Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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„Die Missstände in diesem diktatorisch geführten Stab müssen beseitigt werden. Ansonsten sehe ich nicht, wie die auf uns zukommenden Aufgaben bewältigt werden könnten. Ich beantrage daher folgende Gesetze einzuführen:

Keine Vorabsprachen einzelner Kommandomitglieder. Keine Einmischung in die Kompetenzbereiche der jeweils anderen Kommandanten. In Zukunft gilt eine demokratische Entscheidungsfindung. Das bedeutet – nur um es auch denen begreiflich zu machen, die sich lediglich auf ihren Hausverstand berufen können …“ Seine spitze Nase schwenkte zu Chara. „… Ausschließlich die vereinte Stimmgewalt führt zur Gültigkeit einer Entscheidung. Darüber hinaus tritt das Recht der Zauberkundigen in Kraft, sich bei einem Verstoß gegen die Regeln aus der Mission zurückzuziehen. Werden die geforderten Gesetze abgelehnt, betrachte ich dies als eine Gefahr für Leib und Leben sowie für Hab und Gut der Zauberkundigen, und sehe mich gezwungen, jede weitere Zusammenarbeit selbiger mit dem Kommando dieser Expedition zu unterbinden.“

Siralen hatte ihre Feder zur Seite gelegt und sah nun zum ersten Mal richtiggehend besorgt aus. Sie erhob sich und schob ihren Zopf in den Nacken.

„Ohne die Unterstützung der Zauberkundigen sind uns anderen die Hände gebunden. Das ist Euch bewusst, oder, Magus Primus Major?“

„Das ist ihm sogar sehr bewusst“, bemerkte Chara. In ihrem Rücken spürte sie die Anspannung Noks und Itis.

Siralen nickte ernst. „Ich verstehe Eure Sorge um diese Mission und Euer Ansinnen, im Kommando und auch im restlichen Flottenverband für Ordnung zu sorgen, Magus Primus Major. Und ja, wir haben hier noch einiges zu verbessern. Dennoch befinde ich die Art und Weise, wie Ihr Euren Willen durchsetzt, für ähnlich undemokratisch, wie Ihr es Chara vorwerft.“

Jetzt kam Bewegung in den schwarzen Stoffberg, der Kerrim hieß und sich bislang kaum zu Wort gemeldet hatte.

„Nur so aine Frage, Kħasai … Sind das aigentlich Frau L’Incartos Forderungen oder die von Euch?“ Er schnappte sich wie nebenbei seine Pfeife aus Charas Hand und verhalf sich zu einem innigen Lungenzug.

„Werter Herr Ben Yussef“, näselte Kasai, „ich spreche natürlich alle hier von mir vorgebrachten Anträge mit Frau Lucretia L’Incarto ab, bevor ich sie zur Diskussion stelle.“

„Ah natürelich! Ist es wahr, dass Lucretia sich fühlet nicht ganż wohl und dass das auch ihre gaistige Verfassung betrifft ain bisschen …“

„Wollt Ihr Frau L’Incarto etwa unterstellen, sie wäre nicht bei Verst…“

„Nain, gar nicht. Es freut mich nur, dass Ihr Euch so vortreffelich kħümmert um Lucretia – wo sie doch gerade ist beschäftigt so sehr mit der Trauer um Olschewski – und abnehmt ihr die Last, ganż allain żu treffen Entschaidungen. Seher löblich.“

Womit klar war, dass es einen gab, der wusste, wie man jemandem wie Kasai das Maul stopfte. Jedenfalls wurde es endlich ruhig in der Messe.

„Ich schlage vor, Darcean setzt den Gesetzestext auf“, meldete sich erneut Siralen zu Wort. „Im Endeffekt haben wir keine andere Wahl, als Euren Forderungen nachzukommen, Magus Primus.“

Das Major in seinem Titel fiel ganz nebenbei unter den Tisch. Die Höflichkeit, mit der Siralen Kasai begegnete, schrumpfte mit jedem Satz. Noch einer mehr und Kasai war bis zu einem einfachen Magus degradiert. Auch eine Möglichkeit.

„Dir ist klar, dass er uns damit vollends in der Hand hat, oder?“, sagte Chara.

„Wir haben keine Wahl.“

„Genau davon rede ich.“

Ein beschwörender Blick seitens der Elfenkriegerin, und Chara lenkte ein: „Also gut. Gebt ihm, was er will. Ich werde unterzeichnen.“

Sie stand auf und wandte sich Kasai zu, woraufhin Nok und Iti sofort Haltung annahmen. „Ich gebe Tauron Bescheid, dass die Überwachung der Vizeadmiräle sofort eingestellt wird. Die Zauberkundigen werden die Admiräle nicht länger behelligen. Halten sie sich nicht daran, wird es hässlich. Und mein Hausverstand sagt mir, dass Ihr nicht der Typ seid, der auf Schlägereien abfährt, Kasai.“

Damit ging sie zur Tür und hörte, wie sich Telos und Kerrim knarzend aus ihren Stühlen erhoben.

Als sie kurze Zeit später ihre Kajüte betraten, fühlte Chara sich leicht betäubt.

Kerrim lehnte an dem kleinen Tisch gegenüber der Tür und Telos stand etwas verloren mitten im Raum.

„Ihr kħönnt sagen żuerst Chara, was Euch nicht passet“, überließ Kerrim ihm den Vortritt.

„Wie geht es dir, Chara?“, kam die erwartete Frage, und sie fühlte sich sofort an alte Zeiten erinnert.

„Ich arrangiere mich mit den Tatsachen.“

Die Narbe unter Telos’ linkem Auge knitterte. „Du darfst den anderen nicht das Ruder überlassen. Es könnte sein, dass der eine oder andere daran interessiert ist, deine Autorität zu untergraben.“

„Einer ganz sicher.“

„Die Zauberkundigen dürfen nicht zum Zünglein an der Waage werden.“

„Ich tue mein Bestes.“

Telos nickte. „Ich stehe hinter dir. Du kannst auf mich und die Agramon-Priesterschaft zählen. Das weißt du, oder?“

„Jetzt schon.“

„Das war immer so und wird immer so sein. Wir arbeiten zusammen.“

„Es fällt mir zwar schwer, es zu sagen, aber ich bin froh, das zu hören.“

Telos’ Ausdruck hatte plötzlich etwas Defensives. „Allerdings denke ich darüber nach, mein Amt an Oberhohepriester Laurin MacArgyll abzugeben.“

„Was? Wieso?“ Laurin MacArgyll war nicht gerade ein Verfechter ihrer Person, und das war noch untertrieben.

„Weil er der Bessere ist, wenn es darum geht, den Priesterschaften vorzustehen. Das ist eine Tatsache, an der ich nicht vorbeikomme. Agramon weiß das.“ Er ließ seine linke Faust in der rechten Hand verschwinden. „Einer der Gründe, warum er der Geeignetere von uns beiden ist, liegt in seinem neutralen Verhältnis zu den Kommandanten dieser Expedition. Ich bin befangen, weil ich dich als Freundin betrachte.“

„Und er ist befangen, weil er mich als Feindin betrachtet.“

Chara fuhr sich aufgebracht durch ihr Haar. Telos würde sich nicht umstimmen lassen. Er hielt immer an seinen Entscheidungen fest. „Wenn du denkst, das ist der richtige Weg …“

„Noch bleibt alles beim Alten. Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wie gesagt, ich werde dich unterstützen, wo ich kann. Du weißt, wo du mich findest. Agramon hämmere deine Feinde, Chara.“

Nachdem er gegangen war, sah Chara Kerrim an.

„Und, was hast du mir zu sagen?“

Kerrim kaute auf seinem Pfeifenholm herum und zuckte mit den Schultern. „Nur, dass du dich vor Kħasai nehmen musst in Acht.“

„Ist mir klar.“

„Nain, ich glaub nicht, dass dir das wirkelich ist kħlar, Chara.“ Er zog die Pfeife aus dem Mund und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Magus Primus versucht żu żersägen dainen Kħommandostuhl. Das wird dir żwar bewusst sain, aber was du übersiehst, ist, dass er ist sehr mächtig. Nicht nur, was betrifft saine Fähigkaiten als Żauberkundiger. Erstens verstehe ich nicht, wie er finden kħonnte ħeraus, dass ich die Magier ausspioniere. Ich waiß, wie man so etwas macht, ohne dass es Verdacht erreget. Und żwaitens – die Żauberkundigen stehen alle ħinter ihm. Er war es nämlich, der ausgesucht ħat sie für diese Mission. Jeden Ainżelnen.“

Chara hob eine Braue. „Wieso weiß ich nichts darüber?“

„Ich ħabe es dir doch gesagt gerade.“

„Und wieso hat Al’Jebal das zugelassen?“

„Was żugelassen?“

„Dass ausgerechnet dieser pedantische Arsch die Magier für diese Mission aussucht.“

Kerrim zog ein unbekümmertes Gesicht. „Wahrschainelich ħat Al’Jebal entschieden so, wail Kħasai ist der fähigste Magier nach Gemiramel Waißfels.“

Chara löste den Waffengürtel von der Hüfte und warf ihn aufs Bett. „Ich halte ihn für einen Verräter, Kerrim.“

Eine Weile sah er sie nur an. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich waiß nicht, Chara. Nur, wail er versucht, dich żu werden los … ich maine, dich żu machen weg … ah verdammt!“ Er rieb sich genervt das Kinn. „Du waißt schon, wie ich es maine … dich żu bringen żum Schwaig…“

„Mich entmachten will“, half sie aus.

„Das ist es, was ich wollte sagen. Nur wail er das will, ħaißt das noch nicht, dass er ist ain Verräter.“ Er schob sich erneut die Pfeife in den Mund. „Aber wenn du mainst, wir sollen ihn machen weg, dann machen wir das.“

Chara spürte, wie ein Lächeln über ihre Lippen zuckte. Nicht wegen Kasais gerade in greifbare Nähe gerückten Versterbens, wenn dieser Gedanke auch verlockend war, sondern weil sich Kerrims Solidarität gut anfühlte. Sie brauchte den Assassinen, um in dieser Flotte bestehen zu können, und ihr war bewusst, dass es mehr als Solidarität war, was sie für ihn fühlte. Vielleicht war er ja die Lösung aller Probleme. Vielleicht konnte sie mit Kerrims Hilfe ihre Gefühle wieder in den Griff bekommen. Die langsam sich einschleichende Einsamkeit, die sich allmählich aufstauenden Bedürfnisse. Immerhin war er Al’Jebals Mann und als solcher dem Namai ebenso treu ergeben wie sie. Im Gegensatz zu allen anderen stellte er keine Gefahr für sie da. Wie sollte sie sich von Al’Jebal entfremden, wenn sie sich mit einem Kerl zusammentat, der wie sie mit Al’Jebals Wort stand und fiel? Kerrim könnte ein richtiger Freund sein.

Chara setzte sich aufs Bett und stützte die Arme auf ihren Schenkeln ab.

„Sag mal, wie ist das eigentlich? Wie verschaffst du dir Abhilfe, wenn du mal … also, du weißt schon, wenn du mal …“

„Wenn ich mal muss? Dann ħole ich ħervor mainen Nachttopf und lasse rinnen es.“

Alles klar. Ein Wink mit dem Zaunpfahl half hier wohl nichts.

„Wenn du vögeln willst, Kerrim.“

Ein Gespräch unter Freunden …

 

Jetzt wurde er sichtlich nervös. „Was mainst du, Chara?“

„Was an ‚Vögeln‘ verstehst du nicht?“

Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je sprachlos erlebt zu haben. Vielleicht damals in Isahara, als sie ihm ihren Handel mit MacArgyll gestanden hatte.

„Äh …“, stammelte er. „Wieso fragst du mich das?“

„Weil ich’s wissen will. Du bist wie ich ein Hatschmaschin. Und ich frage mich, wie du damit umgehst, keine Partnerin zu haben.“

„Wer sagt, dass ich nicht ħabe aine Partnerin?“

„Kerrim.“

„Chara.“

Sie schnaubte auf. „Ich weiß, dass du niemanden hast. Also sag schon, was tust du, wenn es dich überkommt?“

Kerrim fuhr sich gestresst durch seine zerzausten Haare und steuerte den Ausgang an.

„So gehet das nicht. In dieser Situation … Ich kħann nicht reden mit dir über solche Dinge.“

„Wieso nicht?“

„Wail … ich nicht will … es dich nichts gehet an … das nichts ist, worüber wir reden müssten … es nichts tut zur Sache.“ Er öffnete die Tür und verschwand nach draußen.

Dann eben nicht.

Chara setzte sich auf ihr Bett, löste das kleine schwarze Buch von ihrem Waffengürtel und nahm die Feder zur Hand.

Cuindag, 1. Trideade im Draugmond/347 nGF

Status Quo

Die Lage spitzt sich zu. Nachts werden wir von Träumen heimgesucht. Wie verstohlene Schatten ziehen sie über die feuchten Schiffsböden und kriechen durch die Spalten zwischen den Planken in unsere Kajüten. Ohne dass wir ihnen Einhalt gebieten können, suchen ihre blassen Nebelzungen nach unseren schlafenden Gedanken und speicheln sie mit ihrem schwarzen Gift ein.

Angst macht sich in den Herzen der Männer breit, die in die Ungewissheit segeln und jeden Morgen ihren Tod vor Augen haben. Klar, sie können nicht umhin, eine göttliche Macht hinter den schwarzen Wassern und den Träumen zu vermuten. Wer will es ihnen verdenken? Die abnormen Zustände unserer Umgebung, die Stimmen in der Nacht, die warnend unseren Tod verkünden … Das lässt selbst eine Agnostikerin wie mich daran zweifeln, dass wir es mit etwas Profanem zu tun haben.

Allerdings glaube ich, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Träumen und den seltsamen Vorkommnissen in unserer Umgebung eher unwahrscheinlich ist. Es gibt eine auf dem trockenen Boden der Wissenschaften erklärbare Ursache dafür, dass das Wasser unter uns mal schwarz, mal golden ist und den Tod bedeutet, wenn man davon trinkt. Dank des braven Einsatzes der Gelehrten konnten wir diese ja bereits an aggressiven Kleinstlebewesen festmachen. Die Träume sind das Resultat einer anderen Quelle. Hinter ihrer unheilschwangeren Botschaft mag tatsächlich ein Gott stecken. Sollte das der Fall sein, so haben seine theatralischen Maßnahmen allerdings nichts mit dem herkömmlichen Zorn eines Gottes zu tun. Dann handelt es sich vielmehr um eine taktische Maßnahme zur Demoralisierung der Schiffsbesatzungen – einen Angriff auf vierzigtausend Seelen, die nicht erreichen sollen, was sie erreichen wollen.

Göttliches oder magisches Wirken?

Ein magisches Wesen, das es zustande bringt, einer ganzen Flotte den gleichen Traum zu suggerieren, muss wahrlich mächtig sein, selbst wenn es sich nicht nur um eine Person, sondern um eine Gruppe handelt. Er oder sie müssten schon Al’Jebals Kaliber haben. Selbst ein Magus Primus wäre – das zumindest sagt mir mein Hausverstand – zu einer derartigen Handlung nicht fähig. Es sei denn, die Täter sind im Besitz eines mächtigen magischen Artefakts, oder es gibt unter den Zauberern Spezialisten auf dem Gebiet der Traumerzeugung, „Traumwirker“ oder wie auch immer sie heißen mögen. Doch ich bezweifle, dass das der Fall ist.

Ich bezweifle außerdem die Redlichkeit der Motive eines gewissen Kasai. Mein hochgestellter und recht verlogener Zeitgenosse beantwortet unsere Fragen nur teilweise wahrheitsgetreu, was mich zu Punkt zwei der ausständigen Problembehandlungen bringt.

Was, wenn Kasai mit seinen Tricks durchkommt?

Und doch freut es mich ungelogen, dass sich aus der eintönigen Masse halbherziger Gegner ein realer Feind erhebt, klar und unverhüllt und mir offen die Stirn bietet. Was sagt das über mich aus? Dass ich so verrückt bin, wie alle denken? Ich muss Kasai auf jeden Fall genau jene Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, auf die er so vehement besteht. Wenn doch nur alles so friedlich wäre, wie es das Waldvolk gerne dargestellt haben will. Siralen mag recht haben, wenn sie denkt, Ahrsa wäre nur daran gelegen, der Mission die bestmögliche Führung zuteil werden zu lassen, doch was die hübsche Elfe übersieht, ist, dass ich mein Stimmrecht zur Gänze verlieren könnte, was ich aufgrund meiner klaren Instruktionen nicht zulassen kann. Sie vergisst obendrein, dass ein Abdrängen meiner Person aus den Kommandoreihen eine Rebellion der Assassinen gegen die Magier heraufbeschwören würde. Kerrims Reaktion auf Kasais Intrigen lässt mich dies zumindest in Erwägung ziehen.

Träume, die kein Wind verweht

Am Seachdag der ersten Trideade im Draugmond,

347 nach Gründung Fiorinde

Dies sind schwarze Tage und der Lichtblick des Nachts ist alles andere als tröstlich. Trügerisches Gold, gefährliches Gold! Die Anstrengung, meine Sorgen nicht zu zeigen, Ruhe zu bewahren, mit kühlem Kopf zu entscheiden, zehrt an meinen Kräften. Während sich eine der Kommandantinnen ins Aus gespielt hat und diejenigen, auf die ich zähle, sich das Leben schwer machen, fühle ich, wie mir die Dinge entgleiten. Ich darf den Gedanken daran, was in den nächsten Tagen auf uns zukommen könnte, nicht allmächtig werden lassen …

Darcean spendet Ruhe und Trost und sein Rat ist mir weise und teuer. Doch auch er weist die Verantwortung von sich, die so schwer auf uns lastet. In den dunkelsten Augenblicken der Nacht wünsche ich mir manches Mal dieselbe Annehmlichkeit, doch ich kann und darf es mir nicht erlauben.

Ich muss einen klaren Verstand behalten. Zu viel steht auf dem Spiel.

Tagebuch – Siralen Befendiku Issirimen

Wenn wir die schwarzen Wasser nicht verlassen, werden unsere Schiffe sinken.

Taurons Worte hingen wie Blei an ihr. Jedes Mal, wenn sie dachte, sie könnte das Gewicht abschütteln und sich auf die Suche nach einer Lösung der sich häufenden Probleme konzentrieren, hörte sie den Männerchor aus ihren Träumen, der ihr fröhlich Kunde davon gab, dass das Ende nahe war. Die Träume hatten nicht aufgehört. Immer wieder wachte sie nachts schweißgebadet auf, während die tiefen Stimmen in ihren Ohren nachhallten. Heute Nacht würde sie vermutlich der nächste Traum ereilen.

Als Siralen die Tür zu Lucretias Kajüte aufschob, biss sie die Zähne zusammen. In ihr sträubte sich etwas, dieser Menschenfrau, die sich selbst aufgegeben hatte, zu helfen. Alles an Lucretia erinnerte sie an die menschliche Schwäche. Sogar ihre Kajüte. Es war heiß, feucht und beengend hier drin. Die Magierin lag auf ihrem Bett, die Decke nach unten gestrampelt, den Blick starr nach oben gerichtet. Sie rührte sich nicht, als Siralen zu ihrem Bett trat. Erst als sie sich auf die Bettkante setzte und vorsichtig ihre Schulter berührte, sah Lucretia sie an.

„Siralen“, murmelte sie und wirkte dabei, als würde sie sie gar nicht richtig wahrnehmen.

„Lucretia.“ Siralen schob ihr die Hand unter die Schulter und unterdrückte den inneren Widerstand, den die Berührung auslöste. „Komm, setz dich auf. Wir werden dich jetzt waschen und dein wundervolles Haar kämmen. Du wirst sehen, danach fühlst du dich gleich besser.“

Im Stillen fand sie sich damit ab, dass dieser schwache Versuch wohl kaum etwas an Lucretias Zustand ändern würde. Aber versuchen musste sie es. Das schuldete sie dem Alleinen, dem auch Lucretia angehörte.

Etwa ein halbes Glas später betrat Siralen das Vordeck und spähte über die Reling auf das noch schwarze Wasser. Bald würde es sich golden färben und zu leuchten beginnen. Wie jede Nacht.

Was, bei allen Schatten des Weltgeistes, ging hier vor? Goldene Wasser, vierzigtausend träumende Besatzungsmitglieder, Lieder von Leid und Verderben … „Wir werden alle sterben.“

Magus Primus Major Ahrsa Kasai und seine Helfer hatten das Wesen der Träume ergründet und waren zu dem Schluss gelangt, dass es sich um eine Magie der Illusion handelte, was eine Einflussnahme durch die Götter ausschloss. Ganz und gar sicher waren sie sich allerdings nicht. Zu komplex sei eine solche Art der Zauberei, noch dazu in diesem tausende Personen betreffenden Umfang. Wenn tatsächlich Magie dahinter steckte, dann mussten die Verantwortlichen schon im Besitz eines sehr mächtigen magischen Artefakts sein. Es stand außer Frage, dass die Unterstützung Ahrsa Kasais und seiner Zauberkundigen unabdingbar für das Gelingen dieser Mission war. Und wenn man nüchternen Verstandes darüber nachdachte, ließ sich der Magus auch nichts zuschulden kommen, abgesehen davon, dass er alles auf penibelste Art und Weise geordnet und geklärt haben wollte, was ja kein Fehler war. Leider trieb er Chara damit zur Weißglut. Und das konnte gefährlich werden.

Siralen setzte sich auf die Treppe zum Vordeck, zog ihre Flöte hervor und begann die Ballade von der Eroberung Fiorindes zu spielen. Das Lied Albions hatte Lenyanemara ihr immer vorgesungen, wenn sie abends nicht schlafen konnte oder traurig war. Meist war sie traurig gewesen, wenn sie an Mutter und Vater gedacht hatte, und das hatte sie ständig. Was wir nicht verstehen, verfolgt uns ein Leben lang, hatte Großmutter erklärt und sie hatte wahr gesprochen. Bis heute hatte Siralen weder vergessen noch vergeben, was ihr Vater während der Chaoskriege getan hatte. Bis heute warf sie ihm vor, was jeder Elf ihm vorwerfen musste: Du hast unser Volk verraten. An deinen Händen klebt das Blut hunderter Männer und Frauen.

Egal, wie sehr sie sich damit abmühte, ihrem eigen Fleisch und Blut zu vergeben, einen Verrat wie diesen konnte sie nicht verstehen. Und was wir nicht verstehen können, können wir nicht verzeihen.

Ihre Mutter Ralenyane war eine Frau, die man nur bewundern konnte – mutig, entschlossen und stolz. Sie war vielen ihres Volkes ein Vorbild gewesen. Vielleicht tat Siralen ihr auch unrecht, und Ralenyane hatte die Liebe zu ihrem Vater nie über das Wohl ihres Volkes gestellt. Doch der Vater hatte. Als Ralenyane von den Chaoshorden gefangen genommen worden war, hatte die Furcht vor dem Verlust seiner Frau jegliche Vernunft in ihm getilgt. Er hatte die ihm unterstellten Krieger, deren Aufgabe es gewesen wäre, den Feind zu belagern und mit der versprochenen Verstärkung am Ende zu überwältigen, an eben diesen verkauft. In der aberwitzigen Hoffnung, seine geliebte Frau zurückzubekommen, verriet er dem Anführer der Chaosarmee alles, was er über Truppenstärke, Taktik und Stellungen seiner Armee wusste. Daraufhin fiel das Chaos über die Truppen her und schlachtete jeden einzelnen Elfen ab. Nur der Vater wurde verschont, und nur deshalb, damit er seiner Frau beim Sterben zusehen konnte. Es musste grauenvoll gewesen sein. So war es nur allzu verständlich, dass sein Geist sich verirrte und er in völliger Umnachtung in die Heimat zurückkehrte. Das Bild, wie er nach seiner Rückkehr vor Siralen hintrat, mit diesem fiebrigen, kranken Blick in den Augen, und ihr in gestammelten Worten gestand, was er getan hatte, würde sie nie vergessen. Auch nicht, was danach passierte. Ihr Vater hatte das Haus verlassen und sich einfach sein Schwert in die Brust gerammt. So endete die Geschichte von der Liebe, die so groß zu sein schien, dass sie sogar den Tod überwand. Das Gegenteil war der Fall gewesen. Ihr Vater hatte sein Blut, sein Volk verraten. Seine Taten hatten ihn von der Seite der Elfen gerissen und zu einem allzu menschlichen Wesen gemacht. Ja, am Ende war er mehr Mensch als Elf gewesen – blind vor Liebe und Angst um eben diese. Und voll der Verzweiflung, die so weit ging, dass er sogar seine Unsterblichkeit opferte oder besser, sein ewiges Leben wegwarf.

Zwei Matrosen traten an die Reling, beugten sich im stetig schwindenden Schein der winterlichen Abendsonne über das Geländer und stierten auf das schwarze Wasser. Ihre Gesichter waren fahl und ihr Ausdruck voller Fragen, auf die es keine Antworten gab.

„Ich will’s jetzt ganz genau wissen“, brummte der eine, dessen Namen ihr entfallen war. Der andere war Kuhrn – der Brocken Kuhrn, dem man aus dem Weg gehen wollte, wenn man seine gewaltige Statur von Weitem sah, der aber aus der Nähe betrachtet ein so einnehmendes, wenn auch leicht debiles Lächeln hatte. Siralen stoppte ihr Flötenspiel und hörte zu.

„Was suchst du denn?“, fragte Kuhrn in üblich schleppender Manier.

„Na, den Zeitpunkt, wenn sich das schwarze Zeug golden färbt.“

 

„Hab ich schooon gesehen.“

„Und?“

„Es fängt einfach an zu leuchten.“ Er hob entschuldigend seine gewaltigen Schultern. „Da kann man nichts dran ändern.“

„Unheimlich ist das“, murmelte der andere und zog eine Grimasse. Die Anspannung in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er Angst hatte.

Siralen seufzte und nahm das Flötenspiel wieder auf. Kurz darauf kamen die beiden auf sie zu, setzten sich zu ihr auf die Treppe und lauschten ihren Klängen. Da saßen sie, die Freibeuter, Banditen der Meere … mit ihren zerknautschten Jacken, ihren von der Arbeit dreckigen Beinkleidern, einer davon mit einem geradezu sentimentalen Leuchten in den Augen, und hörten ihrem Flötenspiel zu. Und ihre Sorge einte sie mit der Elfe, deren Führung sie sich anvertrauen mussten … Menschliches Allzumenschliches.

Vier Tage. Vier lange Tage segelten sie nun schon auf diesen verderblichen Wassern und die Träume nahmen kein Ende. Unterdessen hatte sich ein Kommandomitglied gänzlich ins Aus gespielt.

Während Siralen Albions Lied spielte, verschwamm das Bild der beiden Matrosen, die ihrem Flötenspiel lauschten, und sie sah Tauron. Sie sah, wie der Admiral zu ihr aufs Hauptdeck trat, ihren Schwerttanz unterbrach und ihr in seiner unflätigen Art sein schlüpfriges Angebot unterbreitete. Ein Teil von ihr wäre ohne Vorbehalte mit ihm gegangen. Weil dieser Teil auf eine perfide Weise schön fand, was der ungeschlachte Seefahrer verkörperte – sein raubeiniges Gebaren, seine Art zu lächeln, die Selbstverständlichkeit, mit der er ihr begegnete, bis hin zur Tatsache, dass er genau wusste, was er wollte und auch nicht davor zurückschreckte, es sich zu holen.

Siralen dachte an die über jeden Zweifel erhabene Formvollendung seines menschlich-männlichen Körpers und stellte beschämt fest, dass es vor allem die Derbheit war, die ihr an ihm gefiel. Er war wie ein Rohdiamant. Seine Ecken und Kanten würden ihr wahrscheinlich die Haut aufreißen und dabei gefiel ihr gerade der Gedanke, ein klein wenig zu bluten. War es das Unaussprechliche, das Issirimen?

Siralen fühlte sich unvollständig. Als würde ihr zur Ganzheitlichkeit ihres Selbst eine entscheidende Erfahrung fehlen.

Das Meerwasser begann sich erneut golden zu färben – so wie in den vergangenen Nächten. Das geisterhafte Leuchten breitete sich über der Wasseroberfläche aus und tauchte die Meerjungfrau in ein unwirkliches Licht. Die schwarze Nacht brachte ihr den Gedanken zurück, dass es womöglich kein Morgen mehr gab. Langsam zog Siralen die Flöte aus dem Mund und stand auf.

„Oooch“, machte Kuhrn und schob schmollend die Unterlippe vor. „Wollt Ihr schon aufhören?“

Wahrlich, der Mann war mit Abstand der rückständigste in Taurons Mannschaft. Er redete, als müsste er sich jedes Wort erst ins Gedächtnis rufen.

„Es freut mich, dass Euch mein Spiel gefällt, aber es wird Zeit, dass ich mich zurückziehe.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, und die Piraten wünschten ihr eine gute Nacht und trollten sich. Als ihre Schatten in der Luke zu den Mannschaftsunterkünften verschwunden waren, steckte Siralen die Flöte in ihren Gürtel, schloss ihren gefütterten Umhang und schritt langsam über das Hauptdeck.

Das den natürlichen Gesetzen trotzende Leuchten des Meeres war wie eine Einladung, selbst ein Gesetz zu brechen. Ein einziges Mal unvernünftig, für einen Augenblick, na ja … menschlich zu sein. Auch wenn jedes Kind wusste, dass sich ein Mensch mit einem Elfen nicht befriedigend vereinen konnte. Die Seele bliebe dabei stets außen vor, denn eine unendliche konnte mit einer endlichen Seele kein Gemeinsames bilden. Beim Liebesakt blieb man unter seinesgleichen. Andererseits, es wäre eben genau das – nur ein Liebesakt. Nicht die Liebe selbst. Nur eine Nacht …

„Wir werden alle sterben …“

Wie unvermeidlich hielt sie auf die Tür zur Steuermannskajüte zu, hinter der die Tür zur Kapitänskajüte lag. Sie sah Tauron vor sich – sein von der salzigen Meeresluft gebleichtes, zerzaustes Haar, die Bartstoppeln auf seinen Wangen, den Schalk in seinen Augen und die von der Arbeit auf seinem Schiff rauen, kräftigen Hände. Sie sah all das, lange bevor sie an seine Tür klopfte.

***

In der Kapitänskajüte der Schwarzer Falke herrschte eine schummrige Atmosphäre. Es brannten allein die Kerzen auf dem gusseisernen Leuchter, der von einem Balken in der Mitte der geräumigen Kabine hing. Der schwere Kartentisch unter den vier hohen Heckfenstern war aus Ebenholz gefertigt, ebenso der dazugehörige Sessel. Seine Rückenlehne war mit eindrucksvollen Schnitzereien von nackten, ineinander verschlungenen Frauenkörpern geschmückt.

Tyrean Kristofin liebte dieses Bildnis, wenn er auch nicht behaupten konnte, dass er eine Neigung dazu hatte, Frauen dabei zuzusehen, wie sie es miteinander trieben. Er hatte aber auch keine Abneigung dagegen. Ihm war wohl bewusst, dass ihm voyeuristische Tendenzen innewohnten, die in alle erdenklichen Richtungen gingen. Aber sie drehten sich eher selten um den sexuellen Akt. Leider ging mit seinem Voyeurismus die Tatsache einher, dass, hatte er eine Sache erst eingehend studiert, ihm diese schnell langweilig wurde. Der Sessel, den er sich von einem tremonischen Tischler hatte fertigen lassen, war ihm nie langweilig geworden. Vielleicht, weil er einen rein ästhetischen Wert hatte und die wahre Ästhetik jeden Augenblick überdauerte. Dieser Sessel war schlicht vollkommen. Der Goldene Schnitt fand sich in jedem kleinen Detail, jeder Frauenkörper war perfekt herausgearbeitet und von anmutiger Schönheit, und die Ausgewogenheit der Bildelemente erzeugte beinahe orgastische Gefühle in ihm.

Das war eine Lüge. Sie hätte es vielleicht, wäre er der leidenschaftliche Typ, was er definitiv nicht war. So aber konnte er zumindest erahnen, was sich in Geist und Seele eines exzentrischen Künstlers abspielte, während er ein solches Werk hervorbrachte.

Ranchel konnte die Wahrnehmung eines Künstlers schon viel eher nachvollziehen. Sie war ganz und gar exaltiert und hatte auch mehrfach bewiesen, dass sie alle Arten sexueller Ausschweifungen gerne hatte und gerne sah. Es war genau das, was ihn irritierte. Einerseits schätzte er es, andererseits störte es ihn in seiner eigenen, recht klar strukturierten Welt, in der Exzesse einen unschönen Riss hinterließen. Gut an Ranchel war, dass sie neben ihren Ausschweifungen auch ganz still, kontrolliert und überlegt sein konnte, wenn es die Situation erforderte. Nur deshalb konnte er überhaupt so eng mit ihr zusammenarbeiten.

Seine Gefährtin saß nun schon seit geraumer Zeit schweigend auf einem der sechs Stühle an der kleinen Speisetafel, das Kinn in ihre schmale Hand gestützt, und stierte auf die Maserung der Tischplatte. Was sie darin sah oder las, wollte er nicht wissen.

Tyrean saß entspannt in seinem Sessel und beobachtete sie. Ranchel war perfekt – als Gefährtin, als Mitstreiterin, als Partnerin bei seiner schicksalsträchtigen Suche, oder besser, Jagd. Trotzdem schlug er ihr die Tür vor der Nase zu, sobald sie versuchte, sich in seine privaten Kammern zu stehlen. Sie war ihm dort nicht willkommen. Niemand würde dort je willkommen sein. Nicht mehr. Vielleicht lag es daran, dass er ein Ästhet war. Ästheten suchten immer nach dem Vollkommenen und es war offensichtlich, dass es das Vollkommene in einer Welt wie dieser nicht gab. Vielleicht war er auch ein Ästhet im pervertierten Sinne, wie man es ihm gerne vorwarf. Und das Schöne im Hässlichen fand man bekanntlich noch viel weniger leicht, als das Schöne im Schönen. Oft gefielen ihm Dinge, die niemandem sonst gefielen – zum Beispiel der aschranische Webteppich, der sich über fast den ganzen Kajütenboden ausbreitete. Er war schwarz … natürlich war er schwarz. Nahezu alles, was er besaß, war schwarz. Das Schwarz war für ihn die adäquateste Leinwand, um dem Gestaltungstrieb freien Lauf zu lassen. In der Dunkelheit konnte man besser träumen, nachts hatte man die verrücktesten Ideen, weil der Verstand träge wurde und die Kreativität der gefühlten Gedanken erwachte, im Schatten lauerten Gestalten, die noch keine endgültige Form besaßen, aber sie waren da. Schwarz war die dankbarste Leinwand. Weiß war erschütternd nüchtern. Weiß war neu und noch gar nichts. Schwarz war alt und alles. Sein Teppich war schwarz. Da waren winzige Dreiecke, Quadrate, Kreise … und er sah noch tausend andere Symbole in ihm. Er sah Perfektion darin, sah seine Pläne und Ziele, sah das, was SIE in sich trug und was es mit ihm machen würde, wenn er es erst hatte. Sogar das Sandkorn selbst sah er in all diesen klaren, statischen Formen – obwohl es ganz und gar ein organisches, weiches, lebendiges Wesen war.