Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Siralen Befendiku Issirimen


J.H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung 5

Siralen

Befendiku Issirimen

Neuland


Praßl, J.H. : Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 5: Siralen Befendiku Issirimen. Neuland, Hamburg, acabus Verlag 2018

Originalausgabe

PDF: ISBN 978-3-86282-617-9

ePub: ISBN 978-3-86282-618-6

Print: ISBN 978-3-86282-616-2

Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, acabus Verlag

Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl

Einige hier verwendete Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy-

Rollenspiel MIDGARD übernommen.

Folgende Textstellen wurden mit freundlicher Genehmigun0g der Verfasser veröffentlicht:

Siralens Tagebücher: Mirjam Hierzegger, überarbeitet von J.H. Praßl

Gedicht „Das Lied der Wellen“: Mirjam Hierzegger

Totengebet Monochs „Bei nächtlichem Glas …“: Roland Raith, überarbeitet von J.H. Praßl

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Widmung

Endspurt!

Der fünfte Band läutet die zweite Hälfte der Chroniken ein – die zweite Seite der Medaille, wenn man so will. Damit beginnt nicht nur die Entdeckergeschichte rund um den Krieg Chaos gegen Ordnung, sondern auch eine Story um das „Menschliche Allzumenschliche“, wie Nietzsche es so schön in Worte kleidete. Dieser Teil der Chroniken ist ganz besonders vom Engagement der Chroniken-Spieler geprägt, die nicht nur ihren Kopf in unserer Welt verloren haben, sondern manchmal auch ihr Herz … und infolgedessen ihre Seele. Umso berechtigter ist es, dass wir die Spieler wieder mit einer speziellen Widmung würdigen. Denn „sie sind echt. Sie leben, sie kämpfen, sie haben Angst, sie scherzen, sie fluchen, sie stehen vor Wänden und wollen da durch … oder schrecken davor zurück. Und manchmal fließen auch Tränen.“ (Widmung Band Vier)

Leider ist es mit der Übersetzung eines Spiels in ein Buch ähnlich wie mit der Übersetzung eines Buchs in einen Film – vieles geht dabei verloren, weil es in der Welt der Dramaturgie einfach keinen Platz findet. Nichts desto trotz war die Inspiration und der Einfluss folgender Spieler für diesen Band entscheidend:

Katharina Prexl (alias Kathi) als Lucretia L’Incarto (alias Herrin des Feuers): Akademiemagierin aus Tremon, die das Streben nach Macht dazu beflügelte, vor keinem Gott mehr zu knien. Wir wissen alle, dass dieses Streben sehr gefährlich werden kann. Wie gefährlich, das hast du uns in aller Anschaulichkeit demonstriert. Vielen Dank dafür! Möge die wahre Macht mit dir sein!

Markus Raith (alias Max) als Telos Malakin (alias Gottesfeind, Chaosbringer und Lichtbringer): Er ist nicht immer da, wenn man ihn braucht und manchmal genau dann, wenn man ihn nicht braucht. Aber seine Gegenwart ist stets beruhigend und ein Blick in seine Augen erhellend. Danke für deine Stimme des Glaubens und der Hoffnung in Zeiten der Verwirrung und Dunkelheit, Max!

Mirjam Hierzegger (alias Mio) als Siralen Befendiku Issirimen (alias Hüterin der Waldesstille): Deine Siralen mag in vieler Hinsicht das glatte Gegenteil von Chara sein, Mio. In einem sind sie sich aber ganz gleich – sie sind mehr als nur Figuren in einer Geschichte. Ihre Welt drang aus der Geschichte in die Wirklichkeit und hat uns verändert. Damit haben die beiden mehr als nur „Geschichte geschrieben“. Vielen Dank für deine Begleitung und die ganz besondere Inspiration der Chroniken! Bei aller Dramatik ist Siralen eine Sternstunde unseres Pen&Paper-Rollenspiels geworden.

Thomas Strauss (alias Thomas) für Darcean Dahoccu, den elfischen Druiden mit der Sturheit eines vallandischen Bullen: Deine Konsequenz in der Umsetzung deiner Rolle hat für viele amüsante, aber vor allem auch sehr authentische Situationen gesorgt. Wenn du als Darcean deine Stimme erhebst, fühlt man sich mitten in die Welt von Chaos und Ordnung katapultiert. Dafür danken wir dir, lieber Thomas!

Veit Kramer (alias Veit) für Irwin MacOsborn, den Barden, der auf alles einen Rat weiß, aber mit Taten so seine Probleme hat. Lieber Veit, dein Irwin ist nicht nur für einen Lacher gut, er schafft es auch immer wieder, einen zu überraschen.

Und wie immer auch ein herzliches Danke allen ehemaligen Spielern sowie allen, die uns nur vorübergehend beehrten oder im vorliegenden Band Nebenfiguren besetzten! An dieser Stelle sind nur jene namentlich erwähnt, die auch im Buch Erwähnung finden:

Christian (Johann Alber), Peter (Gaan El’Schiban Al’Hamar alias Gaan), Robin (Tschaibaran, Grimnir Rotbart), Roland (Freon Eisfaust El’Salah alias Eisfaust und Jagan Kerme El’Alachin), Stefan (Langeladeon), Tom (Herkul Polonius Schroeder), Chris (Bargh Barrowsøn), Boris (Gemiramel Weißfels von Laruhn), Dominik (Thorn Gandir), usw.

Musikempfehlung

Musik zu einzelnen Szenen, im fortlaufenden Roman an den betreffenden Stellen mit markiert:

1) Allianzhymne bei der Allianzfeier (Kapitel „Die Helden der Allianz“): Laibach – Final Countdown (Albumversion/ Album „Nato“)

2) Traumbotschaft (Kapitel „Ein Wort zu viel“): Knorkator – Wir werden alle sterben

3) Traumbotschaft (Kapitel „Kaltes Erwachen“): Rammstein – Der Meister

4) Stimme im Sturm (Kapitel „An der Grenze“): Alexander Veljanov – Your House On My Hill

5) Warnung aus dem Ozean (Kapitel „Reise, Reise …“): Rammstein – Reise, Reise

6) Am Grund des Ozeans (Kapitel „ES“): Hawkwind – Forge Of Vulcan

7) Meuterei auf der Dunkler Stern 1 (Kapitel „Stimmen aus der Vergangenheit“): Oomph – Unserer Rettung

8) Meuterei auf der Dunkler Stern 2 (Kapitel „Stimmen aus der Vergangenheit“): Oomph – Gekreuzigt

9) Traumbotschaft zum Schicksalskünder (Kapitel „Die Akte Lask Cisch“): Helium Vola – Manifesto

10) ES – Charas Vision (Kapitel „Epilog“): Tanzwut – Götterfunken

AMALEA


Detailkarte Amalea


Siralens Archipel


Allianzflotte


Teilflotte


Schiffstypen


Eines Tages trat eine Motasali in mein Leben und sagte:

Die Welt ist keine Scheibe,

sie besitzt kein Oben und kein Unten,

keinen linken oder rechten Rand,

keine Seite, auf der es sich leben lässt,

und keine, die den Tod bedeutet.

Sie sagte:

Die Welt ist eine Kugel,

sie ist ein in sich geschlossenes Ganzes,

kein Weg über ihr Rund führt an eine Grenze,

keine Grenze in den Abgrund.

Licht und Dunkel gibt es nicht.

Chaos und Ordnung sind eins.

In einer Welt wie dieser gibt es keine zwei Seiten:

Es gibt nur ein Werden und Vergehen,

den ewigen Wandel im Meer der Zeit.

Die Frau deutete in den Himmel, und ich sah, wie die Sonne am Firmament schwarz wurde. Da lächelte sie und sagte:

Keine Angst!

Die Schwarze Sonne leuchtet dir,

du findest ihr Licht im Schatten,

und sie wirft ihren Schatten in dein Licht.

Sie ist, was immer war und immer sein wird.

Unter ihrem Banner sind wir heil und ganz.

Dann zog sie ihre Waffe und ging dem Zeichen der Sonne entgegen.

Und als ich verstand, dass ich ihr auf diesem Weg nicht folgen konnte,

als ich mich von ihr und ihrer Sonne abwandte,

um die Liebe zu finden,

nach der ich ein Leben lang suchte,

und um dem Tod zu entgehen,

den ich ein Leben lang bekämpfte,

fand ich in der Liebe den Tod.

Amalea im Jahre 347 nach Gründung Fiorinde:

Tausend und dreihundertfünfzig Jahre

nach Beginn der Chaoszeit.

Fünfhundert und siebzig Jahre

nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.

 

Zweihundert Jahre

nach der Vertreibung der Chaosmächte

aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,

des Südens und des Westens.

Die goldenen Zeiten sind vorüber. Die Anhänger des Chaos ziehen in den Krieg, um die Weltordnung zu zerstören und die Herrschaft über Amalea an sich zu reißen. Das dunkle Zeitalter kehrt zurück.

Moravod existiert nicht mehr. Der einstige Prophet Togh Levas und jetzige Chaosgott Hakkinen Dragati hat mit seinen neuen Anhängern das Land nördlich des Jenisvoi im Blitzkrieg erobert und zu Dragatistan gemacht. Die Dragatisten, die sich dem Chaos verschworen haben, werden zur neutralen Partei zwischen der Allianz und dem Chaosbündnis.

In Erainn sorgt der Fall Caeir Isaharas für große Verwirrung unter den Fürsten und innerhalb der Bevölkerung des Landes. Die einhunderttausend Mann starke Armee unbekannter Herkunft, unter deren Ansturm eine der mächtigsten Festungen Amaleas fiel, zieht eine Flut an dunklen Gerüchten und wilden Prophezeiungen nach sich. Die Einwohner beginnen zu begreifen, dass das Chaos und seine Anhänger zurückgekehrt sind.

Im zentralen Gebirge Aschrans, Gebiet Al’Jebals, bereitet sich die Allianz in ihrem Hauptstützpunkt Tamang auf die größte Expedition vor, die weltweit je durchgeführt wurde. Während die Kommandanten der Expedition die letzten Vorkehrungen treffen, um mit der Allianzflotte den Großen Abgrund zu überwinden, rüsten die Truppen der Allianzarmee für den Krieg gegen das Chaosbündnis.

Die Helden der Allianz

Ich will, dass euch klar ist, dass es ab heute kein Zurück mehr gibt. Ich will, dass ihr wisst, dass ihr von jetzt an auf euch gestellt sein werdet. Alles, was ihr bei mir gelernt habt, habt ihr für diese Mission gelernt. Alles, was ihr in meinem Namen vollbracht habt, hat euch hierher geführt.

Die Zeit drängt. Ihr steht vor einer Entscheidung. Entscheidet euch!

Siralen Befendiku Issirimen hatte sich entschieden. Warum, das war ihr selbst nicht ganz klar. Aber das Ja war da. Es war ihr über die Lippen gesprungen wie ein Tautropfen von der Spitze eines vom Wind gepeitschten Grashalms.

Al’Jebals Geheimnisse waren derer viele. Einige davon hatte er ihnen vor zwei Tagen anvertraut. Nachdem er sie vor die Wahl gestellt hatte: „Seid ihr mit an Bord?“ Das war in etwa der Inhalt seiner Frage, wenn er sie auch ganz anders formuliert hatte. Sie würden nicht nur sprichwörtlich an Bord gehen. Im Auftrag der Allianz. Für die Zukunft Amaleas …

Eines der Geheimnisse, die der Sprecher der Allianz ihnen anvertraut hatte, war, dass die Welt keine echte Grenze hatte. Oder dass es zumindest eine Möglichkeit gab, diese zu überwinden. Der Große Abgrund … Wenn man sich über eine Weltgrenze hinwegsetzen konnte, was erwartete einen danach? Neue Welten …

Siralen stand halb angekleidet in ihrer Unterkunft in einem der zentralen Sektoren Tamangs. Redlich bemüht, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, fingerte sie an den Nesteln der Kleiderärmel herum. Doch der Kopf wollte einfach nicht bei der Sache bleiben, und die Finger zitterten in beschämender Ziellosigkeit über die schmalen Bänder am Saum.

Verständlich, dass ihr Inneres in Unordnung geraten war. Was sie vor zwei Tagen erfahren hatte, war kaum mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Sie musste alles neu überdenken. Und sie fragte sich, wohin sie in all den Jahrzehnten ihres bisherigen Lebens geblickt hatte, dass ihr all dies entgehen konnte. Wusste der Elfenrat Bescheid? Was war eine Lüge und was die echte, gehaltvolle Wahrheit?

Endlich saßen die letzten Bänder und sie konnte ihre Schultern entspannen. Hingebungsvoll massierte sie sich den Nacken und trat vor den Spiegel. Eine Seltenheit. Der Spiegel war groß und sein ovaler hölzerner Rahmen mit außergewöhnlich kunstvollen Schnitzereien geschmückt. Eindeutig nicht von Elfenhand und dennoch erstaunlich.

Siralens Spiegelbild schob sich in ihr Blickfeld – ein Gesicht, das ihr verblüfft entgegenlächelte. Was sie sah, gefiel ihr. In diesem Kleid schien alles am rechten Platz zu sein. Es war wie für sie gemacht – schlicht, von zartem, ihre Augen zum Leuchten bringendem Blauton und in einem Guss an ihren schlanken Beinen hinabfließend. Warum hatte sie es nicht schon eher getragen?

Natürlich. Sie hatte das Kleid vor langer Zeit weggeschlossen; weggeschlossen wie die Erinnerung an ihre Mutter, die es an sie weitergegeben hatte; weggeschlossen wie die Erinnerung an den Vater, der die Mutter mehr geliebt hatte als sein eigenes Volk. Aber jetzt, jetzt fühlte sich der seidige Stoff gut auf ihrer Haut an.

Sachte fuhr sie sich durch ihr silbernes Haar und begann, die Strähnen zu einem strengen Zopf zu flechten. Oh Aflih! Wo bin ich da nur hineingeraten?

So ungern sie sich an ihre Eltern erinnerte, so gerne dachte sie an ihre Großmutter. Lenyanemara hatte sie mit aller nur denkbaren Weisheit auf dieses Leben vorbereitet – ein Leben, das manchmal der Weisheit gleichgültig gegenüberstand und häufig tat, was es wollte, ohne an die Konsequenzen zu denken.

„Der Weg einer Kriegerin ist stets von Licht und Schatten begleitet“, hatte Großmutter ihr an jenem Tag nahegebracht, als sie ihre Ausbildung zur Kriegerin antrat. „Das Licht fällt auf den, der Leben rettet, der Schatten auf den, der Leben zerstört. Ein Krieger wird stets beides verkörpern. Vergiss das nie, Ana!“

Siralen hatte es nicht vergessen. Trotzdem hatte sie sich zur Kriegerin ausbilden lassen. Weder Großmutter, noch sonst jemand hätte sie davon abbringen können. Sie wollte kämpfen. Sie würde dafür kämpfen, ihr Volk vor seiner endgültigen Ausrottung zu bewahren. Nun, da das Chaos seine verderblichen Armeen über den Boden Amaleas schickte, war jede Frau und jeder Mann, der mit einer Waffe umzugehen wusste, dazu verpflichtet, diese auch in den Kampf zu führen. Selbst wenn Siralen vom heutigen Tage an im Namen Al’Jebals kämpfte, der Entschluss blieb derselbe. Die Elfen gehörten der Allianz an und die Allianz stand und fiel mit Al’Jebal.

Wenn der Alte vom Berg die Indizien, die er gesammelt hatte, für ausreichend befand, um eine Welt hinter den bekannten Grenzen Amaleas anzunehmen, musste seinem Ruf gefolgt werden. Die Allianz brauchte Verbündete. Und Al’Jebal war der Erste gewesen, der die Unabhängigkeit der Elfen und den Staat Albion anerkannt hatte. Er war einer der ältesten Freunde der Elfen und ihrem Volk mehr als einmal zu Hilfe gekommen. Egal, was da draußen über ihn geredet wurde, egal, was jenseits der Grenzen Amaleas lauerte, innerhalb lauerte das Chaos und die Allianz war gegründet worden, um es zu bekämpfen.

Siralen zog die Finger aus ihrem Haar. Weg mit den Gedanken an Tod und Chaos! Heute war kein Tag, um sich in düsteren Visionen zu verlieren, heute war ein Tag des Feierns und der Freude.

Ein letztes Mal betrachtete sie sich im Spiegel, blickte in die kühlen blauen Augen, die ernst zurückblickten, strich sich behutsam ein paar lose Strähnen an den Schläfen nach hinten und band sich den Gürtel mit dem schmalen Dolch um die Hüften.

Als sie die Tür hinter sich schloss, trat ihr ein aschranischer Wachmann entgegen.

„Said Ihr berait?“, fragte er und Siralen nickte.

„Dann folgt mir.“

Der rote Teppichläufer, der eine zweihundertfünfzig Schritt lange Bresche in das Gewirr aus Menschen, Elfen und Zwergen schlug, erschien ihr wie ein Signal voranzuschreiten. Weiter, immer weiter, ohne einen Blick zurück …

Unzählige Öllampen und Feuerschalen hingen an schweren Ketten von der Decke und tauchten den Weg zum Podium in ein sattes, warmes Licht. Nur im Eingangsbereich herrschte Dunkelheit.

Die Empfangshalle war von breiten Säulengängen flankiert. Und wäre der Saal nicht brechend voll gewesen, Siralen hätte sich seltsam seelenlos in diesem nackten, gigantischen Gemäuer gefühlt.

Sie stand im Rahmen der Doppelflügeltür und verschmolz mit dem Schatten im Eingangsbereich. Der Anblick der schwarzen Silhouetten auf den beleuchteten Balustraden in schwindelerregenden Höhen war wie ein Fausthieb in den Magen. Dort standen sie – jede Menge Orks in den Galauniformen der Allianz. Verbündete … und doch waren die Kreaturen, die sich vor langer Zeit Al’Jebal angeschlossen hatten, den Elfen nach wie vor ein Dorn im Auge, und das würden sie vermutlich immer sein.

Fatujen! Sie selbst hatte erst kürzlich am Pass Cunair Tarr gegen Orks gekämpft, wenn diese auch der Chaosseite angehört hatten. Und sie war nur einen Wimpernschlag davon entfernt gewesen, im Alleinen des Weltgeistes aufzugehen – sie und auch all die anderen Krieger der Allianzarmee, die an diesem Abend so zahlreich vertreten waren, dass sie die restlichen Gäste in den Schatten stellten.

Unter ihnen waren auch die Priester, die gemeinsam mit den Elfen die erste, schicksalsschwere Schlacht in Erainn geschlagen hatten. Siralen erkannte einige von ihnen an ihren langen Roben und fein gearbeiteten Togen. Ihre Gewänder wetteiferten mit den schmucken Festtagskleidern der Handwerker, die sich unter die Gäste gemischt hatten. Die farbenfrohen Symbole der Zünfte lockerten das zeremonielle Ambiente auf, das die Priester mit ihren prächtigen Emblemen verbreiteten. Die Schlageisen der Steinmetze spielten mit den roten Kriegshämmern des Gottes Agramon, die Hobel der Tischler duellierten sich mit Issisas Kralle, das Feuer der Schmiedeessen flackerte munter zwischen den eisblauen Wappen Monochs. Der Tod wäre erfreut, Euch zu sehen …

Ein Schauer durchzuckte Siralen. Den Gedanken an die Priesterschaft über Tod und Eis abschüttelnd, suchte sie nach den Vertretern ihres Volks. Der kleine Anteil der nichtmenschlichen Rassen ging in der Menge des kurzlebigen Volks nahezu unter, was wenig überraschend war. Doch Siralen erspähte Ihresgleichen dennoch. Die Elfen hatten sich dezent von dem kleinen, korpulenten Volk der Zwerge distanziert. Sie standen auf der gegenüberliegenden Seite des Teppichläufers – zwischen ihnen der breite, reißende Fluss unvereinbarer Gesinnungen.

Ein schwacher Vorbote von Heimweh erfasste Siralen und sie riss sich vom Anblick ihrer Brüder und Schwestern los. Vieles war hier nicht so, wie es sein sollte. Orks und Zwerge waren eine Sache. Mit ihrer Gegenwart in den Reihen der Allianz hatten sich die Elfen halbwegs arrangiert. Mit den Vertretern der Schattenwelt hingegen …

Wer dem Alleinen widersteht, ist aus dem Weltgeist gefallen. Was nicht im Weltgeist ist, ist im Nichts. Und was im Nichts ist, darf nicht sein.

Würde Al’Jebal dieses elfische Gesetz brechen? Würde er es wagen, einen MacDragul zu den Feierlichkeiten zu laden? Auf der Suche nach dem Wappen, das den ihren so verhasst war, fand Siralen jede Menge anderer Embleme, viele davon mittlerweile so vertraut wie der silberne Baum Albions. Da waren die Lilie der MacArgyll und die rote Rose der MacGythrun aus Alba, das Kriegsbeil des Schlachtenstürmers Höggningar, die roten Längsstreifen auf weißem Tuch, die das Wappen der Aeglier kennzeichnete. Sie fand den schwarzen Bären Moravods, die gekreuzten Säbel auf weißem Tuch der Tegoner und natürlich Al’Jebals Emblem – den silbernen Fünfzackstern. Aber keine drei Silberblumen auf blutrotem Grund, über welchen ein schwarzer Adler vor goldenem Firmament thronte. Kein Zeichen jenes albischen Clans, der bis heute noch aus jeder Schlacht als Sieger hervorgegangen war und den Toten so viel näher stand als den Lebenden. Gut so.

Schritte erklangen im Gang hinter ihr und Siralen drehte sich um. Helolilejen! Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. General Göttrik van de Drakeen schritt im Gefolge zweier Frauen und eines Mannes auf den Eingang zu. Damit wusste Siralen, wo ihr Platz war. Sie begrüßte den General mit einem respektvollen „Tin salu ecra“, trat aus dem Türrahmen und machte den Weg frei. Dann schloss sie sich den beiden Gestalten an, die sich im Rücken des Vollblutkriegers eingefunden hatten und sich wie Schatten und Licht um eine Dissonanz aus sattem Grün schlossen.

Die Dissonanz hieß Lucretia L’Incarto und war wie gewohnt in stilvolle Seide gekleidet. Ihre roten Locken hatte sie zu einem festen Knoten am Hinterkopf gewunden, wobei ihr zwei Strähnen in sanften Wellen auf die nackten Schultern fielen. Es hätte ihrem sinnlichen Gesicht geschmeichelt, wäre da nicht diese entsetzliche Narbe gewesen, die sich wie ein zweites, blutrünstiges Lächeln über ihre Wangen zog. Doch angesichts des Mannes, der neben ihr stand, war Lucretia nahezu eine Augenweide. Obwohl der Fremde mit dem Narbengesicht Siralen an die unfertige Büste eines Amateurbildhauers erinnerte, begleitete ihn eine sanfte, warme Aura. Sie war ihm noch nie begegnet, erkannte ihn anhand seiner tadellosen Aufmachung und der weißen, festlichen Toga aber sofort als hochgestellten Priester – es konnte sich also nur um Telos Malakin handeln. Und damit war auch klar, zu wem der Schatten gehörte, der sich in aller Schärfe vom Weiß der Priestertoga abzeichnete.

 

Chara Pasiphae-Opoulos war ganz in schwarz gekleidet. Ausnahmsweise trug sie keine Lederrüstung, sondern ein Hemd über engsitzenden Hosen unter einem langen Mantel aus Wildleder. Waffen hatte sie keine dabei, oder doch zumindest keine sichtbaren. Zwei ihrer primitiven, von Kopf bis Fuß tätowierten Krieger begleiteten sie und trugen nichts als einen Rock aus Bast und Tierhaut um ihre Hüften.

Die Assassinin blickte nach vorne und fixierte aus ihren schwarzen Augen die Empore am Ende des roten Teppichläufers. Sie schien gar nicht registriert zu haben, dass Siralen zu ihr und den anderen gestoßen war.

Sie vermag es nicht so recht, das Licht vom Dunkel zu trennen, stahlen sich Langeladeons Worte in Siralens Kopf. Sie hatte den letzten Einsatz in Isahara unter Charas Kommando miterlebt und konnte nur einen einzigen Schluss daraus ziehen: Chara war eine Frau, die niemals aufgab.

„Wenn ich es richtig sehe, haben wir nur eine Möglichkeit, in die Hauptburg einzudringen. Von oben, mit anderen Worten, aus der Luft!“

Das war Chara. Nachdem van de Drakeen die Hoffnungslosigkeit eines Einstiegs in die Festung Isahara deutlich gemacht hatte, initiierte sie kurzerhand ein Selbstmordkommando. Und damit hatte die Assassinin die Drachen auf den Plan gebracht. Von den etwa dreißig Mann der Einheit, die unter ihrem Befehl in die Feste eingedrungen war, überlebte etwa die Hälfte. Erstaunlicherweise. Das Resultat war ein Sieg und die Eroberung einer der mächtigsten und bislang unbezwingbaren Festungen Amaleas.

„Tin salu ecra“, begrüßte Siralen die Assassinin und wurde von einem finsteren Blick in Empfang genommen. Ein knappes Nicken seitens der Hatschmaschin und Chara sah erneut nach vorne Richtung Podium.

„Oberhohepriester Telos Malakin“, wandte Siralen sich dem Priester zu.

Telos ergriff ihre Hand. „Es freut mich, Euch persönlich kennen zu lernen, Siralen. Agramon hämmere Eure Feinde!“

Sie erwiderte sein Lächeln, spürte aber, dass es ihr Gesicht nicht entspannte. „Die Freude ist ganz bei mir. Ich habe viel von Euch gehört.“

„Nicht alles davon ist wahr.“ Die Narbe unter seinem Auge zuckte, und Siralen ertappte sich dabei, wie der Anblick sie faszinierte. „Und manches Wahre ganz und gar unglaublich“, erwiderte sie.

Telos Malakin sah aus wie ein Mann, der sich von allen Zweifeln befreit hatte. Andernfalls wäre es ihm vermutlich auch nicht gelungen, zum obersten Priester des Agramon in Al’Jebals Gebiet aufzusteigen. Und es war der Priester, nicht der Mann, den Telos überzeugend verkörperte.

Nachdem Siralen von Lucretia mit einem „Wie schön, dass Ihr hier seid!“ begrüßt worden war, trat ein letzter Mann durch den Gang auf sie zu. Es war Anduin Storn, Kommandant des Bataillon D’Amur.

„Na, alle wohlauf?“, fragte er, zupfte sich den Kragen seines Waffenrocks zurecht und linste über die Schultern der anderen durch die Doppelflügeltür.

„Alles bestens“, erwiderte Chara, die sich nur kurz zu ihm umdrehte und dann wieder nach vorne sah. „Bringen wir’s hinter uns.“

Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf das Podium am Ende des Teppichläufers. Siralen erkannte aus dem Augenwinkel, wie die Zwerge den Elfen alberne Gesten zuwarfen. Die Letzte der A’e’jil war bisher nicht zu sehen gewesen, was sie wenig betrüblich fand. Dafür erspähte sie jetzt einige Kidari-Krieger, die sich um ihren General Gaan El’Schiban gesammelt hatten.

Fanfaren ertönten. Die Menge verfiel in eine Art Spalierhaltung. Trommeln wurden laut und übertönten die Blasinstrumente. Ein tiefes, hallendes Donnern hob von den Seiten des Podiums an und rollte wie eine Sturmwand über die Köpfe der Menge hinweg. Der volle Klang von Hörnern mischte sich unter die Trommeln und der Saal wurde zu einem einzigen, gewaltigen Schallkörper. Im selben Augenblick flackerte das Feuer der Kandelaber über dem Eingangsbereich auf und tauchte sie in ein sattes Licht. Als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen, um dahinter die eigentliche Bühne zu präsentieren.

Die sonoren Stimmen eines Männerchors erhoben sich, und Siralen fühlte, wie die Musik sie ergriff und in einen seltsamen Sog zwang. Als ob die Schatten der Nacht vor einem neuen Morgen ihr Knie beugten … von Leid und Heil gleichermaßen erzählend, von Tod und Verderben, aber auch von einem siegreichen Kampf, von einer Reise ins Ungewisse. Die Hymne wurde in Echos von den Wänden zurückgeworfen und toste wie der Anfang vom Ende durch den Saal. Die Trommelschläge ließen Siralens Herz schneller schlagen, die tiefen Stimmen vibrierten wie Harfensaiten in ihrem Bauch.

Dies ist die letzte Etappe,

auf unserem Weg in den letzten Kampf.

Wir kämpfen gemeinsam,

doch heute sagen wir „Leb Wohl!“

Van de Drakeen setzte sich in Bewegung, und Siralen folgte ihm und den anderen den roten Teppichläufer entlang.

Mag sein, dass wir wiederkehren

in diese Welt, wer will es wissen?

Kann sein, dass niemand die Schuld daran trägt,

kann sein, dass wir Amalea vermissen,

doch heute werden wir gehen,

dem Wunsch zu bleiben widerstehen.

Wird es je wieder sein, wie es war?

Das Donnern der Trommeln dröhnte in Siralens Ohren, als ihre hallenden Schläge die Pause zur nächsten Strophe überbrückten. Sämtliche Augenpaare waren auf van de Drakeen und sie gerichtet. Da war Neugier in den meisten Gesichtern, aber auch Ehrfurcht, ein Hauch Melancholie und … Hoffnung. Der Auftritt der Spitze des Allianzheeres und seines Gefolges ließ die Menschen hoffen. Und während sie sich durch die Gasse bewegte, spürte auch sie den zaghaften Flügelschlag der Hoffnung in ihrer Brust.

Dies ist die letzte Etappe,

der letzte Kampf!

Wir sehen dem Abgrund entgegen,

und immer noch stehen wir aufrecht.

Kann sein, dass uns jemand da draußen erwartet,

kann sein, dass er uns willkommen heißt.

Über so viele Grenzen müssen wir gehen,

und so viele Dinge gilt’s zu entdecken.

Stets werden wir aufrecht stehen

und gewiss – wir werden euch alle vermissen.

Dies ist die letzte Etappe,

der letzte Kampf,

die letzte Etappe

Ohhh oh oh ohhh …

Es ist die letzte Etappe,

unser letzter Kampf.

Wir gehen gemeinsam

und wissen,

wir werden euch alle vermissen.

Eine Abfolge schwerer Trommelschläge kündete das Finale an und schien die Takte bis zum endgültigen Ende zu zählen. Mit dem letzten Donnern stiegen sie über die Treppe zum Podium hoch. Danach wurde es totenstill im Saal.

Al’Jebal betrat die Bühne. Zwischen seiner Rechten und Linken Hand, dem obersten Kommandanten der Landstreitkräfte Agem Ill und dem Schwarzen Assassinen Assef El’Chan, bewegte er sich ins Zentrum des Podiums und blieb unterhalb des Wappens der Allianz stehen. Die goldene Lilie unter dem aschranischen Letter A prangte, eingefasst von einem Kreis aus Dreiecken, die für die verbündeten Länder der Alliierten standen, wie ein Leitspruch über dem Sprecher der Allianz.

Nachdem sich Siralen zusammen mit den anderen hinter ihm und seinem Gefolge aufgebaut hatte, trat Al’Jebal nach vorne und blickte schweigend über die Menge. Als er endlich zu sprechen begann, schien es, als würde ein Aufatmen durch die Reihen gehen.

„Wir sind heute hier, um unseren ersten Sieg gegen das Chaosbündnis zu feiern“, bahnte sich seine tiefe Stimme einen Weg zum Publikum hinab. „In der Zerstörung Isaharas zeigt sich die Macht unserer Allianz. Einige haben in der Schlacht gegen das Chaos den entscheidenden Ausschlag gegeben. Neben dem Mut, dem Durchhaltevermögen und der außerordentlichen Kampfkraft des Allianzheers ist es vor allem ihnen zu verdanken, dass wir diesen Kampf gewinnen konnten.“

Eine Pause folgte, in der sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu unverhohlener Neugier emporschwang.

„Wir ehren heute jene, die zu Recht als Helden gelten.“

Auf ein Zeichen hin trat der General nach vorne und positionierte sich neben Agem Ill.

„Der General der Allianzarmee Araguari Hathor Göttrik van de Drakeen!“, kommentierte Al’Jebal und seine Hand schwang kaum merklich in Richtung des Kriegshelden. Unter tosendem Applaus schüttelte Agem Ill dem General die Hand und legte ihm einen Orden um den Hals, woraufhin lauter Jubel ausbrach.

Siralen versuchte einen Blick auf das goldene Medaillon zu erhaschen und erkannte auch dort das Allianzwappen.

„Meine Güte, wenn ich das gewusst hätte, ich hätte diesen Tag nicht überstanden“, murmelte Lucretia an ihrer Seite. „Den Mächten sei Dank, hat Al’Jebal uns nichts über den eigentlichen Grund dieser Feier gesagt.“

Siralen wusste nichts darauf zu sagen. Im Augenblick hatte sie selbst alle Hände voll damit zu tun, die Fassade des Gleichmuts zu wahren. Al’Jebal inszenierte hier offensichtlich eine Art Kulisse der Glorie, um einen unausweichlichen, beängstigenden Krieg in einem ermutigenden Licht erstrahlen zu lassen. Er malte Pathos in das Grauen, von dem anzunehmen war, dass das Menschenvolk es nötig hatte, um das dräuende Schicksal anzunehmen. Und vermutlich tat er gut daran.