Jack London – Gesammelte Werke

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»Was hat Jim Han­ford im Sinn? Wel­ches Pro­gramm ha­ben sei­ne Leu­te mit mei­nen zu­sam­men auf­ge­stellt? Sie wis­sen, dass ich ihn be­sie­gen wer­de; und er selbst weiß es auch. Ich kann ihn in ei­nem ein­zi­gen Kampf ab­tun. Aber er ist Welt­meis­ter. Wenn ich nicht auf das Pro­gramm ein­ge­he, ge­ben sie mir nie Ge­le­gen­heit, mit ihm zu kämp­fen.

Das Pro­gramm sieht drei Kämp­fe vor. Den ers­ten soll ich ge­win­nen. Er fin­det in Ne­va­da statt, falls San Fran­zis­ko ihn nicht zu­lässt. Wir wer­den einen schö­nen Kampf vor­füh­ren. Da­mit es gut aus­sieht, wird je­der von uns zwan­zig­tau­send ge­gen den an­de­ren set­zen. Das ist ein an­stän­di­ges Geld, aber die Wet­te ist nicht an­stän­dig. Je­der be­kommt sei­nen ei­ge­nen Ein­satz wie­der. Und mit der Bör­se wird es eben­so ge­macht. Wir krie­gen je­der die Hälf­te, aber das Pub­li­kum glaubt, dass sie fünf­und­drei­ßig zu fünf­und­sech­zig ge­teilt wird.

Die Bör­se, die Tan­tie­me von den Fil­men, die Re­kla­me und alle an­de­ren Ein­nah­men wer­den nicht einen Cent we­ni­ger als zwei­hun­dert­fünf­zig­tau­send aus­ma­chen. Die tei­len wir, und dann kommt der Re­van­che­kampf, den Han­ford ge­win­nen wird, und dann tei­len wir wie­der.

Dann kommt der drit­te Kampf. Den ge­win­ne ich, was mein gu­tes Recht ist, und da­mit zie­hen wir dem Pub­li­kum drei­vier­tel Mil­lio­nen aus der Ta­sche.

Das ist das Pro­gramm, aber das Geld stinkt. Und das ist der Grund, wes­halb ich heu­te Schluss ma­che –« In die­sem Au­gen­blick puff­te Jim Han­ford eine Grup­pe Po­li­zis­ten zwi­schen die Sitz­rei­hen, hob sei­nen rie­si­gen Kör­per zwi­schen die Sei­le und brüll­te:

»Das ist Lüge!«

Wie ein wü­ten­der Stier stürz­te er sich auf Glen­don, der zu­rück­sprang und aus­wich, statt dem An­griff zu be­geg­nen. Au­ßer­stan­de, sich zu­rück­zu­hal­ten, prall­te der große Mann ge­gen die Sei­le, die ihn fe­dernd zu­rück­schleu­der­ten.

Wie­der ging er auf Glen­don los, der ihm aber dies­mal ent­ge­gen­trat. Kalt­blü­tig und mit si­che­rer Be­rech­nung schoss sei­ne Faust vor und traf mit ei­nem Schla­ge, in den er zum ers­ten Mal in sei­ner Bo­xer­lauf­bahn sei­ne vol­le Kraft leg­te, das Kinn Han­fords. Alle Kraft, über die er ver­füg­te, lag in die­ser zer­schmet­tern­den Muskel­ex­plo­si­on.

Han­ford war schon in der Luft tot, wenn man Be­wusst­lo­sig­keit Tod nen­nen will. In dem Au­gen­blick, als die Faust Glen­d­ons ihn be­rühr­te, hör­te das Le­ben für ihn auf. Sei­ne Füße ho­ben sich vom Bo­den, und er schweb­te frei in der Luft, bis er auf das obers­te Seil fiel. Ei­nen Au­gen­blick hing er da, dann gab das Seil nach, und er stürz­te den Pres­se­ver­tre­tern auf die Köp­fe.

Das Pub­li­kum tob­te. Es hat­te jetzt schon mehr ge­se­hen, als es für sein Geld ver­lan­gen konn­te, denn der große Jim Han­ford, der Welt­meis­ter, war be­siegt wor­den.

Al­ler­dings war es in­of­fi­zi­ell, aber es war durch einen ein­zi­gen Schlag ge­sche­hen.

Noch nie in der Ge­schich­te des Box­sports hat­te man so et­was er­lebt.

Glen­don be­trach­te­te be­dau­ernd sei­ne zer­schun­de­nen Knö­chel, warf einen Blick über die Sei­le hin­weg auf Han­ford, der ge­ra­de wie­der zu sich kam, und hob die Hand. Im Pub­li­kum trat wie­der Stil­le ein.

»Als ich mit Bo­xen an­fing«, sag­te er, »nann­te man mich den ›Ein-Schlag-Glen­don‹. Ihr habt den Schlag eben ge­se­hen. Die­ser Schlag stand mir stets zur Ver­fü­gung. Ich kämpf­te mit mei­nen Geg­nern und be­sieg­te sie, nahm mich aber stets in acht, dass ich nicht aus vol­ler Kraft schlug.

Dann soll­te ich be­lehrt wer­den. Mein Ma­na­ger sag­te, es sei un­recht ge­gen das Pub­li­kum. Er riet mir, die Kämp­fe in die Län­ge zu zie­hen, da­mit die Leu­te et­was für ihr Geld zu se­hen be­kämen.

Ihr er­in­nert euch an mei­nem Kampf mit Nat Po­wers. Ich habe ihn gar nicht be­siegt. Ich hat­te Ver­dacht ge­schöpft. Da ver­ein­bar­te es die Ban­de mit ihm.

Ich wuss­te nichts da­von. Ich hat­te die Ab­sicht, ihn noch ein paar Run­den über die sech­zehn­te hin­aus hin­zu­hal­ten. Aber er täusch­te doch einen Knock­out vor und be­trog euch alle.«

»Wie ist es denn heu­te?« rief ei­ner. »Ist es auch ver­ab­re­det?«

»Ja­wohl«, lau­te­te die Ant­wort Glen­d­ons. »Und wor­auf hat das Syn­di­kat ge­wet­tet? Dass Can­nam bis zur vier­zehn­ten Run­de durch­hält.«

Heu­len und Pfei­fen folg­te die­sen Wor­ten. Zum letz­ten Male hob Glen­don die Hand, um Schwei­gen zu ge­bie­ten.

»Ich bin gleich fer­tig. Aber erst möch­te ich euch noch ei­nes sa­gen. Das Syn­di­kat wird sich heu­te schnei­den. Es soll ein ehr­li­cher Kampf wer­den. Tom Can­nam wird nicht bis zur vier­zehn­ten Run­de durch­hal­ten. Er wird nicht die ers­te über­ste­hen.«

Can­nam sprang in sei­ner Ecke auf und rief wü­tend: »Das kannst du nicht. Der Mann ist noch nicht ge­bo­ren, der mich in ei­ner Run­de er­le­di­gen kann!«

Glen­don be­ach­te­te ihn nicht und fuhr fort: »Gera­de jetzt habe ich zum ers­ten Mal in mei­nem Le­ben mit vol­ler Kraft zu­ge­schla­gen. Ihr saht das vor ei­nem Au­gen­blick, als ich Han­ford traf.

Heu­te wer­de ich ein zwei­tes Mal mei­ne gan­ze Kraft an­wen­den – das heißt, wenn Can­nam nicht schleu­nigst durch die Sei­le springt und ver­schwin­det. So, und jetzt bin ich fer­tig.«

Er ging in sei­ne Ecke und hielt sei­nen Se­kun­dan­ten die Hän­de hin, um sich die Hand­schu­he an­zie­hen zu las­sen. In der ge­gen­über­lie­gen­den Ecke tob­te Can­nam, den sei­ne Se­kun­dan­ten ver­ge­bens zu be­ru­hi­gen ver­such­ten.

Schließ­lich glück­te es Bil­ly Mor­gan, sei­ne letz­te An­kün­di­gung zu ma­chen.

»Dies wird ein Kampf auf fünf­und­vier­zig Run­den«, rief, er laut. »Und möge der bes­te Mann sie­gen! Los!« Der Gong er­tön­te.

Die bei­den Män­ner rück­ten vor.

Glen­don streck­te die Rech­te aus, um mit sei­nem Geg­ner den üb­li­chen Hand­schlag zu wech­seln, aber Can­nam warf zor­nig den Kopf in den Na­cken und wei­ger­te sich, sie zu neh­men.

Zur all­ge­mei­nen Über­ra­schung stürz­te er sich nicht auf sei­nen Geg­ner. Trotz sei­ner Wut kämpf­te er sehr vor­sich­tig. Sein ge­kränk­ter Stolz sag­te ihm, dass er alle Kraft spa­ren müs­se, um über die ers­te Run­de hin­aus­zu­kom­men. Er mach­te zwar meh­re­re Aus­fäl­le, aber sehr vor­sich­tig und ohne auch nur einen Au­gen­blick sei­ne Ver­tei­di­gung au­ßer acht zu las­sen.

Glen­don jag­te ihn durch den Ring, im­mer wei­ter mit dem un­barm­her­zi­gen Tapp-Tapp sei­nes lin­ken Fu­ßes vor­rückend.

Aber nicht ein ein­zi­ges Mal schlug er nach sei­nem Geg­ner, ja, er ließ so­gar die Hän­de sin­ken und folg­te ihm, schein­bar un­ge­schützt, um ihn zu ei­nem An­griff zu ver­lo­cken.

Can­nam lach­te trot­zig, wei­ger­te sich aber, den ihm ge­bo­te­nen Vor­teil aus­zu­nut­zen.

Zwei Mi­nu­ten ver­gin­gen, dann er­folg­te plötz­lich eine Ver­än­de­rung mit Glen­don. Je­der Mus­kel, jede Li­nie sei­nes Ge­sichts zeig­te, dass jetzt der Au­gen­blick ge­kom­men war, da er sei­nen Geg­ner er­le­di­gen woll­te. Es war Spiel, und er spiel­te gut. Er schi­en zu Stahl ge­wor­den zu sein, zu har­tem, un­barm­her­zi­gem Stahl. Und die Wir­kung zeig­te sich bei Can­nam, der sei­ne Acht­sam­keit ver­dop­pel­te.

Glen­don trieb ihn je­doch schnell in eine Ecke und hielt ihn dort fest.

Aber er schlug im­mer noch nicht, ver­such­te es auch gar nicht, und Can­nams Un­ru­he wur­de im­mer schlim­mer. Ver­ge­bens ver­such­te er aus der Ecke hin­aus­zu­ge­lan­gen, konn­te sich je­doch nicht zu ei­nem An­griff auf sei­nen Geg­ner ent­schlie­ßen und ver­such­te statt des­sen, durch einen Clinch Zeit zu ge­win­nen.

Dann kam es – eine schnel­le Se­rie von Fin­ten, blitz­haf­te Mus­kel­be­we­gun­gen. Can­nam war ver­wirrt. Das Pub­li­kum eben­falls. Nicht zwei von den Zuschau­ern konn­ten spä­ter an­ge­ben, was vor­ge­gan­gen war. Can­nam duck­te sich vor ei­ner Fin­te und deck­te sich gleich­zei­tig das Ge­sicht, um eine an­de­re, ge­gen sein Kinn ge­rich­te­te Fin­te ab­zu­weh­ren. Er ver­such­te da­bei auch sei­ne Bein­stel­lung zu än­dern.

Die Zuschau­er, die nahe am Ring sa­ßen, schwo­ren dar­auf, ge­se­hen zu ha­ben, dass Glen­don den Schlag, der jetzt folg­te, von der Hüf­te aus führ­te und da­bei wie ein Ti­ger vor­sprang, um sein gan­zes Kör­per­ge­wicht in den Schlag zu le­gen.

Wie dem auch war, je­den­falls traf er Can­nam ge­ra­de in dem Au­gen­blick, als er die Stel­lung wech­sel­te, ge­gen das Kinn. Und wie Han­ford war auch er schon in der Luft, ehe er die Sei­le be­rühr­te, be­wusst­los und fiel den Re­por­tern auf die Köp­fe.

Von dem, was an die­sem Abend in der Gol­den-Gate-Are­na ge­sch­ah, ver­moch­ten selbst spal­ten­lan­ge Be­rich­te in den Zei­tun­gen kei­ne auch nur an­nä­hernd rich­ti­ge Schil­de­rung zu ge­ben.

Die Po­li­zei ver­moch­te ge­ra­de noch den Ring zu ver­tei­di­gen, konn­te die Are­na aber nicht ret­ten. Es war kein Aufruhr. Es war eine Or­gie. Nicht ein Sitz­platz blieb üb­rig. In der gan­zen großen Hal­le wur­den mit Hän­den und Fü­ßen, durch Püf­fe und Stö­ße Bal­ken und Bret­ter weg­ge­ris­sen, um­ge­stürzt und nie­der­ge­tre­ten.

Die Bo­xer muss­ten Schutz bei der Po­li­zei su­chen, aber es wa­ren nicht Po­li­zis­ten ge­nug da, und Bo­xer, Ma­na­ger und Un­ter­neh­mer wur­den win­del­weich ge­prü­gelt.

Nur Jim Han­ford wur­de ver­schont. Sein furcht­bar ge­schwol­le­nes Kinn er­reg­te Mit­leid.

Als die Men­ge end­lich zum Ge­bäu­de hin­aus­ge­trie­ben war, stürz­te sie sich auf ein neu­es Auto im Wer­te von sie­ben­tau­send Dol­lar, das ei­nem be­kann­ten Box­kamp­fun­ter­neh­mer ge­hör­te, und ver­wan­del­te es im Nu in al­tes Ei­sen und Brenn­holz.

 

Glen­don, der sich nicht in den Trüm­mern des An­klei­de­rau­mes um­zie­hen konn­te, er­reich­te in Box­ho­sen und Ba­de­man­tel sein Auto, aber es ge­lang ihm nicht, zu ent­kom­men. Die Men­ge um­ring­te sei­nen Wa­gen und hielt ihn dank der Über­zahl fest. Die Po­li­zei eil­te zu sei­nem Schutz her­bei, und schließ­lich schloss man einen Kom­pro­miss: Der Wa­gen durf­te wei­ter­fah­ren, be­glei­tet von fünf­tau­send hur­raschrei­en­den tol­len Men­schen.

Es war Mit­ter­nacht, als die­ser Sturm über die Uni­on Squa­re und durch die St. Fran­cis Street feg­te. Rufe nach ei­ner Rede wur­den laut, und ob­wohl sie schon vor dem Ho­tel hiel­ten, wur­de Glen­don doch in freund­schaft­li­cher­wei­se am Ent­kom­men ver­hin­dert. Er ver­such­te so­gar, sei­nen be­geis­ter­ten An­hän­gern auf die Köp­fe zu sprin­gen, aber sei­ne Füße er­reich­ten nicht das Pflas­ter. Von Köp­fen und Schul­tern ge­tra­gen, von je­der Hand, die ihn er­rei­chen konn­te, er­grif­fen, kehr­te er durch die Luft zu sei­nem Wa­gen zu­rück.

Da re­de­te er denn, und Maud Sangs­ter, die oben von ei­nem Fens­ter auf ih­ren jun­gen Her­ku­les hin­ab­sah, der auf­ge­r­eckt auf dem Sitz des Au­tos stand, wuss­te, was sie im­mer ge­wusst hat­te, dass es sein Ernst ge­we­sen war, als er ihr wie­der­um ver­si­chert hat­te, dass er sei­nen letz­ten Kampf ge­kämpft und den Ring für im­mer ver­las­sen hat­te.

Der Mexikaner Felipe Rivera

I

Nie­mand kann­te sei­ne Ge­schich­te – sei­ne Mit­ver­schwo­re­nen am al­ler­we­nigs­ten. Er war ihr »klei­nes Ge­heim­nis«, ihr »großer Pa­tri­ot«, und auf sei­ne Wei­se ar­bei­te­te er eben­so­sehr an der kom­men­den me­xi­ka­ni­schen Re­vo­lu­ti­on wie sie. Es dau­er­te lan­ge, bis sie das er­kann­ten; denn nicht ei­ner in der Jun­ta konn­te ihn lei­den. An dem Tage, als er zum ers­ten Mal ihre von ge­schäf­ti­gen Men­schen über­füll­ten Räu­me be­trat, hat­ten ihn alle im Ver­dacht, ein Spi­on – ein Spit­zel im Ge­heim­dienst des Diaz zu sein. Zu vie­le von sei­nen Ka­me­ra­den sa­ßen rings in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten in Zi­vil- und Mi­li­tär­ge­fäng­nis­sen, und an­de­re wie­der wa­ren ge­ra­de in die­ser Zeit in Ket­ten über die Gren­ze ge­schafft und an die Wand ge­stellt wor­den.

Auf den ers­ten Blick mach­te der jun­ge Bur­sche kei­nen gu­ten Ein­druck auf sie. Er war nicht mehr als acht­zehn Jah­re alt, nicht be­son­ders groß und er­klär­te, Fe­li­pe Ri­ve­ra zu hei­ßen und für die Re­vo­lu­ti­on ar­bei­ten zu wol­len. Das war al­les – kein Wort mehr. Er blieb aber war­tend ste­hen. Kein Lä­cheln war um sei­nen Mund, kei­ne Lie­bens­wür­dig­keit in sei­nen Au­gen. Den großen schnei­di­gen Pau­li­no Vera schau­der­te es in­ner­lich. Hier war et­was Ab­sto­ßen­des, Furcht­ba­res, Uner­gründ­li­ches. Et­was Gif­ti­ges, Schlan­gen­ar­ti­ges war in den schwar­zen Au­gen des Kna­ben. Sie brann­ten wie kal­tes Feu­er und gleich­sam in ei­ner un­ge­heu­ren, ge­schlif­fe­nen Er­bit­te­rung. Von den Ge­sich­tern der Ver­schwo­re­nen ließ er den Blick zu der Schreib­ma­schi­ne schwei­fen, an der die klei­ne Frau Seth­by, eif­rig ar­bei­tend, saß. Sei­ne Au­gen such­ten die ih­ren, aber nur für eine Se­kun­de – sie blick­te zu­fäl­lig auf –, und auch sie hat­te ein un­be­stimm­ba­res selt­sa­mes Ge­fühl, das sie ihre Ar­beit un­ter­bre­chen ließ. Sie muss­te das Ge­schrie­be­ne noch ein­mal durch­le­sen, um den Brief, an dem sie ar­bei­te­te, fer­tig­tip­pen zu kön­nen.

Pau­li­no Vera sah Ar­rel­la­no und Ra­mos fra­gend an, und sie sa­hen sich ge­gen­sei­tig rat­los an. In ih­rem Blick war Un­si­cher­heit und Zwei­fel. Die­ser schmäch­ti­ge Be­su­cher war der Un­be­kann­te, und al­les dro­hen­de Un­be­ha­gen des Un­be­kann­ten um­gab ihn. Man konn­te aus ihm nicht klug wer­den, er war so ganz jen­seits des Ho­ri­zon­tes die­ser eh­ren­wer­ten, schlich­ten Ver­schwö­rer. Ihr wil­der Hass ge­gen Diaz und sei­ne Ty­ran­nei war der Hass eh­ren­wer­ter, schlich­ter Pa­trio­ten.

Hier aber war et­was an­de­res und Stär­ke­res, sie wuss­ten frei­lich nicht recht, was. Aber Vera, der stets der Ent­schlos­sens­te und Tat­kräf­tigs­te war, pack­te den Stier bei den Hör­nern.

»Schön«, sag­te er kühl. »Sie sa­gen, dass Sie für die Re­vo­lu­ti­on ar­bei­ten wol­len. Zie­hen Sie sich den Rock aus! Hän­gen Sie ihn dort­hin. Ich wer­de Ih­nen zei­gen – kom­men Sie –, wo die Ei­mer und Wischlap­pen sind. Der Fuß­bo­den ist schmut­zig. Sie kön­nen gleich an­fan­gen, ihn hier und in den an­de­ren Zim­mern auf­zu­wi­schen. Auch die Spuck­näp­fe müs­sen ge­rei­nigt wer­den. Und au­ßer­dem die Fens­ter.«

»Ist es für die Re­vo­lu­ti­on?« frag­te der Bur­sche.

»Für die Re­vo­lu­ti­on!« ant­wor­te­te Vera.

Ri­ve­ra sah sie alle kalt und miss­trau­isch an und zog sich dann den Rock aus.

»Es ist gut«, sag­te er.

Wei­ter nichts. Tag für Tag kam er zu sei­ner Ar­beit feg­te, schrubb­te und mach­te rein. Er nahm die Asche aus dem Ofen, hol­te Koh­len und Holz und mach­te Feu­er und war der ers­te im Büro.

»Kann ich hier schla­fen?« frag­te er ein­mal.

Aha! Das war es – die Hand Dia­z’ kam zum Vor­schein. Wenn er in den Räu­men der Jun­ta schlief, be­deu­te­te das, dass er Zu­tritt zu ih­ren Ge­heim­nis­sen, zu den Na­mens­lis­ten, zu den Adres­sen der Ka­me­ra­den in Me­xi­ko er­lang­te. Die Bit­te wur­de ab­ge­schla­gen, und Ri­ve­ra kam nie mehr dar­auf zu spre­chen. Er schlief, sie wuss­ten nicht wo, und aß, sie wuss­ten nicht wo und was. Ein­mal bot Ar­rel­la­no ihm ein paar Dol­lars an. Ri­ve­ra lehn­te das Geld je­doch ab. Als Vera dann hin­zu­trat und es ihm auf­zu­nö­ti­gen ver­such­te, sag­te er: »Ich ar­bei­te für die Re­vo­lu­ti­on.«

Eine Re­vo­lu­ti­on vor­zu­be­rei­ten kos­tet Geld, und die Jun­ta be­fand sich stets in Geld­ver­le­gen­heit. Die Mit­glie­der hun­ger­ten und ra­cker­ten sich ab, der längs­te Ar­beits­tag war ih­nen nicht lang ge­nug, und doch sah es zu­wei­len so aus, als stün­de und fie­le al­les mit der Fra­ge, wie sie sich nur ei­ni­ge Dol­lars ver­schaf­fen könn­ten.

Ein­mal – es war das ers­te Mal, dass sie zwei Mo­na­te mit der Mie­te im Rück­stand wa­ren und der Wirt sie hin­aus­zu­set­zen droh­te – war es Fe­li­pe Ri­ve­ra, der Rei­ne­ma­che­jun­ge in der schä­bi­gen, ab­ge­tra­ge­nen Klei­dung, der sech­zig Dol­lar in Gold auf May Seth­bys Pult leg­te. Und eben­so bei an­de­ren Ge­le­gen­hei­ten. Drei­hun­dert auf den ge­schäf­ti­gen Schreib­ma­schi­nen ge­klap­per­te Brie­fe (Bit­ten um Un­ter­stüt­zung, um Aner­ken­nung be­freun­de­ter Grup­pen, Er­su­chen an Schrift­lei­ter um wohl­wol­len­de Er­wäh­nung und so wei­ter) blie­ben lie­gen und war­te­ten auf die Fran­kie­rung. Veras Uhr ver­schwand – die alte gol­de­ne Re­pe­tier­uhr, die er von sei­nem Va­ter ge­erbt hat­te. Der glat­te gol­de­ne Ring an May Seth­bys Ring­fin­ger ver­schwand eben­falls. Es war zum Verzwei­feln. Ra­mos und Ar­rel­la­no zerr­ten wü­tend an ih­ren lan­gen Schnurr­bär­ten. Die Brie­fe muss­ten ab­ge­hen, und auf der Post gab es kei­nen Kre­dit beim Kauf von Brief­mar­ken. Da setz­te Ri­ve­ra den Hut auf und ging fort. Als er wie­der­kam, leg­te er tau­send Brief­mar­ken zu zwei Cent auf May Seth­bys Pult.

»Ich möch­te wis­sen, ob das ver­fluch­te Geld von Diaz ist?« sag­te Vera zu den Ka­me­ra­den.

Sie zo­gen die Brau­en hoch, wag­ten aber nicht, die Fra­ge zu be­ant­wor­ten. Und im­mer war es Fe­li­pe Ri­ve­ra, der, wenn es er­for­der­lich war, der Jun­ta Gold und Sil­ber ver­schaff­te.

Aber sie lieb­ten ihn nicht, und sie kann­ten ihn nicht. Er ging sei­ne ei­ge­nen Wege, schenk­te ih­nen kein Ver­trau­en und wies alle An­nä­he­rungs­ver­su­che zu­rück. Und trotz sei­ner Ju­gend brach­te kei­ner den Mut auf, ihn aus­zu­fra­gen.

»Er ist über­haupt kein Mensch«, sag­te Ra­mos.

»Sei­ne See­le ist aus­ge­dörrt«, sag­te May Seth­by. »Er kann nicht la­chen. Er gleicht ei­nem To­ten und ist doch furcht­bar le­ben­dig.«

»Er ist durch die Höl­le ge­gan­gen«, sag­te Vera. »So sieht man nur aus, wenn man durch die Höl­le ge­gan­gen ist – und da­bei ist er noch so jung.«

Fe­li­pe sprach nie, frag­te nie, schlug nie et­was vor. Er lausch­te aus­drucks­los wie ein to­ter Ge­gen­stand, aber sei­ne Au­gen leuch­te­ten in kal­tem Glanz, wenn die an­de­ren laut und lei­den­schaft­lich von Me­xi­ko spra­chen. Dann glit­ten sei­ne Au­gen von Ge­sicht zu Ge­sicht, von Red­ner zu Red­ner, boh­rend und for­schend und mit ei­nem Schim­mer wie fun­keln­des Eis, das sie stör­te und aus der Fas­sung brach­te.

»Er ist kein Spi­on«, ver­trau­te Vera May Seth­by an. »Er ist Pa­tri­ot – glaub mir, der größ­te Pa­tri­ot von uns al­len. Ich weiß es, ich füh­le es, mit mei­nem Her­zen und mei­nem Ver­stand füh­le ich es. Aber von ihm sel­ber weiß ich nicht das ge­rings­te.«

»Er hat ein ge­fähr­li­ches Tem­pe­ra­ment«, sag­te May Seth­by.

»Ich weiß«, sag­te Vera schau­dernd. »Er hat mich mit die­sen Au­gen an­ge­se­hen. Die spre­chen nicht von Lie­be, sie dro­hen und sind wild wie die ei­nes Ti­gers. Wenn ich un­se­re Sa­che im Stich las­se, dann wür­de er mich tö­ten, das weiß ich. Er hat kein Herz. Er ist un­barm­her­zig wie Stahl, scharf und kalt wie Frost. Ich fürch­te we­der Diaz noch all sei­ne Mör­der, aber vor die­sem Ri­ve­ra habe ich Angst. Es ist wahr. Ich habe Angst.«

Den­noch war es Vera, der die an­de­ren über­re­de­te, Ri­ve­ra die ers­te, Ver­trau­en er­hei­schen­de Auf­ga­be zu stel­len. Die Ver­bin­dung zwi­schen Los An­ge­les und Nie­der­ka­li­for­ni­en war un­ter­bro­chen. Drei von den Ka­me­ra­den hat­ten ihre ei­ge­nen Grä­ber gra­ben müs­sen und wa­ren dann er­schos­sen wor­den. Zwei wei­te­re sa­ßen als Ge­fan­ge­ne der Ve­rei­nig­ten Staa­ten in Los An­ge­les. Juan Al­va­ra­do, der Bun­des­ge­ne­ral, durch­kreuz­te all ihre Plä­ne. Sie konn­ten nicht mehr mit den ak­ti­ven Re­vo­lu­tio­nären und mit den er­wa­chen­den Ka­me­ra­den in Nie­der­ka­li­for­ni­en in Ver­bin­dung kom­men.

Der jun­ge Ri­ve­ra er­hielt sei­ne An­wei­sun­gen und wur­de nach dem Sü­den ge­schickt. Als er wie­der­kam, war die Ver­bin­dung wie­der­her­ge­stellt und Juan Al­va­ra­do tot. Er war mit ei­nem Dolch in der Brust in sei­nem Bett ge­fun­den wor­den. Das ging über die Ri­ve­ra er­teil­ten An­wei­sun­gen hin­aus, aber man frag­te ihn nicht, und er sag­te nichts. Aber sie sa­hen sich an und dach­ten sich ihr Teil.

»Ich habe es euch ge­sagt«, mein­te Vera. »Diaz hat von die­sem jun­gen Mann mehr zu fürch­ten als von ir­gend­ei­nem sonst. Er ist un­ver­söhn­lich.«

Das ge­fähr­li­che Tem­pe­ra­ment, von dem May Seth­by ge­spro­chen, und das je­der von ih­nen be­merkt hat­te, of­fen­bar­te sich auch in an­de­rer Be­zie­hung. Bald er­schi­en er mit zer­ris­se­ner Lip­pe, bald mit ei­ner blau und braun ge­schla­ge­nen Ba­cke, bald mit ei­nem ge­schwol­le­nen Ohr. Es war klar, dass er ir­gend­wo in der Welt, wo er aß und schlief und sich Geld ver­schaff­te und ein Le­ben führ­te, von dem sie nichts wuss­ten, dass er in je­ner Welt oft Streit hat­te. Nach ei­ni­ger Zeit wur­de er Set­zer an dem re­vo­lu­tio­nären Wo­chen­blätt­chen, das sie her­aus­ga­ben. Ge­le­gent­lich war es ihm nicht mög­lich, zu set­zen, weil sei­ne Knö­chel ab­ge­schürft und zer­schla­gen, sei­ne Dau­men zer­quetscht und hilf­los wa­ren oder weil sei­ne Arme schlaff her­ab­hin­gen, wäh­rend sein Ge­sicht sich in stum­mem Schmerz ver­zerr­te.

»Ein Stra­ßen­jun­ge«, sag­te Ar­rel­la­no.

»Ein Säu­fer und Rauf­bold«, sag­te Ra­mos.

»Aber wo kriegt er das Geld her?« frag­te Vera. »Ich habe ge­ra­de eben er­fah­ren, dass er die Pa­pi­er­rech­nung be­zahlt hat – hun­dert­und­vier­zig Dol­lar.«

»Er ist ja oft weg«, sag­te May Seth­by, »und gibt nie eine Er­klä­rung da­für.«

»Wir soll­ten ihn be­ob­ach­ten«, schlug Ra­mos vor.

»Der Spi­on möch­te ich nicht sein«, sag­te Vera. »Ich fürch­te, ihr wür­det mich nie wie­der­se­hen, au­ßer bei mei­ner Be­er­di­gung.«

»Ich kom­me mir ihm ge­gen­über im­mer wie ein Kind vor«, ge­stand Ra­mos.

»Für mich ist er eine Macht – der wil­de Wolf –, die zu­sto­ßen­de Klap­per­schlan­ge«, sag­te Ar­rel­la­no.

»Er kennt nie­mand«, sag­te May Seth­by. »Er hasst alle. Er ist al­lein … ein­sam.«

Ri­ver­as Tun und Trei­ben war wirk­lich ein Ge­heim­nis. Es gab Zei­ten, in de­nen sie ihn eine gan­ze Wo­che lang nicht sa­hen. Ein­mal blieb er einen gan­zen Mo­nat ver­schwun­den. Das war umso rät­sel­haf­ter, als er bei sei­ner Heim­kehr stets still und ohne ein Wort zu sa­gen Gold­stücke auf May Seth­bys Pult leg­te. Dann ver­brach­te er wie­der Tage und Wo­chen sei­ne gan­ze Zeit bei der Jun­ta. Und dann konn­te er wie­der auf un­ge­wis­se Zeit vom frü­hen Mor­gen bis zum Abend ver­schwin­den. In sol­chen Zei­ten kam er spät und blieb lan­ge. Ar­rel­la­no hat­te ihn um Mit­ter­nacht ge­se­hen, wie er mit ge­schwol­le­nen Knö­cheln und ei­ner zer­ris­se­nen, noch blu­ten­den Lip­pe am Setz­kas­ten stand.