so?« fragte Oblomow fast weinend und steckte den Kopf wieder unter die Decke. »Warum?« Nachdem er erfolglos nach einem Feind gesucht hatte, der ihn daran hinderte, wie es sich gehörte, wie die »andern« zu leben, seufzte er, schloß die Augen, und nach ein paar Minuten begann wieder der Schlummer seine Empfindungen allmählich zu fesseln. »Ich möchte ... auch ...« sagte er, mit Anstrengung blinzelnd, »irgend etwas tun ... Hat die Natur mich denn so stiefmütterlich behandelt ... Aber nein, ich kann mich, Gott sei Dank, nicht beklagen ...« Dann folgte ein versöhnender Seufzer. Er kehrte von der Erregung zu seinem normalen Zustand, zu dem der Ruhe und Apathie zurück. »Das ist mein Schicksal ... Was soll ich denn tun? ...« flüsterte er mit Mühe, vom Schlaf überwältigt. »Um zweitausend weniger ...« sagte er plötzlich laut im Schlaf. »Gleich, gleich, warte ...« und wachte halb auf. »Es wäre aber ... interessant zu erfahren ... warum ich ... so bin ...?« flüsterte er wieder. Seine Lider schlossen sich ganz. »Ja, warum? ... Wahrscheinlich ... darum ...« bestrebte er sich zu sagen, doch es gelang ihm nicht.

Er kam also nicht auf die Ursache. Die Zunge und die Lippen erstarrten augenblicklich auf dem halben Satz und blieben halb geöffnet. Anstatt eines Wortes ertönte wieder ein Seufzer, und dann hörte man das gleichmäßige Schnarchen eines ruhig schlafenden Menschen.

Der Schlaf hielt den langsamen, trägen Gang seiner Gedanken auf und versetzte ihn in einem einzigen Augenblick in eine andere Epoche, zu andern Menschen, an einen andern Ort, wohin der Leser und wir ihm im nächsten Kapitel folgen werden.

Neuntes Kapitel

Oblomows Traum

Wo sind wir? In welchen gesegneten Erdenwinkel hat uns Oblomows Traum entführt? Was das für eine herrliche Gegend ist!

Es gibt dort zwar kein Meer, keine hohen Berge, keine Felsen und Abgründe, keine Urwälder – nichts Grandioses, Wildes und Düsteres! Wozu braucht man denn auch dieses Wilde und Grandiose? Zum Beispiel das Meer! Wir brauchen es nicht! Es stimmt den Menschen nur traurig. Wenn man es anblickt, möchte man weinen. Das Herz erfüllt sich angesichts dieser unübersehbaren Gewässer mit Angst; der durch die Eintönigkeit dieses endlosen Bildes ermüdete Blick kann nirgends ausruhen. Das Brüllen und wilde Rollen liebkosen nicht das verzärtelte Ohr. Sie murmeln seit dem Urbeginn der Welt immer ein und dasselbe düstere, rätselhafte Lied; und immer sind darin dieselben Seufzer, dieselben Klagen eines zur Qual verurteilten Ungeheuers und dieselben durchdringenden, drohenden Stimmen zu hören. Die Vögel zwitschern nicht ringsumher; nur die schweigenden Möwen flattern gleich Verurteilten traurig am Ufer umher und kreisen über dem Wasser.

Das Brüllen der Tiere ist machtlos bei diesem Stöhnen der Natur, auch die Stimme des Menschen ist nichtig, und der Mensch selbst ist so klein und schwach und verschwindet spurlos unter den Einzelheiten des unendlichen Bildes! Vielleicht ist das der Grund, warum der Anblick des Meeres ihn so bedrückt. Nein, wir brauchen kein Meer! Selbst dessen Stille und Reglosigkeit lassen in der Seele kein freudiges Gefühl aufkommen; in dem kaum sichtbaren Beben der Wassermasse sieht der Mensch immer dieselbe unfaßbare, wenn auch schlummernde Macht, welche seinen stolzen Willen manchmal so tückisch verhöhnt und seine kühnen Pläne und all seine Arbeit und Mühe so tief begräbt.

Berge und Abgründe stimmen den Menschen auch nicht heiter. Sie sind drohend und furchtbar wie die entblößten, auf ihn gerichteten Krallen und Zähne eines wilden Tieres; sie erinnern uns zu lebhaft an unsere sterbliche Beschaffenheit und flößen uns Angst und Bangigkeit um unser Leben ein. Und der Himmel sieht dort über den Felsen und Abgründen so fern und unerreichbar aus, als hätte er sich von den Menschen losgesagt.

Der friedliche Winkel, in dem unser Held sich plötzlich befand, war anderer Art. Der Himmel scheint sich dort noch näher an die Erde zu schmiegen, aber nicht um noch mächtiger seine Pfeile herabzuschleudern, sondern nur um sie fester und liebevoller zu umfassen. Er dehnt sich so niedrig über dem Kopfe aus wie das verläßliche Dach eines Elternhauses, um den auserkorenen Winkel vor allerlei Mißgeschick zu schützen.

Die Sonne scheint dort hell und heiß fast ein halbes Jahr lang und verschwindet dann langsam und gleichsam ungern von dort, als wende sie sich noch zwei-, dreimal nach dem geliebten Ort hin, um ihn im Herbst, zur Zeit des Unwetters, mit einem klaren, warmen Tage zu beschenken.

Die Berge scheinen dort nur die Modelle jener furchtbaren, irgendwo errichteten Ungetüme zu sein, die die Phantasie erschrecken. Es ist eine Reihe abschüssiger Hügel, von denen es angenehm ist, im Herumtollen auf dem Rücken herabzurutschen, oder auf denen es sich gut sitzen läßt, wenn man der scheidenden Sonne sinnend das Geleite gibt.

Der Fluß fließt lustig, spielend und scherzend dahin; bald dehnt er sich zu einem breiten Teich aus, bald eilt er als ein schneller Streifen vorwärts, oder er verlangsamt seinen Lauf, wie in tiefes Sinnen versunken, und kriecht kaum sichtbar über die Steine hin, indem er seitwärts fröhliche Bäche entspringen läßt, bei deren Rauschen es süß zu schlummern ist.

Der ganze Winkel bildet fünfzehn, zwanzig Werst in der Runde eine Reihe malerischer, fröhlicher und lachender Landschaften. Die sandigen, steilen Ufer des klaren Flusses, das vom Hügel zum Wasser herabsteigende niedere Gebüsch, der sich krümmende Graben, mit einem Quell auf dem Grunde, und der Birkenhain, das alles schien mit Absicht zusammengestellt und von einer Meisterhand gemalt zu sein.

Das von Stürmen ermüdete oder das ganz unberührte Herz verlangt danach, sich in diesen von allen vergessenen Winkel zu verstecken und dort ein von niemandem gekanntes Glück zu empfinden. Alles verspricht dort ein ruhiges, langes Leben, bis die Haare ergrauen, und einen unmerklichen, schlafähnlichen Tod.

Der Jahreskreis vollzieht sich dort regelmäßig und ungestört; zu der vom Kalender verkündeten Zeit beginnt im März der Frühling, eilen die schmutzigen Bäche von den Hügeln herab, taut die Erde auf und läßt einen warmen Dampf aufsteigen. Der Bauer wirft den Schafpelz ab, geht im Hemd hinaus und bewundert lange die Sonne, die Augen mit der Hand schützend und freudig die Schultern reckend; dann faßt er den umgeworfenen Wagen bald an der einen und bald an der zweiten Deichsel oder betrachtet und stößt mit dem Fuß den träge im Schuppen liegenden Pflug, indem er sich zu der gewohnten Arbeit vorbereitet. Im Frühling kommen keine plötzlichen Schneegestöber vor, die die Felder verschütten und die Bäume unter der Last des Schnees zusammenbrechen lassen. Der Winter behält wie eine unnahbare, kalte Schöne seinen Charakter bis zur gesetzlichen Zeit der Wärme bei; er neckt nicht durch Tauwetter und läßt nicht unter unerhörten Frösten ächzen; alles geschieht nach der gewohnten, von der Natur vorgeschriebenen Ordnung. Im November beginnt der Schnee und Frost, der sich zu den Drei Königen so verstärkt, daß der Bauer, der für einen Augenblick sein Haus verläßt, bestimmt mit Reif auf dem Bart zurückkehrt, und im Februar fühlt eine feine Nase in der Luft schon das linde Wehen des nahen Frühlings.

Aber der Sommer ist in dieser Gegend besonders berückend.

Dort muß man die frische, trockene Luft, die nicht mit Zitronen und Lorbeer getränkt, sondern einfach vom Geruch von Wermut, Fichten und Faulbaum erfüllt ist, suchen; dort findet man die klaren Tage, die manchmal heißen, doch nie sengenden Sonnenstrahlen und einen fast drei Monate lang wolkenlosen Himmel. Wenn die klaren Tage sich einstellen, dauern sie drei, vier Wochen lang; die Abende sind dort warm und die Nächte schwül. Die Sterne flimmern so freundlich, so herzlich auf dem Himmel. Wenn es regnet, ist es ein wohltuender Sommerregen. Er strömt schnell und reichlich herab und hüpft fröhlich wie die großen, heißen Tränentropfen eines plötzlich erfreuten Men schen; und sowie er aufgehört hat, betrachtet die Sonne wieder mit einem hellen, liebevollen Lächeln die Felder und Hügel und trocknet sie; und das ganze Land lächelt wieder glücklich, wie um die Sonne zu begrüßen. Der Bauer bewillkommnet freudig den Regen. »Der Regen wäscht, die Sonne trocknet!« sagt er, das Gesicht, die Schultern und den Rücken freudig den warmen Tropfen preisgebend. Die Gewitter sind dort nicht furchtbar, sondern nur wohltuend; sie treffen immer zu derselben, für sie eingesetzten Zeit ein und vergessen fast niemals den Eliastag, wie um die bekannte Volksüberlieferung aufrechtzuerhalten.

Auch die Zahl und Stärke der Donnerschläge scheint jährlich dieselbe zu sein, als hätte der Staat dem ganzen Land aus seiner Schatzkammer ein bestimmtes Maß Elektrizität überwiesen. Man hört in dieser Gegend von keinerlei Stürmen und Verwüstungen. Niemand hat jemals in der Zeitung von diesem gottbegnadeten Winkel von etwas Derartigem gelesen. Und man würde nie etwas darüber drucken und von dieser Gegend etwas erfahren, wenn die Bauerswitwe Marina Kulkowa, achtundzwanzig Jahre alt, nicht auf einmal vier Kinder zur Welt gebracht hätte, wovon, o Schrecken, selbst in den Zeitungen zu lesen war.

Der Herr strafte dieses Land weder mit der ägyptischen noch mit sonst irgendeiner Seuche. Niemand von den Einwohnern kann sich an irgendwelche furchtbare Himmelszeichen, an Feuerbälle oder an plötzliche Dunkelheit erinnern; es gibt dort keine giftigen Schlangen; die Heuschrecken fliegen nicht dorthin; es gibt dort weder brüllende Löwen noch Tiger und nicht einmal Bären und Wölfe, weil keine Wälder da sind. Auf den Feldern und im Dorfe irren nur zahlreiche kauende Kühe, blökende Schafe und glucksende Hühner umher.

Gott weiß, ob ein Dichter oder Träumer sich mit der Art des friedlichen Winkels befreundet hätte. Diese Herren lieben es, wie bekannt, den Mond zu betrachten und den Trillern der Nachtigall zu lauschen. Sie lieben eine kokette Luna, die sich in rauchige Wolken kleidet, geheimnisvoll durch die Baumzweige schimmert oder silberne Strahlengarben in die Augen ihrer Anbeter schüttet. Und hierzulande wußte man nichts von einer Luna – alle nannten sie Mond. Er blickte die Dörfer und Felder gutmütig wie mit weit offenen Augen an und erinnerte sehr an einen gut geputzten Präsentierteller aus Messing.

Vergeblich hätte der Dichter ihn mit verzückten Augen betrachtet; er würde den Dichter ebenso einfältig anblicken, wie eine rundwangige Dorfschöne die leidenschaftlichen, beredten Blicke des städtischen Hofmachers erwidert.

Man hörte in dieser Gegend auch keine Nachtigallen, vielleicht weil es dort keine schattigen Lauben und keine Rosen gab; dafür gibt es dort eine Menge Wachteln! Im Sommer, bei der Ernte, fangen die Bauernjungen sie mit den Händen. Man glaube aber nicht, daß die Wachteln dort einen Gegenstand gastronomischen Genusses bildeten – nein, eine solche Verderbtheit der Sitten war zu den Einwohnern des Landes nicht gedrungen. Die Wachtel ist ein Vogel, der von Urbeginn an nicht zum Essen bestimmt war. Er erfreute dort die Menschen durch seinen Gesang; darum hing fast in jedem Hause unter dem Dache eine Wachtel in einem Holzkäfig.

Der Dichter und Träumer wäre auch von der Gesamtansicht dieser bescheidenen und ungekünstelten Gegend nicht befriedigt. Es würde ihm nicht gelingen, dort einen Abend in schweizerischer oder schottischer Art zu sehen, da die ganze Natur, der Wald, das Wasser, die Wände der Hütten und die sandigen Hügel, alles in purpurnem Widerschein erglüht; wenn sich auf dem roten Hintergrunde eine der sich schlängelnden sandigen Straße folgende Kavalkade von Männern scharf abhebt, die irgendeine Lady auf ihrer Spazierfahrt nach einer düstern Ruine begleitet haben und die in das sichere Schloß eilen, wo sie eine vom Großvater erzählte Episode aus dem Krieg der zwei Rosen, eine Gemse zum Abendessen und eine von einer jungen Miß zur Laute gesungene Ballade erwartet, Bilder, mit denen Walter Scott unsere Phantasie so reich bevölkert hat. Nein, in unserer Gegend gab es nichts Ähnliches.

 

Wie still und schläfrig ist alles in den drei, vier Dörfchen, aus denen der Winkel besteht! Sie waren nicht weit voneinander entfernt und schienen zufällig von einer Riesenhand hingeworfen zu sein, sich nach allen Richtungen hin zerstreut zu haben und seitdem so dazuliegen. Die eine Hütte, die an den Absturz des Grabens hingeraten ist, hängt seit undenkbaren Zeiten so da, indem sie mit der einen Hälfte in der Luft hängt und sich auf drei Pfähle stützt. Drei, vier Generationen hatten ruhig und glücklich darin gelebt. Es scheint, ein Huhn sollte sich hineinzugehen fürchten; darin lebt aber mit seiner Frau Onissim Suslow, ein solider Mann, der sich seiner vollen Größe nach in seiner Wohnung nicht aufstellen könnte. Nicht jeder kann in Onissims Hütte eintreten; nur wenn der Besucher sie darum bittet, den Rücken dem Wald und den Eingang ihm zuzuwenden1. Die Stufen hingen über dem Graben, und man mußte, um mit dem Fuße hinaufzugelangen, sich mit der einen Hand am Gras und mit der zweiten am Dach des Hauses festhalten und dann geradeaus auf die Stufen steigen. Ein zweites Haus klebte wie ein Schwalbennest am Hügel; drei Häuser stehn hier zufällig beisammen, und zwei andere befinden sich ganz auf dem Grunde des Grabens.

Im Dorf ist alles still und schläfrig; die Hütten stehn weit offen; man sieht keine Seele; nur die Fliegen wirbeln in Wolken umher und summen in der Hitze. Wenn man ins Haus tritt, ruft man vergeblich laut nach jemand. Totes Schweigen ist die Antwort; selten ertönt das schmerzliche Stöhnen oder dumpfe Husten einer alten Frau, die auf dem Ofen ihren Tod erwartet, oder es erscheint hinter dem Wetterverschlag ein barfüßiges, langhaariges dreijähriges Kind, das nichts als ein Hemd anhat, den Eintretenden schweigend und starr anblickt und sich schüchtern wieder versteckt. Dieselbe tiefe Stille und derselbe Frieden liegen auch auf den Feldern; nur hie und da krabbelt auf dem schwarzen Acker, wie eine Ameise, ein von der Hitze gesengter Bauer herum, indem er dem Pfluge folgt und sich in Schweiß badet.

Stille und durch nichts gestörte Ruhe herrschen auch in den Sitten der Menschen in dieser Gegend. Es hat dort niemals Diebstahl, Mord oder irgendwelche schreckliche Zufälle gegeben; weder starke Leidenschaften noch kühne Unternehmungen regten hier die Gemüter auf. Und was für Leidenschaften und Unternehmungen konnten sie aufregen? Jeder kannte dort sich selbst. Die Einwohner dieser Gegend lebten in großer Entfernung von anderen Menschen. Die nächsten Dörfer und die Kreisstadt waren fünfundzwanzig und dreißig Werst von ihnen entfernt. Die Bauern brachten zu einer bestimmten Zeit das Getreide zum nächsten Hafen an der Wolga hin, welcher ihr Kolchis und ihre Herkulessäulen war, und dann fuhren manche von ihnen einmal im Jahre auf den Jahrmarkt – außer diesen hatten sie keinerlei Beziehungen zu irgend jemand. Ihre Interessen waren auf sie selbst gerichtet und kreuzten und berührten keine fremden Angelegenheiten. Sie wußten, daß achtzig Werst von ihnen entfernt die Gouvernementsstadt lag, doch nur wenige waren dort gewesen; dann wußten sie, daß sich irgendwo weiter Saratow und Nischnij-Nowgorod befanden; sie hatten auch gehört, daß es Moskau und Petersburg gab und daß hinter Petersburg Franzosen und Deutsche lebten; aber weiter begann für sie wie die Alten eine dunkle Welt, unbekannte Länder, die mit Ungeheuern, zweiköpfigen Menschen und Riesen bevölkert waren; dann folgte völlige Finsternis, und endlich schloß alles mit dem Tisch, der die Erde trägt. Und da ihr Winkel nicht an der Fahrstraße lag, konnte man auch gar nicht zu den neuesten Nachrichten darüber, was auf der weiten Welt vorging, kommen; die Holzgeschirrhändler wohnten nur zwanzig Werst von ihnen entfernt und wußten nicht mehr als sie. Sie hatten nicht einmal etwas, womit sie ihr Leben vergleichen konnten, ob sie gut oder schlecht lebten, ob sie reich oder arm waren und ob man sich noch etwas wünschen konnte, das andere besaßen. Die glücklichen Menschen lebten in der Meinung, daß es nicht anders sein könnte und dürfte, und waren davon überzeugt, daß auch alle anderen ebenso wie sie lebten und daß es eine Sünde sei, anders zu leben. Sie würden es auch gar nicht glauben, wenn man ihnen sagen würde, daß andere Menschen irgendwie anders pflügten, säten, mähten und verkauften. Was für Leidenschaften und Aufregungen konnten sie denn haben? Sie hatten wie alle Menschen ihre Sorgen und Schwächen, so die Einzahlung der Steuer oder des Pachtzinses, außerdem kannten sie die Trägheit und den Schlaf; doch das alles kam sie billig zu stehen, ohne daß ihr Blut in Wallung kam.

In den letzten fünf Jahren starb von den einigen hundert Seelen niemand, weder eines gewaltsamen noch eines natürlichen Todes. Und wenn dort jemand vor Alter oder von einer chronischen Krankheit in den ewigen Schlaf überging, konnte man sich über einen so ungewöhnlichen Fall gar nicht genug wundern. Es fiel ihnen dabei gar nicht als etwas Besonderes auf, daß zum Beispiel der Schmied Taraß sich selbst in seiner Erdhütte fast zu Tode verbrannte, so daß man ihn mit Wasser begießen mußte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen.

Von den Verbrechen war eines, nämlich das Stehlen von Erbsen und Rüben aus den Gemüsegärten, sehr verbreitet, und eines Tages verschwanden zwei junge Schweine und ein Huhn – ein Ereignis, das die ganze Umgegend empörte und das einstimmig mit der am vorhergehenden Tage vorübergefahrenen Fuhrkolonne, die mit Holzgeschirr zum Markt fuhr, in Zusammenhang gebracht wurde. Sonst waren Zufälle jeder Art sehr selten. Eines Tages wurde übrigens hinter dem Gehege im Graben bei der Brücke ein liegender Mensch gefunden, der wohl zu der in die Stadt wandernden Arbeiterkolonne gehörte. Die Dorfjungen hatten ihn zuerst bemerkt und brachten ganz entsetzt ins Dorf die Nachricht, daß im Graben ein furchtbarer Drachen oder Werwolf daliege, wobei sie hinzudichteten, er hätte sie fangen wollen und hätte Kusjka fast aufgegessen. Die mutigeren Bauern bewaffneten sich mit Heugabeln und Hacken und begaben sich in einem Haufen zum Graben.

»Wohin wollt ihr?« hielten die Alten sie zurück, »sitzt euch der Kopf zu fest im Nacken? Was habt ihr dort zu suchen? Laßt's gehen; man treibt euch ja nicht hin.«

Aber die Bauern machten sich trotzdem auf den Weg und begannen fünfzig Klafter von der Stelle entfernt das Ungeheuer mit verschiedenen Stimmen zu rufen; sie erhielten keine Antwort; sie blieben stehen; dann rückten sie wieder vorwärts. Im Graben lag ein Bauer und stützte seinen Kopf auf den Hügel; neben ihm lagen ein Sack und ein Stock, auf dem zwei Paar Bastschuhe hingen. Die Bauern wagten weder nahe heranzukommen noch ihn zu berühren.

»He, Bruder!« schrien sie der Reihe nach und kratzten sich dabei bald den Nacken, bald den Rücken, »wie heißt du? Wer bist du? He, du! Was hast du hier zu suchen?«

Der Fremde machte eine Bewegung, um den Kopf zu heben, es gelang ihm jedoch nicht; er war wohl krank oder sehr müde.

Einer der Bauern wollte ihn mit der Heugabel berühren.

»Laß ihn, laß ihn!« schrien viele auf einmal, »wer weiß, wie er ist. Du siehst, er redet nicht; vielleicht ist er irgend so einer ... Rührt ihn nicht an, Kinder! Kommt«, sagten einige; »wirklich kommt; was ist er uns denn, etwa ein Vetter? Es kann einem dabei noch etwas geschehen!«

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