Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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Nachdem van de Drakeen zur Seite getreten war, setzte Al’Jebal seine Ansprache fort: „General Göttrik van de Drakeen hat die Allianzarmee zum Sieg geführt. Doch den Weg zum Sieg ebneten diejenigen, die der Armee vorausmarschierten.“ Al’Jebals Hand glitt erneut zur Seite. „Die Speerspitze der Allianz!“

Wie mechanisch machte Siralen einen Schritt nach vorne. Ebenso wie Lucretia, Telos, Chara und Storn.

„… darunter der Kommandant des Bataillon D’Amur, Anduin Storn und die Kommandantin der Elfen Siralen Befendiku Issirimen Desin Suren Illju Kogena Senambra.“

Das war ihr Stichwort, wenn auch ein reichlich langes. Agem Ill schenkte Siralen einen respektvollen Blick, als er ihr die Hand reichte und ihr gratulierte. Ein Orden wurde ihr nicht umgehängt, worüber sie nicht unglücklich war. Sie gehörte ja auch nicht zum Kommando der Speerspitze.

Nachdem auch Anduin Storns Leistung mit einem Handschlag gewürdigt worden war, erklang erneut tosender Applaus, in den sich der eine oder andere eifrige Zuruf seitens Storns Bataillonskrieger mischte.

„Die Kommandanten der Speerspitze!“, kam Al’Jebal auf den Rest der Ehrengäste zu sprechen.

Siralen wandte sich um und sah, wie sich Lucretia nervös ihren Rock zurechtzupfte, den Kopf in den Nacken warf und zusammen mit Telos an die Seite des Allianzsprechers trat. Danach wurde es still und alle Augenpaare richteten sich auf Chara. Die Assassinin hatte sich nicht von der Stelle bewegt.

Al’Jebal drehte sich um. Die Flamme einer der Fackeln an der Rückwand knackte laut. Chara sah ihren Namai an. Der Namai musterte seine Assassinin. Schließlich zog Chara die Hände aus den Manteltaschen und bezog neben Telos Position. Sofort nahmen die beiden goygoischen Krieger sie in ihre Mitte und präsentierten demonstrativ ihre primitiven Stabkeulen.

„Telos Malakin, Oberhohepriester des Agramon“, setzte Al’Jebal ohne Umwege fort, „Schlächter von Urdhaven!“

Telos’ Gesicht blieb ohne erkennbare Regung, als er den Orden und den Applaus entgegennahm, der ihm von unterhalb der Bühne entgegendonnerte. Erst als sich die Stimmen seiner Glaubensanhänger aus der Menge erhoben und ihm zujubelten, erlaubte er sich ein bescheidenes Lächeln.

„Telos Malakin hat mehrfach bewiesen, dass er ein würdiger Vertreter Agramons ist“, warf Al’Jebal in die Menge. „Für seine Leistungen und seinen Einsatz im Kampf gegen Caeir Isahara, verleihe ich ihm den Titel Held der Allianz.“

Jetzt stand Telos der Stolz ins Gesicht geschrieben, und selbst Siralen freute sich für ihn, obwohl sie den Oberhohepriester kaum kannte. Dies hier war ein Zeremoniell, wie es den Menschen allzu eigen war. Und doch, die Euphorie und die Zuversicht, die alle Anwesenden ausstrahlten, mussten selbst das Herz einer Eisskulptur zum Schmelzen bringen. Allerdings stand die Freude in kaum einem der Elfengesichter zu lesen, und einen Lidschlag lang bedauerte Siralen diese Tatsache.

„Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto!“, fuhr Al’Jebal fort. „Sie hatte das Kommando über die Schlacht in Cunair Tarr. Ihre magischen Fähigkeiten ermöglichten es dem Allianzheer, die Tür nach Isahara zu öffnen. Sie ist der Schlüssel zu Caeir Aun’Isahara. Und eine Heldin der Allianz.“

Lucretias Wangen waren feuerrot, als sie unter allgemeinem Applaus von Agem Ill ihren Orden um den Hals gelegt bekam und sich neben Telos stellte.

Es wurde wieder still und die Blicke wanderten erneut zu Chara. In vielen der Gesichter zeichneten sich stumme Fragezeichen ab. Warum ist ausgerechnet eine Assassinin unter den Würdenträgern?

Einen Moment lang schien Charas steinerne Miene in Bewegung zu geraten. Doch das war ein Trugschluss, der wohl dem flackernden Licht der Fackeln und Feuerschalen geschuldet war.

„Chara Pasiphae-Opoulos!“, entließ Al’Jebal den Namen der Assassinin schnörkellos in die Menge und seine Hand wies kaum merklich in ihre Richtung. „Das Sandkorn auf der Schicksalswaage.“

Ein leises Raunen ertönte im Saal. Getuschel hob an, verebbte aber sofort wieder, als Al’Jebal fortsetzte: „Der Krieg gegen Caeir Isahara hat ihr die Namen Verteidigerin von Cunair Tarr und Todesverächterin eingebracht. Unter ihrem Kommando gelang es der Speerspitze, in die Festung Isahara einzudringen und dem Allianzheer auf diese Weise Zutritt zu verschaffen. Ihrer Entschlossenheit und ihrer Vorgehensweise ist es zu verdanken, dass eine uneinnehmbare Festung einnehmbar wurde. Auch ihr verleihe ich heute den Titel Heldin der Allianz.“

Der Applaus kam reichlich verhalten. Doch nach und nach wurde er lauter und am Ende war überdeutlich, dass es keine Rolle spielte, was Chara war. Es zählte nur noch, was sie geleistet hatte. Jedenfalls für den Augenblick.

Chara erhielt ihren Orden nicht von Agem Ill, sondern von Assef El’Chan. Als er ihr gegenübertrat und ihr das Allianzwappen um den Hals legte, ging ein stummer Blickwechsel zwischen den beiden vonstatten, den Siralen nicht deuten konnte. Es entging ihr allerdings nicht, dass Chara den Orden umgehend unter ihrem schwarzen Hemd verschwinden ließ.

„Der Krieg hat begonnen“, setzte Al’Jebal fort. „In den nächsten Tagen wird eine Flotte aus Tamang aufbrechen. Sie wird sich auf eine Expedition begeben, deren Ziel es ist, weitere Verbündete zu finden und den Sieg der Allianz in diesem Krieg zu sichern.“

Schlagartig wurde es unruhig unterhalb des Podiums. Expedition? Mit welchem Ziel? Hatte Al’Jebal nicht längst alle Winkel Amaleas nach Verbündeten abgesucht?

„Die Helden der Allianz werden diese Expedition anführen“, fuhr Al’Jebal fort und die Menge verstummte. „Wenn es ihnen gelingt, sie zum Erfolg zu führen, wird Amalea einer neuen Zukunft entgegenblicken können. Unser Schicksal liegt in ihren Händen. Während sie fort sind, werden wir kämpfen und auf ihre Widerkehr warten. Möge die Zukunft unter dem Zeichen der Allianz stehen!“

Noch während Siralen darüber nachdachte, wie wahrscheinlich es wohl war, dass sie den Großen Abgrund überwinden würden – eine Tatsache, die Al’Jebal wohlweislich verschwiegen hatte – nahm der Sprecher der Allianz sie und die anderen Helden ins Visier.

„Einer von uns sollte etwas sagen“, murmelte Lucretia aufgeregt. „Wie wäre es mit dir, Chara? Immerhin bist du das Sandkorn, was auch immer das heißen mag …“ Sie verstummte und ihr Ausdruck wurde demonstrativ, woraufhin auch Al’Jebal Chara fixierte.

Die Geste reichte, um die Assassinin in Bewegung zu versetzen. Sie trat zwischen Al’Jebal und Assef El’Chan an den Rand der Tribüne und taxierte die Gesichter in der Menge.

„Richtig … ich sollte etwas sagen. Immerhin bin ich jetzt eine Heldin“, begann sie und ein paar Matrosen beugten sich unwillkürlich nach vorne. „Ich glaube, ich habe euch noch nicht erzählt, dass man mich unter anderem auch Chaosbringerin nennt.“

Wieder schwoll ein Raunen an und finstere Blicke schossen in Richtung Bühne. Chara schien die Entrüstung regelrecht willkommen zu heißen. Aller Erwartung zum Trotz lag der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen.

„Namen …“, setzte sie leise fort. „Sie sind so bedeutungslos wie ich und jeder einzelne der hier Anwesenden, der etwas bedeuten will. Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Wir sind nur aus einem Grund hier: Wir erfüllen einen Zweck. Und nur solange wir einen Zweck erfüllen, haben wir das Recht, überhaupt hier zu sein. Die kommende Expedition entscheidet alles. Jeder von euch, der mehr sein will als ein bloßer Name, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieser Mission anzuschließen. Wir brauchen jeden einzelnen, der mit Mut und vor allem Rückgrat ausgestattet ist. Denn …“, sie trat noch einen Schritt nach vorne, „… scheitert diese Mission, wird Amalea untergehen.“

Die Mienen der Zuhörer reichten nun von Missachtung, über Besorgnis bis hin zu Neugier. Siralen spähte zu Al’Jebal. Der Begründer der Allianz hatte Chara im Blick, wirkte aber weder beunruhigt, noch zornig. Und doch hatte Chara gerade seine Rede in Frage gestellt. War ihr das bewusst? Sie sah nicht danach aus. Vielmehr vermittelte sie den Eindruck, als hätte sie sich gerade freigeredet. Als wäre sie für einen vergänglichen Augenblick nicht Al’Jebals Assassinin, sondern einfach nur Chara – eine Frau, die sagte, was sie dachte, ohne an die Konsequenzen zu denken.

Chara fuhr sich über ihr schwarzes Stoppelhaar und verlagerte ihr Gewicht von einem auf das andere Bein.

„Alles, was sich die Allianz bis jetzt aufgebaut hat, wird null und nichtig sein, wenn diese Mission scheitert. Alles, was sich die Allianz bis jetzt aufgebaut hat, wird Sinn ergeben, wenn sie erfolgreich ist. Diejenigen unter uns, die leben und für den Sieg der Allianz kämpfen, werden fortleben, wenn wir erfolgreich sind. Diejenigen unter uns, die leben und für den Sieg der Allianz kämpfen, werden sterben, wenn wir scheitern. Ist die Mission erfolgreich, gibt es eine Zukunft für die Allianz. Scheitern wir, stirbt unser Gestern, unser Heute und unser Morgen.“

Sie verstummte und steckte ihre Hände zurück in ihre Manteltaschen. Niemand regte sich.

„Im Namen des hier anwesenden Expeditionskommandos fordere ich euch dazu auf, euch für die kommende Mission freiwillig zu melden!“

Damit kam Chara abrupt zum Ende. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und kehrte an ihren Platz in der Reihe zurück.

Siralen runzelte die Stirn. Die Assassinin hatte in ihrer Rede so ziemlich jeden diplomatischen Missgriff begangen, der ihr einfiel. Doch eines konnte man nicht abstreiten – ihre Rede zeigte Wirkung. Sie wurde auf zweierlei Art honoriert: Mit einem tiefen, unangenehm berührten und zum Teil zornigen Schweigen auf der einen und jeder Menge neugieriger Blicke auf der anderen Seite. Schwer zu sagen, wer welcher Seite angehörte.

 

Schließlich übernahm erneut Al’Jebal das Wort und änderte damit binnen eines Herzschlags die Stimmung im Saal. „Die Feier ist eröffnet!“

Ein Tanz

„Seid Ihr Euch gewiss, dass Ihr die richtige Wahl getroffen habt?“

Der Elfenkönig stand an einem stillen Platz hinter zwei Säulen und griff nach einem Glas, das ihm auf einem Tablett dargeboten wurde. Kein Wein, nur Wasser …

„Ja“, erwiderte Al’Jebal.

„Es ist gefährlich, auf dem Fundament menschlichen Makels sein Haus zu bauen, Al’Jebal. Ihr nutzt ihre Schwäche, um daraus Stärke zu beziehen. Ihr wisst, dass sie schwach ist, dass sie ihrer selbst nicht Herr ist und mehr als wir es hier und jetzt berechnen könnten, die Ordnung aus dem Gleichgewicht bringen kann. Man benutzt kein Schwert dafür, um ein Schwert zu zerschlagen. Dafür braucht es einen Hammer.“

In einfachen Worten, man kann dem Chaos nicht mit dem Chaos zu Leibe rücken. Al’Jebal blickte über das Meer aus Gästen und erspähte die schwarze Silhouette unweit des Haupteinganges. „Es gibt zwei Möglichkeiten, ein Feuer zu löschen. Entweder erstickt man es, oder man lässt seine Flammen lodern, bis da nichts mehr ist, das noch brennen könnte. Der Vorteil an Letzterem ist, dass danach keine Glut mehr Funken schlagen wird.“

„Eine gefährliche Strategie. Feuer mit Feuer bekämpfen …“

„Ihr habt Eure Wege, ich meine. Und was die kommende Mission angeht, haben wir eine Übereinkunft getroffen. Ich spiele meine Figur aus, Ihr die Eure. Niemand von uns hat etwas zu verlieren.“

Das leere Glas des Elfenkönigs landete auf einem vorbeischwebenden Tablett. „Wir werden sie im Auge behalten.“

„Das ist mir bewusst.“

„Und Lucretia L’Incarto, Telos Malakin?“

„Werden ihren Dienst an der Sache tun.“ Al’Jebal sah in die mandelförmigen Augen, die ihn aufmerksam musterten. „So wie Siralen.“

Der Elfenkönig nickte. „Der Oberste der Lichtjäger hat sich freiwillig gemeldet, um an der Expedition teilzunehmen.“

„Gut.“

„Dann lasst uns die Geschäfte vergessen und das Leben zelebrieren.“

Über Al’Jebals Lippen ging ein flüchtiges Lächeln. Wir feiern das Leben gerne dann, wenn der Tod vor der Tür steht.

Es herrschte ein stimmungsvolles Treiben auf dem Platz zwischen den Säulengängen. Gemurmelte Gerüchte, energische Diskussionen, freundliche Zugeständnisse, düstere Zukunftsvisionen und oberflächliches Geplänkel zersprengten den Saal in kleine Inseln der Eintracht. Darüber hingen kleine Aroma-Wölkchen der Gerüche aller dargebotenen Speisen, dezent durchwirkt von zarten Parfum-Fäden, die den Duft nach Rosen, Lavendel, Orange, Zedernholz oder anderen ätherischen Ölen verströmten.

Chara hatte sich einen Weg durch die Menge an die lange Tafel gebahnt. Dort, nahe der Doppelflügeltür, bediente sie sich an den in verschwenderischer Vielfalt und Menge aufgetragenen Speisen. Mit einer gegrillten Lammkeule in Honigkruste und einem Brotfladen verschwand sie schließlich im Schatten eines Winkels. Sie zog sich den Mantel von ihren Schultern und warf ihn über eine Brüstung. Während sie, eingekeilt zwischen den Dad Siki Na, den Knochen abnagte, beobachtete sie das Treiben im Saal.

Die Elfen waren überraschend zugänglich und hatten sich weitestgehend unter die Menschen gemischt, ebenso wie die Zwerge, von denen sich eine Gruppe Krieger um den Kommandanten der KEZS, Jagan Kerme, drängten. Der schwule Elite-Zwergen-Söldner trug ein schmuckes Wams, über dem in auffallender Prägnanz die Kette mit den getrockneten Elfenohren baumelte. So gesehen war es das reinste Wunder, dass das unsterbliche dem kleinen Volk mit einem derartigen Gleichmut begegnete. Manche von ihnen hatten sich wohl an Kermes Aufmachung gewöhnt, die anderen waren wahrscheinlich von ihren Vertretern in der Allianz dazu aufgerufen, jeglichen Konflikt zu vermeiden. Einer dieser Vertreter unterhielt sich gerade mit dem Mann, dem Chara bis jetzt aus dem Weg gegangen war.

Ihr war sofort aufgefallen, dass Al’Jebal auf seine Magierrobe verzichtet und sich stattdessen einmal mehr in Schwarz gekleidet hatte. In die Kragenspitzen seines knielangen Mantels war sein Emblem, der Silberstern, genäht. Zum zigsten Mal an diesem Abend dachte Chara an den gestrigen Morgen, als sie nach schicksalsschwerer Nacht mit Lomond ihr Zimmer betreten hatte und ihr Augenlicht in einem Meer aus weißen Rosen ertrunken war. Erneut sah sie den aus dem nahtlosen Weiß blitzenden schwarzen Punkt, spürte den Stich in ihrem Herzen, als sie sah, was Al’Jebal auf ihrem Tisch hinterlassen hatte und alle weißen Rosen dieser Welt null und nichtig machte.

Die schwarze Rose – eine Erinnerung daran, wer sie wirklich war und wohin sie gehörte.

Chara schielte auf die Dornenranken, die sie sich in Erainn auf ihre Unterarme hatte tätowieren lassen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass sich die weiße Blüte öffnete, hätte verhindern müssen, dass ihr Verlangen sich Bahn schlug. Stattdessen hatte sie Lomond an sich herangelassen, hatte ihm ihr Herz und ihren Kopf geöffnet. Damit war sie nicht länger eine Unberührte, nicht länger die Ibaħie, die sie für immer hätte bleiben müssen, nicht länger samit und damit stumm.

Aus dem an und für sich nihilistischen Grundsatz der Hatschmaschin gebar sich die alles umfassende Erkenntnis, dass nichts, abgesehen von dem Willen des Meisters, in dieser Welt bewahrt, geschützt oder erreicht werden musste. Dies war das Fundament der Mulħad, der gottlosen Krieger, wie auch sie einer war. Wenn ein Mulħad damit begann, einem anderen als dem Namai irgendeine Bedeutung beizumessen, was zwangsläufig passierte, sobald man etwas oder jemanden begehrte, brach er mit der Inneren Lehre, dem Bathir, dessen Bedeutung den meisten schon bei ihrer Geburt eingebläut wurde. Genau das war mit ihr geschehen. Und Lomond hatte sie auf diesen Weg geführt. Dabei konnte sie ihm kaum einen Vorwurf machen. Er war nur seinem tierischen Instinkt gefolgt, hatte sich geholt, wonach es ihm, einem lebendigen Toten, verlangte.

Selbst jetzt spürte Chara seine Berührungen noch, fühlte sie ihn noch in sich. Beim Gedanken an das, was er mit ihr gemacht hatte, zog sich eine Gänsehaut über ihre Arme und verlieh den Dornenranken eine anschauliche Plastizität.

Chara stellte den Teller mit den abgenagten Knochen auf der Tafel ab, ließ sich ein Tuch reichen, säuberte ihre fettigen Finger und lehnte sich erneut an die Wand. Al’Jebal unterhielt sich noch immer mit dem Elfen. Der Fremde kehrte ihr den Rücken zu und war in feines Tuch gekleidet – hellgrau, mit silbernen Borten und Stickereien verziert. Sein braunes Haar fiel ihm wie ein zahmer Wasserfall über die Schultern. Alles an ihm schrie nach einem Mann von hohem Amt oder Status.

Als sich Chara gerade dazu entschloss, die Feier besser früher als später zu verlassen, erspähte sie einen Schatten neben einer der Säulen. Kerrim. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dass sie den Kollegen mit dem verschmitzten Grinsen nicht gesehen hatte. Mit Unbehagen erinnerte sie sich an den Streit, den sie bis heute nicht mit ihm bereinigen konnte. Vor einigen Monden in Isahara …

Ihr sagt mir nichts. Ihr verschweigt mir alles. Und ich dachte, Ihr seid ein Freund. Das waren ihre letzten Worte gewesen. Danach war Kerrim gegangen und seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.

Kerrim sah aus, als würde er sich langweilen. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er an der Säule, rauchte ein Hatschmana-Pfeifchen und spähte lustlos in die Menschenmenge. Andererseits wusste man nie so genau, was sich tatsächlich in ihm abspielte. Möglicherweise amüsierte er sich gerade köstlich oder war darin vertieft, irgendjemanden auszuspionieren.

Kurz entschlossen drückte sich Chara von der Wand ab und schlenderte, Nok und Iti im Schlepptau, auf ihren Kollegen zu.

„Alles klar?“, fragte sie.

„Eh Chara.“ Er schenkte ihr ein abgerissenes Lächeln. „Fertig mit Essen?“

Aha. Er hatte sie längst gesehen. Wieso war er nicht zu ihr gekommen?

„Werdet Ihr uns auf die Expedition begleiten?“, fragte sie geradeheraus.

Kerrim nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Bittet Ihr mich etwa gerade żu kommen mit?“

„Ich bitte nicht.“

„Dachte ich mir.“ Er kniff ein Auge zusammen. „Um żu sain ehrlich, ich ħabe gepackt längst maine Sachen. Ohne mich wärt Ihr ja ganż und gar geschmissen auf.“

„Wahrscheinlich bereue ich schon morgen, dass ich Euch gefragt habe.“ Chara lehnte sich neben ihn, und ein kleiner Rauchkringel aus seiner Pfeife sprang ihr ins Gesicht.

„Wahrschainelich.“

„Tut mir leid, Kerrim …“ Sie holte tief Luft. „Ich meine, das in Isahara.“

Eine Weile musterte er sie nur. Dann machte er eine wegwerfende Geste, wobei er den halben Pfeifenkopfinhalt über den Boden verstreute. „Vergessen wir das.“

„Wirklich?“, bohrte sie nach. „Ihr habt Euch von mir ferngehalten … seit dieser Sache.“

„Ihr ħabt gesagt, Ihr würdet mir nicht vertrauen. Darum ħab ich mir gedacht, besser, ich gehe Euch aus dem Weg.“

Es ging also um Vertrauen … „Ich traue Euch mehr als jedem anderen. Mal abgesehen von Al’Jebal.“ Das war nichts als die Wahrheit.

„Das freuhet mich.“

Es klang ehrlich und Chara sprach aus, was sie längst dachte: „Ich bin Chara. Nenn mich bei meinem Namen, Kerrim. Wir kennen uns lange genug.“

Ein schiefes Grinsen schob sich zwischen seine Lippen. „Ist mir aine Ehre. Ich ħaisse Kħerrim. Schätze, das hast du schon gewusst.“

Chara lächelte. Sie war froh, die Angelegenheit geklärt zu haben. Gerade wollte sie sich zu einem kleinen Drogenpfeifchen verhelfen, da richtete sich Kerrim unerwartet auf.

„Äh … glaube, ich lasse dich besser allaine jetżt.“

Chara folgte seinem Blick. Verdammt.

Durch die Menge hielt ein dunkelhaariger Mann in grauen weiten Hosen und enger, ärmelloser Tunika auf sie zu. Und noch während sie das bleiche Gesicht unter den ungezähmten Haarsträhnen suchte, legte das sanfte Pochen ihres Herzschlags ein leises Trommelwirbelsolo hin. Ein Lufthauch streifte ihren Arm, als der Mann Kerrims Platz an der Säule einnahm.

„Ich möchte mit dir tanzen“, glitt die Stimme über ihre Wange, die ihr vor Kurzem noch anzügliche Worte zugeflüstert hatte.

„Ich kann nicht tanzen“, warf sie lieblos zurück und suchte in der Menge nach Al’Jebal. Er war verschwunden.

„Da habe ich etwas anderes gehört. Man erzählt sich, du hättest mit deinem Namai getanzt.“ Er stützte sich mit der Hand an der Säule ab, blickte ihren Körper entlang und hob eine Braue. „Allerdings hast du damals ein Kleid getragen.“

„Gerüchte …“, schlug sie einen lockeren Plauderton an und ignorierte die Tatsache, dass sie zwischen dem MacDragul und der Säule in ihrem Rücken festsaß.

Lomonds Blick schnellte zu ihren Augen zurück. „Ach ja?“ Sein Gesicht rückte ein Stück näher. Kein Kuss von seinen Lippen … Es war sein Atem, der sie küsste.

„Deine Rede war … interessant“, wechselte er das Thema. „Ich könnte mir vorstellen, dass die kommende Expedition alles Mögliche für dich bereithält, nur nicht das, was du dir erwartest. Du solltest ein wenig Spaß haben, solange du noch kannst.“

„Tanzen ist für mich kein Genuss“, erklärte sie frostig.

„Du hast noch nie mit mir getanzt.“

Wahr. Und um ehrlich zu sein, war sie drauf und dran, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Hier stand Lomond – gestaltgewordene Versuchung. Der Schatten des Todes in seinem Gesicht, das Feuer des Lebens in seinen Augen. Lomond war der lebendigste Tote, der ihr je begegnet war. Und in ihr begehrte alles auf, das leben wollte. Sie wollte ihre eiserne Selbstkontrolle gegen die Wand schmettern und ihr dabei zusehen, wie sie in tausend Splitter zerbarst.

Die schwarze Rose drängte sich vor ihr inneres Auge und schottete das charismatische Gesicht des MacDragul ab. Doch da fasste Lomond sie an der Hand, zog sie auf die Tanzfläche und das Bild der Rose verpuffte.

„Loslassen!“, zischte sie ihn an.

„Das wollte ich dir auch gerade empfehlen.“

Als sie die Tanzfläche erreicht hatten, drehte er sie zu sich herum, packte ihre Hüften und zog sie an sich. Sein Herz klopfte gegen ihres. Langsam schob er seine Hände auf ihre Lendenwirbel und presste ihren Unterleib gegen seine Mitte.

„Spürst du das, Chara?“, flüsterte er. „So fühlt es sich an, wenn ich loslasse. Wenn du loslässt, ist es einfach … köstlich. Weißt du, wie du riechst?“

„Will ich nicht wissen“, presste sie hervor und wich seinem Blick aus.

„Ich sag’s dir trotzdem. Du riechst nach Feuer, nach Geburt und Leben … Du riechst so heiß, dass ich allein bei deinem Geruch in Ekstase gerate. Ich will dich noch immer, Chara. Noch mal. Bevor es für eine sehr lange Zeit zwischen uns vorbei sein wird …“

 

„Ich kann nicht.“

„Du hast es bereits getan. Tu es noch einmal. Tu es für dich.“

Hätte sie nicht gewusst, dass es keine Selbstgefälligkeit war, die ihn solche Dinge sagen ließ, sie hätte ihm eine übergezogen und wäre abgehauen. Stattdessen ließ sie es zu, dass Lomond ihren Mundwinkel küsste. Seine Hände auf ihrem Rücken glitten nach unten, wanderten über ihren Hintern, bis sie sich fest um ihre Schenkel schlossen. Sie spürte seine Finger zwischen ihren Beinen.

„Lomond …“

„Ich bin hier“, flüsterte er. Ungeniert schob er seine Hände unter ihr langes schwarzes Seidenhemd und strich über ihren Bauch nach oben. Seine Linke schloss sich um ihre Brust. Die andere Hand glitt zurück auf ihren Rücken, presste sie fester an sich … entlockte ihm ein leises Stöhnen.

„Wie kann es sein, dass du etwas fühlst, wenn du doch eigentlich tot bist?“, flüsterte sie an seinen Lippen.

„Ich bin nicht tot, Chara. Ich bin untot.“ Er nahm ihre Hand und schob sie unter sein Hemd bis hinauf zu seinem Herzen. „Spürst du das?“

Na sicher.

„Mein Herz schlägt. Nicht so laut wie deines natürlich.“ Er lächelte. „Aber es schlägt. Meine Haut ist warm, nicht kalt wie gefühlloser Stein. Mein Atem wird schneller … Du weißt, dass er schneller werden kann. Es spielt keine Rolle, wie tot ich bin, wenn es das Leben ist, das über mich bestimmt. Die Frage ist, was muss passieren, dass ich zum Leben erwache?“

Sein Lächeln verschwand, als hätte es ein Windstoß fortgetragen. „Viel“, zischte er. „Es muss verdammt viel passieren, dass mein Herz schlägt wie deines und meine Haut so warm wie deine wird, dass ich atme oder schneller atme als ein Schlafender.“

Seine Finger legten sich um ihren Nacken.

„Verstehst du, was ich dir sage?“

Verstand sie es? Sie war sich nicht sicher. Wie sollte sie sich auch auf seine Worte konzentrieren, wenn er nicht damit aufhörte, ihren Körper in einen brodelnden Vulkan zu verwandeln?

„Ich glaube …“ Sie hatte noch nicht zu Ende geredet, da waren seine Lippen wieder auf ihren, und diesmal war sein Kuss nicht fordernd, sondern wie der erste Atemzug nach einem drohenden Erstickungstot. Als er seine Hand unter ihrem Hosenbund nach vorne schob und kurz davor war, sie in Besitz zu nehmen, sagte sie: „Gehen wir.“

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf ihr Gesicht und Lomond zog seine Hände zurück. Ein Schritt und er befand sich in einem sittsamen Abstand zu ihr.

„Wollt Ihr mit ihr sprechen?“, fragte er gelassen, noch bevor er die Gestalt sah, die sich ihm von hinten genähert hatte.

Chara sah die beiden silbernen Sterne aufblitzen und biss sich auf die Lippe.

„Nein, mit Euch“, antwortete Al’Jebal. Der Vampir blickte zur Seite und nickte knapp. „Gut. Wir sehen uns, Chara.“ Ein letztes lomondsches Lächeln. Dann verschwand er zusammen mit dem Namai in der Menge.