Jack London – Gesammelte Werke

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V

»Herr Rich­ter«, sag­te Wat­son am nächs­ten Tage zu dem Dorf­rich­ter, ei­nem wohl­ha­ben­den Far­mer, der vor drei­ßig Jah­ren sein Ex­amen an ei­ner land­wirt­schaft­li­chen Hoch­schu­le ge­macht hat­te, »da die­ser Sol Wit­berg sich ver­an­lasst ge­se­hen hat, mich we­gen ge­walt­tä­ti­gen Über­falls an­zu­zei­gen, nach­dem ich ihn we­gen des­sel­ben De­likts an­ge­zeigt habe, be­an­tra­ge ich, dass bei­de Sa­chen zu­sam­men­ge­legt wer­den. Zeu­gen und Tat­sa­chen sind in bei­den Sa­chen die­sel­ben.«

Der Rich­ter wil­lig­te ein, und die Ver­hand­lung nahm ih­ren An­fang. Wat­son be­trat als An­ge­klag­ter zu­erst den Zeu­gen­stand und mach­te sei­ne Aus­sa­gen.

»Ich pflück­te Blu­men«, er­klär­te er. »Pflück­te Blu­men auf mei­nem ei­ge­nen Grund und Bo­den und wit­ter­te kein Un­heil. Plötz­lich sprang die­ser Mann aus sei­nem Ver­steck hin­ter den Bäu­men auf mich los. ›Ich bin Do­do‹, sag­te er, ›und ich kann Hack­fleisch aus dir ma­chen. Hebe die Hän­de hoch!‹

Ich lä­chel­te, aber im sel­ben Au­gen­blick schlug er zu, warf mich zu Bo­den und verd­arb mei­ne Blu­men. Die Spra­che, die er mir ge­gen­über führ­te, war ent­setz­lich. Es war ein ganz grund­lo­ser, bru­ta­ler Über­fall. Se­hen Sie nur mei­ne Ba­cke! Se­hen Sie mei­ne Nase! Ich konn­te es über­haupt nicht be­grei­fen. Er muss be­trun­ken ge­we­sen sein. Ehe ich mich von mei­ner Über­ra­schung er­hol­te, hat­te er mir schon die­sen Schlag zu­ge­fügt. Ich fühl­te mein Le­ben be­droht und muss­te mich ver­tei­di­gen. Das ist al­les, Herr Rich­ter, aber ich muss noch ein­mal ge­ste­hen, dass ich mich von mei­ner Über­ra­schung gar nicht er­ho­len kann. Wa­rum hat er sich Dodo ge­nannt? Wa­rum hat er mich so leicht­fer­tig an­ge­grif­fen?«

Und so er­hielt Sol Wit­berg eine gründ­li­che Be­leh­rung in der Kunst, einen Mein­eid zu schwö­ren.

Er hat­te oft auf sei­nem ho­hen Richter­stuhl im Schnell­ge­richt nach­sich­tig mein­ei­di­gen Zeu­gen­aus­sa­gen und er­dich­te­ten Ge­schich­ten ge­lauscht; aber zum ers­ten Mal rich­te­te sich jetzt eine mein­ei­di­ge Aus­sa­ge ge­gen ihn selbst, und dies­mal saß er nicht mit Ge­richts­die­nern, Po­li­zei­knüp­peln und Ge­fäng­nis­zel­len hin­ter sich auf dem Richter­stuhl.

»Herr Rich­ter«, rief er, »ich habe noch nie eine sol­che Samm­lung von Lü­gen und einen so fre­chen Lüg­ner ge­hört –«

Aber im sel­ben Au­gen­blick sprang Wat­son auf. »Herr Rich­ter, ich pro­tes­tie­re. Es ist Sa­che des ho­hen Ge­richts­ho­fes, zwi­schen Wahr­heit und Lüge zu un­ter­schei­den. Der Zeu­ge hat nur über die wirk­li­chen Ge­scheh­nis­se aus­zu­sa­gen. Sei­ne per­sön­li­che Mei­nung von den Din­gen im All­ge­mei­nen und von mir im be­son­de­ren hat nicht das ge­rings­te mit der Sa­che zu tun.«

Der Rich­ter kratz­te sich den Kopf und wur­de auf­ge­regt, ohne je­doch sei­ne Ruhe zu ver­lie­ren.

»Der Pro­test ist be­rech­tigt«, ent­schied er. »Ich bin er­staunt, dass Sie, Herr Wit­berg, der Sie Rich­ter und wohl­be­wan­dert in Ge­setz und Recht sein wol­len, sich ei­nes so we­nig kor­rek­ten Be­neh­mens schul­dig ma­chen. Wir sind hier, um fest­zu­stel­len, wer zu­erst ge­schla­gen hat, und Ihre An­sich­ten über den per­sön­li­chen Cha­rak­ter des Herrn Wat­son in­ter­es­sie­ren uns nicht. Fah­ren Sie in Ih­rer Dar­stel­lung fort.«

Sol Wit­berg wür­de sich vor Wut gern in sei­ne zer­schla­ge­ne und ge­schwol­le­ne Lip­pe ge­bis­sen ha­ben, wenn es nicht so weh ge­tan hät­te, aber er be­herrsch­te sich und er­stat­te­te einen kla­ren, auf­rech­ten und wah­ren Be­richt.

»Herr Rich­ter«, sag­te Wat­son. »Ich be­an­tra­ge, ihn zu fra­gen, was er auf mei­nem Grund und Bo­den zu tun hat­te.«

»Eine sehr be­rech­tig­te Fra­ge. Was hat­ten Sie, mein Herr, auf Herrn Wat­sons Grund und Bo­den zu tun?«

»Ich wuss­te nicht, dass es sein Grund und Bo­den war.«

»Es war eine Über­tre­tung mei­nes ge­gen Un­be­fug­te er­las­se­nen Ver­bots, Herr Rich­ter«, rief Wat­son. »Die ent­spre­chen­den Schil­der sind in auf­fäl­li­ger Wei­se an­ge­bracht.«

»Ich habe kein sol­ches Schild ge­se­hen«, sag­te Sol Wit­berg.

»Ich habe sie selbst ge­se­hen«, warf der Rich­ter grim­mig ein. »Sie sind sehr auf­fäl­lig. Und zur War­nung will ich Sie, mein Herr, wis­sen las­sen, dass Sie, wenn Sie in sol­chen Klei­nig­kei­ten leicht­fer­tig mit der Wahr­heit um­ge­hen, Ge­fahr lau­fen, auch auf Ihre be­deut­sa­me­ren Aus­sa­gen ein schlech­tes Licht zu wer­fen. Wa­rum ha­ben Sie Herrn Wat­son ge­schla­gen?«

»Herr Rich­ter, wie ich un­ter Eid aus­ge­sagt habe, habe ich ihm nicht einen ein­zi­gen Schlag ge­ge­ben.«

Der Rich­ter be­trach­te­te Car­ter Wat­sons zer­schla­ge­nes und ge­schwol­le­nes Ge­sicht, wand­te sich dann um und blick­te Sol Wit­berg an.

»Se­hen Sie die Ba­cke des Man­nes«, don­ner­te er. »Wenn Sie ihm kei­nen Schlag ge­ge­ben ha­ben, wie kommt es dann, dass er so zu­ge­rich­tet ist?«

»Wie ich un­ter Eid aus­ge­sagt habe –«

»Neh­men Sie sich in acht!« warn­te der Rich­ter.

»Ich wer­de mich schon in acht neh­men. Ich ge­den­ke nichts zu sa­gen als die rei­ne Wahr­heit. Er hat sich selbst mit ei­nem Stein ge­schla­gen. Er hat sich mit zwei ver­schie­de­nen Stei­nen ge­schla­gen.«

»Ist es wahr­schein­lich, dass ir­gend­ein Mensch, der nicht wahn­sin­nig ist, sich sel­ber so zu­rich­ten soll, in­dem er die wei­chen, emp­find­li­chen Tei­le sei­nes Ge­sichts mit ei­nem Stein zer­schrammt?« frag­te Car­ter Wat­son.

»Es klingt wie ein Mär­chen«, mein­te der Rich­ter. »Herr Wit­berg, hat­ten Sie ge­trun­ken?« – »Nein.«

»Trin­ken Sie nie?« »Ge­le­gent­lich.«

Der Rich­ter dach­te mit schlau­er, tief­sin­ni­ger Mie­ne über die­se Ant­wort nach.

Wat­son be­nutz­te die Ge­le­gen­heit, um Sol Wit­berg ge­müt­lich an­zu­blin­zeln, aber die­ser arg miss­brauch­te Herr sah nichts Hu­mo­ris­ti­sches in der Si­tua­ti­on.

»Sehr merk­wür­dig, sehr merk­wür­dig«, er­klär­te der Rich­ter und ging dar­an, sein Ur­teil zu fäl­len.

»Die Aus­sa­gen der bei­den Par­tei­en wi­der­spre­chen ein­an­der voll­kom­men. Au­ßer den bei­den Haupt­per­so­nen sind kei­ne Zeu­gen vor­han­den. Je­der be­haup­tet, dass der an­de­re ihn über­fal­len hat, und ich bin au­ßer­stan­de, rechts­gül­tig zu ent­schei­den, wer von Ih­nen die Wahr­heit spricht. Aber ich habe mei­ne per­sön­li­che An­sicht, Herr Wit­berg, und ich möch­te Ih­nen ra­ten, sich in Zu­kunft von Herrn Wat­sons Grund und Bo­den und über­haupt aus die­ser Ge­gend fern­zu­hal­ten –«

»Das ist eine Be­lei­di­gung!« braus­te Wit­berg auf.

»Set­zen Sie sich«, don­ner­te der Rich­ter ihn an. »Wenn Sie das Ge­richt noch ein­mal auf die­se Wei­se un­ter­bre­chen, neh­me ich Sie in Stra­fe we­gen ach­tungs­wid­ri­gen Be­neh­mens, und ich sage Ih­nen jetzt schon, dass ich Sie streng be­stra­fen wer­de! Sie sind selbst Rich­ter und müss­ten die Ach­tung ken­nen, die die Wür­de des Ge­richts for­dert. Und jetzt fäl­le ich mein Ur­teil: Es ist ein Grund­satz des Ge­set­zes, dass der Zwei­fel dem An­ge­klag­ten zu­gu­te kommt. Wie schon ge­sagt, bin ich nicht im­stan­de, rechts­gül­tig zu ent­schei­den, wer zu­erst ge­schla­gen hat. Des­halb bin ich zu mei­nem größ­ten Be­dau­ern –« hier mach­te er eine Pau­se und starr­te Sol Wit­berg an – »ge­nö­tigt, in bei­den Fäl­len dem An­ge­klag­ten den herr­schen­den Zwei­fel zu­gu­te kom­men las­sen zu müs­sen. Mei­ne Her­ren; Sie sind frei­ge­spro­chen.«

»Las­sen Sie uns dar­auf einen ge­neh­mi­gen«, sag­te Wat­son zu Wit­berg, als sie den Ge­richts­saal ver­lie­ßen. Der be­stürz­te Mann aber wei­ger­te sich, Arm in Arm mit ihm in die nächs­te Gast­wirt­schaft zu ge­hen.

Das Ende vom Lied

Der Tisch war aus un­ge­ho­bel­ten Bret­tern ver­fer­tigt, und es wur­de da­her den Män­nern, die an ihm sa­ßen und spiel­ten, oft schwer ge­nug, ihre Sti­che auf der rau­en Flä­che ein­zu­heim­sen. Ob­gleich alle in Hemds­är­meln da­sa­ßen, perl­te doch der Schweiß auf ih­ren Ge­sich­tern, was in­des­sen nicht ver­hin­der­te, dass ihre Füße, die in Mo­kass­ins und di­cke, wol­le­ne St­rümp­fe gehüllt wa­ren, vor Käl­te schmerz­ten. So groß war der Tem­pe­ra­tur­un­ter­schied zwi­schen der Luft am Fuß­bo­den und der hö­her im Raum, ob­wohl die De­cke nied­rig war. Der guss­ei­ser­ne Yu­ko­no­fen glüh­te und summ­te, aber auf dem Fleisch­ge­rüst, das nur acht Fuß von ihm un­ten am Fuß­bo­den ne­ben der Tür an­ge­bracht war, la­gen große Stücke Elch­fleisch und Ba­con, die völ­lig ge­fro­ren wa­ren. Das un­ters­te Drit­tel der Tür war mit ei­ner di­cken Eis­krus­te be­deckt. Durch die Rit­zen zwi­schen den Plan­ken hin­ter den Bet­ten sah man den weiß­g­lit­zern­den Schnee drau­ßen. Ein Fens­ter aus Öl­pa­pier ließ das Licht her­ein. Den un­te­ren Teil des Pa­piers hat­te der Atem der Män­ner auf der In­nen­sei­te einen Zoll dick mit ge­fro­re­ner Feuch­tig­keit be­schla­gen.

Sie spiel­ten einen höchst span­nen­den Rub­ber-Whist,1 denn das Paar, das ihn ver­lor, hat­te durch die sie­ben Fuß di­cke Eis- und Schnee­krus­te des Yu­kons ein Loch zum Fi­schen zu boh­ren.

»Es ist auch ver­flucht sel­ten, dass wir im März sol­che Käl­te ha­ben«, be­merk­te der Mann, der ge­ra­de misch­te. »Wie viel meinst du, sind es heu­te, Bob?«

»Na, fünf­und­fünf­zig bis sech­zig Grad un­ter Null, den­ke ich. Mehr nicht. Was mei­nen Sie, Dok­tor?«

Der Dok­tor wand­te den Kopf und be­trach­te­te den un­te­ren Teil der Tür mit ei­nem prü­fen­den Blick.

»Nicht um ein Tüt­tel­chen mehr als fünf­zig Grad. Wenn das nicht ge­nau stim­men soll­te, so ist es eher ein biss­chen wär­mer – neun­und­vier­zig viel­leicht! Guckt euch das Eis an der Tür an. Es ist ge­ra­de bei der Mar­ke für fünf­zig Grad an­ge­langt, aber der obe­re Rand ist, wie ihr seht, nicht ganz re­gel­mä­ßig. Als es sei­ner­zeit sieb­zig Grad wa­ren, stieg das Eis um vier Zoll hö­her.« Er nahm sei­ne Kar­ten, und wäh­rend er sie sor­tier­te, rief er, als an die Tür ge­klopft wur­de, laut »He­rein!«

 

Der Mann, der jetzt ein­trat, war ein großer, breit­schult­ri­ger Schwe­de. Frei­lich er­kann­te man sei­ne Na­tio­na­li­tät erst, als er sei­ne Müt­ze mit den Ohren­klap­pen ab­ge­nom­men und das Eis auf­ge­taut hat­te, das sich in sei­nem Bart ge­bil­det und sein Ge­sicht un­kennt­lich ge­macht hat­te. Un­ter­des­sen spiel­ten die Män­ner ru­hig wei­ter.

»Ich hab’ ge­hört, dass es einen Dok­tor hier in die­sem La­ger gibt«, sag­te der Schwe­de fra­gend und sah ängst­lich von ei­nem zum an­de­ren. Sein Ge­sicht war ab­ge­ma­gert und durch an­dau­ern­de star­ke Schmer­zen ver­zerrt. »Ich habe einen wei­ten Weg hin­ter mir. Ich kom­me aus der Ge­gend nörd­lich von Whyo.«

»Ich bin der Dok­tor! Was ist denn mit Ih­nen los?«

Als Ant­wort hob der Mann sei­ne lin­ke Hand, de­ren Zei­ge­fin­ger furcht­bar an­ge­schwol­len war. Gleich­zei­tig be­gann er eine weit­schwei­fi­ge, ziem­lich un­zu­sam­men­hän­gen­de Ge­schich­te über Zeit und Art sei­nes Un­falls zu er­zäh­len.

»Zei­gen Sie mal her«, un­ter­brach ihn der Dok­tor un­ge­dul­dig. »Le­gen Sie den Fin­ger auf den Tisch. Hier, so!«

Vor­sich­tig ge­horch­te der Mann, als sei es ein ge­fähr­li­ches Ge­schwür.

»Hm«, knurr­te der Dok­tor. »Eine Seh­nen­zer­rung. Und drei­hun­dert Mei­len sind Sie ge­reist, um den Dreck in Ord­nung zu krie­gen. Ich wer­de Sie im Handum­dre­hen ku­rie­ren. Pas­sen Sie gut auf, wie ich es ma­che, dann kön­nen Sie es das nächs­te Mal sel­ber.«

Ohne den Mann ge­warnt zu ha­ben, schlug der Arzt mit der Hand­kan­te auf den ge­schwol­le­nen Fin­ger. Der Schwe­de stieß einen Ruf der Ver­blüf­fung und des Schmer­zes aus. Es klang eher wie der Schrei ei­nes wil­den Tie­res, und sein Ge­sichts­aus­druck war so er­regt und wü­tend, als woll­te er sich auf den Mann stür­zen, der sich die­sen Spaß er­laubt hat­te.

»Schon in Ord­nung«, er­klär­te der Dok­tor in schar­fem, ge­bie­te­ri­schem Ton. »Wie füh­len Sie sich jetzt? Bes­ser, nicht wahr? Selbst­ver­ständ­lich! Das nächs­te Mal kön­nen Sie es sel­ber. Sie ge­ben, Stro­ters. Ich glau­be, die Rei­he ist an Ih­nen.«

Der Stier von ei­nem Schwe­den be­griff an­schei­nend schwer. Erst all­mäh­lich wur­de ihm das Ge­sche­he­ne klar, und er be­ru­hig­te sich. Der ste­chen­de Schmerz war vor­bei, der Fin­ger fühl­te sich schon bes­ser an. Er tat auch nicht mehr weh. Er be­trach­te­te neu­gie­rig den Fin­ger, sei­ne Au­gen wa­ren vol­ler Stau­nen, und er be­weg­te die Hand hin und her. Dann steck­te er sie in die Ta­sche und hol­te sei­nen Geld­beu­tel her­vor.

»Wie viel?«

Der Arzt schüt­tel­te un­ge­dul­dig den Kopf. »Nichts, ich prak­ti­zie­re im Au­gen­blick nicht – Sie spie­len aus, Bob!«

Der Schwe­de trat schwer­fäl­lig von ei­nem sei­ner rie­si­gen Füße auf den an­de­ren, be­sah sich den Fin­ger wie­der und wand­te sich dann mit ei­nem be­wun­dern­den Blick an den Dok­tor.

»Sie sind ein gu­ter Mensch. Wie hei­ßen Sie?«

»Lin­day, Dr. Lin­day«, ant­wor­te­te Stro­ters kurz, als woll­te er sei­nen Spiel­geg­ner nicht noch mehr rei­zen.

»Der Tag ist ja schon halb vor­bei«, sag­te Dr. Lin­day zu dem Schwe­den, als das Spiel fer­tig war und er die Kar­ten zu mi­schen be­gann. »Es ist bes­ser, Sie blei­ben die Nacht über hier. Es ist zu kalt zum Fah­ren heu­te. Drü­ben ist eine Re­ser­ve­ko­je.«

Er war ein schlan­ker, dun­kel­haa­ri­ger Mann mit ha­ge­rem Ge­sicht und dün­nen Lip­pen und kräf­tig ge­baut. Sein glat­tra­sier­tes Ge­sicht war blass, aber ge­sund. Alle sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren schnell und ent­schie­den. Er such­te nicht, wie die an­de­ren, in sei­nen Kar­ten. Sei­ne schwar­zen Au­gen hat­ten einen of­fe­nen, schar­fen Blick, der den Ein­druck mach­te, als könn­te er die Ober­flä­che al­ler Sa­chen durch­drin­gen. Sei­ne Hän­de wa­ren schlank, fein und ner­vig. Sie schie­nen für Ar­bei­ten ge­schaf­fen, die Zart­heit und fei­nes Emp­fin­den er­for­der­ten, und mach­ten da­bei doch selbst auf den un­er­fah­rens­ten Beo­b­ach­ter einen Ein­druck von Kraft.

»Ge­won­nen«, sag­te er, als er den letz­ten Stich ein­strich. »Jetzt gilt es den Rub­ber, und wer das Loch ins Eis ma­chen muss.«

Ein ener­gi­sches Klop­fen an der Tür hat­te einen schnel­len Aus­ruf von ihm zu Fol­ge.

»Wir sol­len, scheint’s, nie mit die­sem Rub­ber fer­tig wer­den«, sag­te er, als die Tür sich öff­ne­te. »Was brin­gen Sie denn?« Die­se letz­ten Wor­te gal­ten ei­nem Frem­den, der so­eben ein­trat.

Der An­kömm­ling be­müh­te sich ver­geb­lich, die Eis­krus­te von Wan­gen und Kinn zu ent­fer­nen. Es war deut­lich zu se­hen, dass er lan­ge Stun­den und Tage un­ter­wegs ge­we­sen war. Die Haut über den Ba­cken­kno­chen war in­fol­ge mehr­fa­cher Er­frie­run­gen schwarz ge­wor­den. Das Ge­sicht war von der Nase bis zum Kinn mit Eis be­deckt. Ein Loch, das sein war­mer Atem dar­in ge­schmol­zen hat­te, zeig­te, wo sein Mund sein muss­te. Durch die­ses Loch hat­te er Kauta­bak­so­ße ge­spien, die, so­bald sie den Mund ver­ließ, ge­fro­ren war. Es sah des­halb aus, als ob er einen am­bra­far­be­nen Van-Dyck-Bart trü­ge. Aber es war nur der ge­fro­re­ne Ta­bak­saft.

Ohne ein Wort zu spre­chen, schüt­tel­te er den Kopf, lä­chel­te freund­lich mit den Au­gen und schob sich nä­her an den Ofen her­an, um sich dort den Mund auf­zut­au­en und dann sein An­lie­gen vor­brin­gen zu kön­nen. Die­ses Vor­ha­ben ver­schaff­te ihm reich­li­che Ver­wen­dung für sei­ne Fin­ger, mit de­nen er sich gan­ze Eis­stücke aus dem Bart riss, die er auf den Ofen warf, wo sie knis­ter­ten und zisch­ten.

»Ich brin­ge gar nichts«, er­klär­te er schließ­lich. »Wenn es hier im La­ger aber einen Dok­tor gibt, so brau­che ich ihn trotz­dem. Am Klei­nen Peco liegt ein Mann, der einen Zu­sam­men­stoß mit ei­nem Pan­ther ge­habt hat, und das Biest ist da­bei ganz rup­pig mit ihm um­ge­gan­gen.«

»Ist es weit von hier?« frag­te Dok­tor Lin­day.

»Na – hun­dert Mei­len min­des­tens.«

»Und wie lan­ge ist es her?«

»Ich bin drei Tage un­ter­wegs ge­we­sen.«

»Schlimm?«

»Die Schul­ter ist aus­ge­renkt. Und ei­ni­ge Rip­pen sind tot­si­cher ge­bro­chen. Der rech­te Arm auch. Und das Fleisch ist fast am gan­zen Kör­per – au­ßer dem Ge­sicht – bis zu den Kno­chen ab­ge­ris­sen. Zwei oder drei Stel­len ha­ben wir ihm not­dürf­tig zu­sam­men­ge­näht und die Ar­te­ri­en mit Bind­fa­den ab­ge­bun­den.«

»Das wird schön sein«, knurr­te Lin­day spöt­tisch. »Wo sind die Stel­len denn?«

»Am Bauch.«

»Dann ist er schon er­le­digt.«

»Nein, so wahr ich lebe. Wir ha­ben al­les, be­vor wir ihn näh­ten, mit des­in­fi­zie­ren­den Mit­teln ge­beizt. Nur bis auf wei­te­res na­tür­lich. Wir hat­ten eben nichts an­de­res als ge­wöhn­li­chen Bind­fa­den, aber wir ha­ben ihn we­nigs­tens ge­wa­schen.«

»Er ist so gut wie tot«, er­klär­te Dr. Lin­day, wäh­rend er är­ger­lich mit den Kar­ten her­um­han­tier­te.

»Kei­ne Rede da­von. Der Mann wird nicht ster­ben. Er weiß, dass ich den Dok­tor hole, und wird schon da­für sor­gen, dass er noch am Le­ben ist, wenn ich wie­der­kom­me. Er denkt nicht dar­an, zu ster­ben. Ich ken­ne ihn.«

»Chris­ti­an Science und kal­ter Brand, nicht wahr?« knurr­te der Arzt. »Nun, ich prak­ti­zie­re über­haupt nicht. Und au­ßer­dem sehe ich nicht ein, warum ich bei ei­ner Tem­pe­ra­tur von fünf­zig Grad un­ter Null we­gen ei­nes to­ten Man­nes hun­dert Mei­len weit fah­ren soll­te.«

»Aber ich sehe es ein. Es han­delt sich um einen Mann, der gar nicht dar­an denkt, zu ster­ben …«

Lin­day schüt­tel­te den Kopf. »Tut mir leid, dass Sie den wei­ten Weg um­sonst ge­macht ha­ben. Es ist bes­ser, Sie blei­ben die Nacht über hier.«

»Aus­ge­schlos­sen. In zehn Mi­nu­ten fah­re ich ab.«

»Wie­so sind Sie Ih­rer Sa­che denn so si­cher?« frag­te Lin­day mür­risch.

Und dann kam der Au­gen­blick, da Tom Daw die längs­te und bes­te Rede sei­nes Le­bens hielt.

»Weil er am Le­ben blei­ben wird, bis Sie kom­men, und wenn es eine Wo­che dau­ern soll­te, Sie zu über­re­den. Und weil sei­ne Frau bei ihm ist. Und sie heult nicht und weint nicht, son­dern hilft ihm ganz still, am Le­ben zu blei­ben, bis Sie kom­men. Sie ha­ben ein­an­der mäch­tig lieb, und sie hat ge­nau so einen Wil­len wie er. Wenn er ab­fah­ren woll­te, wür­de sie ein­fach ihre un­s­terb­li­che See­le in sei­ne hin­ein­pus­ten und ihn wie­der le­ben­dig ma­chen. Ob­gleich es ihm ja gar nicht so schlecht ge­hen wird. Aber Sie kön­nen dar­auf schwö­ren, dass sie es tun wür­de. Ich gehe jede Wet­te ein. Ich hal­te drei ge­gen eins, in rei­nem Gold, dass er noch am Le­ben ist, wenn Sie hin­kom­men. Ich habe ein fri­sches Ge­spann am Ufer. Sie müs­sen in zehn Mi­nu­ten zum Ab­fah­ren fer­tig sein. Und ich glau­be, wir brau­chen nicht mal drei Tage für die Fahrt, weil der Schnee auf mei­ner Fähr­te schon fest­ge­fah­ren ist. Ich gehe jetzt zu den Hun­den; in zehn Mi­nu­ten kom­me ich und hole Sie ab.«

Tom Daw band sich wie­der die Ohren­klap­pen her­un­ter, zog sich die Fäust­lin­ge an und ver­schwand.

»Der Teu­fel soll ihn ho­len!« rief Dr. Lin­day und warf einen rach­süch­ti­gen Blick nach der ge­schlos­se­nen Tür.

Erst lan­ge nach Ein­tritt der Dun­kel­heit schlu­gen Dr. Lin­day und Tom Daw am sel­ben Abend ihr ers­tes La­ger auf. Sie hat­ten be­reits fünf­und­zwan­zig Mei­len zu­rück­ge­legt. Das La­gern war eine sehr ein­fa­che Sa­che. Sie mach­ten Feu­er im Schnee, ne­ben das Feu­er leg­ten sie ihre Schlaf­sä­cke auf eine Un­ter­la­ge von Fich­ten­zwei­gen. Hin­ter die­sem pro­vi­so­ri­schen Bett wur­de ein großes Stück Lein­wand auf­ge­hängt, um die Wär­me des Feu­ers zu­rück­zu­wer­fen. Daw gab den Hun­den zu fres­sen und schlug Eis und Brenn­holz. Lin­days Wan­gen brann­ten von der Käl­te, als er am Koch­topf hock­te. Sie aßen reich­lich, rauch­ten eine Pfei­fe und plau­der­ten mit­ein­an­der, wäh­rend sie ihre Mo­kass­ins am Feu­er trock­ne­ten. Dann kro­chen sie in ihre Schlaf­sä­cke, um den traum­lo­sen Schlaf der Mü­den und Ge­sun­den zu schla­fen.

Am nächs­ten Mor­gen war die un­ge­wöhn­li­che Käl­te vor­bei. Lin­day schätz­te die Tem­pe­ra­tur auf fünf­zehn Grad un­ter Null, und sie schi­en so­gar noch zu stei­gen. Daw wur­de von schwe­rer Sor­ge ge­quält. Sie wür­den noch am sel­ben Tag den Cañon er­rei­chen, er­klär­te er, wenn aber der Früh­ling mit sei­nem Tau­wet­ter schon jetzt ein­setz­te, wür­de der Cañon mit of­fe­nem Was­ser ge­füllt sein. Die Wän­de der Schlucht sei­en in­des­sen nicht we­ni­ger als zwi­schen hun­dert und tau­send Fuß hoch. Man kön­ne sie na­tür­lich be­stei­gen, aber es sei eine ver­dammt lang­wei­li­ge Ar­beit, die viel Zeit er­for­de­re.

Als sie an die­sem Abend in der dunklen, un­heim­li­chen Schlucht la­ger­ten und ihre Pfei­fe rauch­ten, klag­ten sie über die Wär­me und wa­ren sich ei­nig, dass das Ther­mo­me­ter über Null ste­hen müss­te … und zwar zum ers­ten Mal seit sechs Mo­na­ten.

»Man hat noch nie so weit im Nor­den et­was von Pan­thern ge­hört«, er­zähl­te Daw. »Rocky nann­te ihn einen Ku­gu­ar. Aber ich habe vie­le in Cur­ry Coun­ty ge­schos­sen – in Ore­gon, wo ich her bin, und da nann­ten wir sie im­mer Pan­ther. Je­den­falls war es eine grö­ße­re Kat­ze, als ich je eine ge­se­hen habe. Es war ein rich­ti­ges Un­ge­tüm von Kat­ze. Jetzt bleibt nur die Fra­ge üb­rig, wie, zum Teu­fel, sie auf einen sol­chen Jagd­aus­flug ab­seits von al­len ge­wohn­ten Pan­ther­we­gen ge­kom­men war? Das ist die Fra­ge …«

Lin­day be­merk­te nichts hier­zu – er nick­te nur zu­stim­mend. Sei­ne Mo­kass­ins wa­ren auf klei­ne Stö­cke ge­hängt und dampf­ten, ohne dass er dar­auf ach­te­te und sie um­dreh­te. Die Hun­de la­gen zu­sam­men­ge­kau­ert wie pelz­be­klei­de­te Bäl­le da und schlie­fen. Das Knis­tern der glü­hen­den Schei­te mach­te die über­all herr­schen­de Stil­le nur noch tiefer. Der Dok­tor er­wach­te plötz­lich aus sei­nen Träu­men und starr­te Daw an, der eben­falls nick­te und den fra­gen­den Blick be­ant­wor­te­te. Bei­de lausch­ten. Aus wei­ter Fer­ne er­tön­te ein un­deut­li­ches Geräusch, das all­mäh­lich zu ei­nem ge­wal­ti­gen, un­heim­li­chen Brül­len an­schwoll. Es kam im­mer nä­her, es stieg und nahm zu, es hall­te von den Gip­feln der Ber­ge und aus den Tie­fen der Schluch­ten wi­der, der Wald neig­te sich un­ter dem mäch­ti­gen To­sen, die schlan­ken Fich­ten, de­ren Wur­zeln aus den Spal­ten in den Wän­den des Cañ­ons her­aus­lug­ten, beug­ten sich zit­ternd. Da er­kann­ten sie, was es war. Ein star­ker und bal­sa­mi­scher Wind weh­te zu ih­nen her­über und schleu­der­te glü­hen­de Par­ti­kel aus dem Feu­er wie Stern­schnup­pen in die mil­de Luft. Die Hun­de er­wach­ten, setz­ten sich auf und be­gan­nen, die schwar­zen Schnau­zen zum Him­mel ge­ho­ben, wie Wöl­fe zu heu­len.

 

»Der Chi­nook«, sag­te Daw.

»Das heißt, den­ke ich, dass der Weg auf dem Fluss ge­fähr­det ist?«

»Ganz recht. Und zehn Mei­len auf dem Fluss sind leich­ter als eine Mei­le über die Ber­ge.« Daw blick­te Lin­day eine lan­ge Mi­nu­te prü­fend an. »Wir hät­ten noch ge­nau fünf­zehn Stun­den zu ge­hen«, rief er mit ei­ner Stim­me, die den Wind über­schrie. Er war­te­te einen Au­gen­blick auf Ant­wort. Dann sag­te er schließ­lich: »Dok­tor – ma­chen Sie mit?«

Statt zu ant­wor­ten, klopf­te Lin­day sei­ne Pfei­fe aus und be­gann sich die damp­fen­den Mo­kass­ins an­zu­zie­hen. Es dau­er­te nur we­ni­ge Mi­nu­ten, so hat­ten sie, un­ter dem Druck des Stur­mes ge­beugt, die Hun­de an­ge­schirrt, das La­ger ab­ge­bro­chen und das Koch­ge­rät und die un­be­nutz­ten Schlaf­sä­cke auf dem Schlit­ten ver­staut. Dann bo­gen sie in der Dun­kel­heit auf den Weg ein, den Daw vor fast ei­ner Wo­che ge­tre­ten hat­te. Sie hat­ten eine lan­ge nächt­li­che Wan­de­rung vor sich. Und im­mer­fort hör­ten sie den Chi­nook brül­len und hetz­ten die mü­den Hun­de und sporn­ten ihre ei­ge­nen er­schöpf­ten Mus­keln an. Zwölf Stun­den hiel­ten sie durch. Dann mach­ten sie halt und früh­stück­ten, nach­dem sie vier­und­zwan­zig Stun­den lang un­un­ter­bro­chen auf den Bei­nen ge­we­sen wa­ren.

»Eine Stun­de kön­nen wir schla­fen«, sag­te Daw, nach­dem sie di­cke Strei­fen Elch­fleisch, die mit Räu­cher­speck ge­bra­ten wa­ren, pfund­wei­se ver­zehrt hat­ten.

Er ließ sei­nen Beglei­ter zwei Stun­den schla­fen, selbst fürch­te­te er sich, die Au­gen zu schlie­ßen. Er hielt sich wach, in­dem er in dem wei­chen, schon schmel­zen­den Schnee zeich­ne­te. Im Lau­fe die­ser bei­den Stun­den sank der Schnee um drei Zoll. Man konn­te das Sin­ken ge­ra­de­zu se­hen. Von al­len Sei­ten kam – schwach aus der Fer­ne, stark in der Nähe – das Geräusch der bis­her ver­bor­ge­nen Ge­wäs­ser, die jetzt her­vor­si­cker­ten und sich einen Weg bahn­ten. Trotz dem Brül­len des Früh­lings­win­des hör­te man sie. Der Klei­ne Peco, der durch vie­le an­de­re noch klei­ne­re Flüs­se Zu­wachs er­hielt, er­hob sich ge­gen den Zwang des Win­ters und zer­spreng­te un­ter Kra­chen und Knal­len das Eis.

Daw be­rühr­te Lin­days Schul­ter. Er be­rühr­te sie noch ein­mal. Schüt­tel­te. Und schüt­tel­te noch kräf­ti­ger.

»Dok­tor«, mur­mel­te er vol­ler Be­wun­de­rung. »Ich räu­me ohne wei­te­res ein, dass Sie gut lau­fen kön­nen.«

Die mü­den schwar­zen Au­gen un­ter den schwe­ren Li­dern nah­men das Kom­pli­ment an.

»Aber dar­um han­delt es sich jetzt nicht! Rocky ist ganz nie­der­träch­tig ver­schan­delt wor­den. Wie ich Ih­nen vor­her sag­te: Ich habe ge­hol­fen, ihm die Ein­ge­wei­de zu­sam­men­zunä­hen, Dok­tor!« Er schüt­tel­te den Mann, des­sen Au­gen sich schon wie­der ge­schlos­sen hat­ten. »Ich sage Ih­nen, Dok­tor. Es han­delt sich jetzt nur dar­um, ob Sie im­stan­de sind wei­ter­zu­ge­hen? Hö­ren Sie, was ich sage? Ich fra­ge, ob Sie im­stan­de sind, wei­ter­zu­ge­hen?«

Die mü­den Hun­de schnapp­ten nach ih­nen und win­sel­ten, als sie in ih­rem Schlaf ge­stört wur­den. Es ging nur lang­sam vor­wärts. Mehr als zwei Mei­len in der Stun­de schaff­ten sie nicht, und die Tie­re nah­men jede Pau­se wahr, um sich in den nas­sen Schnee zu le­gen.

»Noch zwan­zig Mei­len, und wir ha­ben die Schlucht hin­ter uns«, er­mun­ter­te Daw sei­nen Beglei­ter. »Und wenn wir so weit sind, kann das Eis mei­net­we­gen zum Teu­fel ge­hen. Dann kön­nen wir am Ufer wei­ter­mar­schie­ren und ha­ben nur noch zehn Mei­len bis zum La­ger, sind also schon bei­nah da, Dok­tor! Und wenn Sie Rocky zu­sam­men­ge­kleis­tert ha­ben, kön­nen Sie mit ei­nem Kanu in ei­nem Tage zu­rück sein.«

Aber das Eis wur­de im­mer un­si­che­rer un­ter ih­ren Fü­ßen, es be­gann sich vom Ufer los­zu­rei­ßen und hob sich Zoll um Zoll. An ei­ni­gen Stel­len hielt es noch am Ufer fest; dann lag aber schon Was­ser dar­über, und sie muss­ten hin­durch­wa­ten. Der Klei­ne Peco knurr­te und murr­te. Spal­ten und Ris­se bil­de­ten sich über­all, wäh­rend sie sich Mei­le um Mei­le vor­wärts kämpf­ten, von de­nen jede ein­zel­ne zehn Mei­len über die Ber­ge ent­sprach.

»Le­gen Sie sich auf den Schlit­ten, dann kön­nen Sie ein biss­chen schla­fen, Dok­tor«, mein­te Daw.

Der Blick aus den schwar­zen Au­gen ver­bot ihm, die freund­li­che Auf­for­de­rung zu wie­der­ho­len.

Schon ge­gen Mit­tag er­hiel­ten sie eine War­nung, dass das Ende sich nä­her­te. Eis­schol­len, die von der ra­sen­den Strö­mung ab­wärts ge­scho­ben wur­den, be­gan­nen un­ter dem Eis, auf dem sie gin­gen, zu don­nern und zu to­ben. Die Hun­de win­sel­ten ängst­lich und streb­ten nach dem Ufer.

»Das heißt of­fe­nes Was­ser wei­ter oben«, er­klär­te Daw. »Bald wird ir­gend­wo Pack­eis kom­men, und dann wird der Fluss im Lau­fe von hun­dert Mi­nu­ten um hun­dert Fuß stei­gen. Jetzt gilt es für uns, die Hän­ge zu er­klim­men, wenn es uns über­haupt ge­lingt, eine Stel­le zu fin­den, wo wir aus die­ser Mau­se­fal­le ent­schlüp­fen kön­nen. Na, nur los! Jetzt ha­ben wir die Schwei­ne­rei – und da hat­te man nun ge­glaubt, dass der Yu­kon noch ei­ni­ge Wo­chen hal­ten wür­de.«

An die­ser Stel­le war die Schlucht au­ßer­ge­wöhn­lich eng, und ihre Wän­de wa­ren so schroff, dass man sie nicht er­klim­men konn­te. Daw und Lin­day muss­ten des­halb wei­ter­ge­hen – und das ta­ten sie auch, bis die Ka­ta­stro­phe über sie her­ein­brach. Mit ei­nem mäch­ti­gen Knall zer­barst das Eis un­ter ih­ren Fü­ßen und dem Ge­spann. Die bei­den Tie­re, die in der Mit­te des Ge­schirrs gin­gen, stürz­ten in den Spalt, und die Strö­mung riss ihre Kör­per mit sol­cher Kraft mit, dass sie auch den Leit­hund ins Was­ser zo­gen. Und als die drei Kör­per un­ter der Eis­krus­te den Strom hin­ab­ge­zo­gen wur­den, wur­den auch die bei­den letz­ten win­seln­den Hun­de, die noch üb­rig­ge­blie­ben wa­ren, fort­ge­ris­sen. Die Män­ner hiel­ten aus al­len Kräf­ten den Schlit­ten zu­rück, aber auch sie wur­den lang­sam mit­ge­zo­gen. Das al­les spiel­te sich im Lau­fe we­ni­ger Se­kun­den ab. Daw durch­schnitt die Sie­len des letz­ten Hun­des mit sei­nem Fahr­ten­mes­ser, und das un­glück­li­che Tier schoss über den Eis­rand ins Was­ser und ver­schwand. Die Eis­flä­che, auf der sie stan­den, zer­brach und wur­de zu ei­ner großen, ro­tie­ren­den Schol­le, die ge­gen das Eis und die Klip­pen am Ufer ge­schleu­dert und dort zer­split­tert wur­de. Aber es ge­lang ih­nen doch noch, den Schlit­ten ans Land zu zie­hen und in Si­cher­heit zu brin­gen, un­mit­tel­bar be­vor die Eis­schol­le, auf der sie ge­stan­den hat­ten, um­kipp­te, sank und un­ter dem Pack­eis aus ih­rem Ge­sichts­kreis ver­schwand.

Aus Fleisch und Schlaf­sä­cken mach­ten sie jetzt große Bün­del und lie­ßen den Schlit­ten zu­rück. Lin­day är­ger­te sich, dass Daw das grö­ße­re Bün­del nahm, aber Daw setz­te sei­nen Wil­len durch.

»Sie müs­sen, so­bald wir da sind, an die Ar­beit. Nur wei­ter!«

Es war ge­gen ein Uhr nach­mit­tags, als sie zu klet­tern be­gan­nen. Um acht Uhr abends hat­ten sie den Kamm er­reicht, und die nächs­te hal­be Stun­de blie­ben sie lie­gen, wo sie hin­ge­sun­ken wa­ren. Dann mach­ten sie Feu­er, setz­ten den Kaf­fee­topf auf und ver­schlan­gen eine un­ge­heu­re Men­ge Elch­fleisch. Vor­her aber hat­te Lin­day die bei­den Bün­del ge­ho­ben und da­bei fest­ge­stellt, dass das sei­ne um die Hälf­te leich­ter war als das­je­ni­ge Daws.