»Lassen Sie Corry sich nur amüsieren«, antwortete Pentfield. »Er hat es sich redlich verdient.«
»Jeder nach seinem Geschmack«, lachte Nick Inwood. »Aber ich würde heiraten doch nicht sich amüsieren nennen …«
»Corry verheiratet!« rief Pentfield ungläubig, aber doch verblüfft.
»Jawohl«, sagte Inwood. »Ich habe es in der Friskoer Zeitung gelesen, die heut morgen über das Eis gebracht wurde.«
»Nun – und wie heißt das Mädel?« fragte Pentfield, sein Gesicht hatte den Ausdruck geduldiger Tapferkeit, mit dem ein Mann den Köder schluckt und sich dabei klar ist, dass gleich ein mächtiges Gelächter auf seine Kosten folgen wird.
Nick Inwood nahm die Zeitung aus der Tasche und suchte darin, während er sagte:
»Ich hab’ leider kein gutes Gedächtnis für Namen, aber ich glaube, es war so was wie Mabel – ja richtig, hier steht es – Mabel Holmes, Tochter von Richter Holmes, mag der nun sein, wer er will …«
Lawrence Pentfield ließ sich nicht das geringste anmerken, obgleich er sich fragte, wie in aller Welt ihr Name hier im Nordland bekannt sein könnte. Er blickte ruhig von Gesicht zu Gesicht, um irgendwelche Anzeichen von dem Streich zu entdecken, den man ihm spielen wollte, aber abgesehen von einer selbstverständlichen Neugier war nichts zu bemerken. Dann wandte er sich an den Spielbesitzer und sagte kühl und ruhig:
»Inwood, ich habe hier eben einen Fünfhunderter bekommen, der mir zuflüstert, dass das, was Sie da erzählen, nicht in der Zeitung steht.«
Der Spielbesitzer sah ihn mit komischer Neugierde an.
»Gehen Sie, mein Junge … ich will Ihr Geld nicht haben.«
»Ich dachte nur«, knurrte Pentfield, wandte sich wieder dem Spiel zu und setzte auf einige Karten. Nick Inwood bekam einen roten Kopf, ließ den Blick sorgfältig über die Spalten der Zeitung schweifen, als ob er selbst seinen Sinnen nicht recht traute. Dann wandte er sich an Pentfield.
»Sehen Sie selbst hier«, sagte er schnell und nervös. »Ich kann das nicht zugeben, verstehen Sie.«
»Was zugeben?« fragte Pentfield brutal.
»Ihre Andeutung, dass ich gelogen hätte.«
»Unsinn«, lautete die Antwort. »Ich wollte nur andeuten, dass Sie versuchten, einen taktlosen Witz zu machen.«
»Machen Sie Ihre Einsätze, meine Herren«, rief der Croupier.
»Aber ich sage Ihnen, dass es wahr ist«, beharrte Nick Inwood.
»Und ich habe gesagt, dass ich fünfhundert darauf wette, dass es nicht in der Zeitung steht«, sagte Pentfield und zog gleichzeitig einen schweren Goldbeutel aus der Tasche.
»Ich habe keine Lust, Ihnen Ihr Geld zu nehmen«, lautete die Antwort, als er Pentfield die Zeitung in die Hand steckte.
Pentfield sah es, obgleich es ihm kaum möglich war, es zu glauben. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Überschrift »Jung Lochinvar kam aus dem Norden« und las den Artikel flüchtig durch, bis die beiden nebeneinanderstehenden Namen Mabel Holmes und Corry Hutchinson ihm buchstäblich in die Augen sprangen. Dann blickte er nach dem Kopf des Blattes und sah, dass es eine San Franziskoer Zeitung war.
»Das Geld gehört Ihnen, Inwood«, bemerkte er mit einem kurzen Lachen. »Aber da steht nichts davon, was mein Partner tun wird, wenn er abgereist ist.«
Dann nahm er die Zeitung wieder in die Hand und las die Notiz Wort für Wort, sehr langsam und sorgfältig. Er konnte nicht länger zweifeln. Es stand fest, dass Corry Hutchinson Mabel Holmes geheiratet hatte. »Einer der Bonanzakönige«, so wurde er geschildert, »Partner von Lawrence Pentfield (den die vornehme Gesellschaft San Franziskos noch nicht vergessen haben wird) und gemeinsam mit diesem Herrn an anderen reichen Minenunternehmungen beteiligt.« Ferner las er, »dass Herr und Frau Hutchinson nach einem kurzen Ausflug nach Detroit ihre eigentliche Hochzeitsreise nach dem bezaubernden Klondikelande machen wollen.«
»Ich komme später wieder«, sagte Pentfield. »Halten Sie bitte den Platz für mich frei.« Er stand auf und nahm seinen Beutel, der inzwischen beim Kassierer gewesen und um fünfhundert Dollar leichter zurückgekehrt war.
Er trat auf die Straße hinaus und kaufte sich eine Seattlezeitung. Sie enthielt denselben Bericht, wenn auch ein wenig gekürzt. Es war nicht mehr zu bezweifeln, dass Corry und Mabel verheiratet waren. Pentfield kehrte nach der Oper zurück und nahm wieder seinen Platz am Spieltisch ein. Er bat die Höchstgrenze aufzuheben.
»Wollen wohl versuchen, etwas Leben in die Bude zu kriegen«, sagte Nick Inwood und nickte dem Croupier sein Einverständnis zu. »Ich wollte gerade in den A.C.-Laden gehen, aber jetzt glaube ich doch, dass ich lieber bleibe und zusehe, wie es Ihnen ergeht.«
Nach zweistündigem Kampf zeigte es sich, wie es Lawrence Pentfield ergangen war. Der Croupier biss die Spitze einer frischen Zigarre ab, zündete ein Streichholz an und verkündete, dass die Bank gesprengt sei. Pentfield steckte die Vierzigtausend ein, gab Nick Inwood die Hand und teilte ihm mit, dass es das letztemal sei, dass er an seinem Spieltisch oder an einem anderen gespielt hätte.
Keiner ahnte oder vermutete, dass er getroffen, noch weniger, dass er schwer getroffen war. Seinem Auftreten war kein Unterschied anzumerken. Eine Woche ging er seiner Arbeit nach, ganz wie er es immer getan, bis er einen Bericht über die Hochzeit in einer Portlandzeitung las. Dann rief er einen Freund, bat ihn, sich seiner Mine anzunehmen, und reiste hinter seinen Hunden den Yukon hinauf. Bis White River folgte er dem Wege nach dem Salzwassersee, dort aber bog er ab. Fünf Tage später stieß er auf ein Jagdlager der White-River-Indianer. Abends wurde ein Fest abgehalten, und er saß auf dem Ehrenplatz neben dem Häuptling. Am nächsten Morgen lenkte er seine Hunde nach dem Yukon zurück. Aber er reiste nicht mehr allein. Eine junge Squaw fütterte an diesem Abend seine Hunde für ihn und half ihm das Lager bereiten. Sie war in ihrer Kindheit von einem Bären überfallen worden und hinkte immer noch leicht. Sie hieß Laschka, und sie war anfangs etwas misstrauisch gegen den fremden weißen Mann, der plötzlich aus dem Unbekannten aufgetaucht war, sie heiratete, ohne ihr ein Wort oder einen Blick zu schenken, und der sie jetzt mit sich in das Unbekannte nahm.
Aber Laschkas Schicksal war besser als das, welches wilden Indianermädchen sonst zuteil wird, wenn sie weiße Männer im Nordland heiraten. Sobald sie Dawson erreicht hatten, wurde die indianische Ehe, die sie verband, nach Art der weißen Männer feierlich vor dem Priester bestätigt. Von Dawson, wo ihr alles als Traum und Wunder erschien, brachte er sie direkt nach der Bonanzamine und in das aus viereckigen Planken erbaute Haus auf dem Hügel.
Das neuntägige Staunen, das die Folge davon war, wurde nicht so sehr durch den Umstand hervorgerufen, dass Lawrence Pentfield sich eine Squaw für Bett und Tisch gewählt hatte, wie durch die Feierlichkeit, durch die er den Bund legalisierte. Dass er diese Heirat besonders sanktionieren ließ, war das einzige, was der Gesellschaft unverständlich erschien. Aber niemand ließ Pentfield etwas merken. Solange die Launen eines Mannes der Gemeinschaft nicht schaden, lässt man ihn in Ruhe, und Pentfield wurde nicht einmal aus den Hütten der Männer verbannt, die weiße Frauen hatten. Die Trauzeremonie hatte die Wirkung, dass er nicht zu den Squawmännern gerechnet wurde, und enthob ihn jedes moralischen Vorwurfs, wenn es auch Männer gab, die seinen Geschmack kritisierten.
Von der Außenwelt bekam er keine Briefe mehr. Sechs Schlittenladungen mit Post waren am großen Lachsfluss verlorengegangen. Außerdem wusste Pentfield auch, dass Corry und seine Braut zu dieser Zeit schon unterwegs sein mussten. Sie mussten sich eben jetzt auf der Hochzeitsreise befinden … Auf der Hochzeitsreise, von der er zwei Jahre lang geträumt hatte. Er verzog bei diesem Gedanken bitter den Mund. Aber er ließ sich nichts merken, abgesehen davon, dass er freundlicher zu Laschka wurde.
Der März war schon längst vorbei, und der April näherte sich seinem Ende, als Laschka ihn um die Erlaubnis bat, den Yukon einige Meilen abwärts nach der Hütte Siwash Petes zu fahren. Petes Frau, die vom Stewart River stammte, hatte Bescheid geschickt, dass ihr kleines Kind krank war. Und Laschka, die außerordentlich mütterlich veranlagt war und sich selbst für erfahren in Bezug auf Kinderkrankheiten hielt, ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um sich der Kinder anderer Frauen anzunehmen, die glücklicher waren als sie.
Pentfield schirrte die Hunde an, und Laschka hinter sich, schlug er den Weg das Bett des Bonanza hinab ein. Frühling lag in der Luft. Die Kälte hatte ihre schneidende Schärfe verloren, und wenn auch der Schnee immer noch das Land bedeckte, so erzählte doch das Murmeln und Rieseln des Wassers, dass der eiserne Griff des Winters sich lockerte. Der Weg war grundlos, hier und dort hatte man einen neuen Weg um die Löcher herum geschaffen. An einer solchen Stelle, wo nicht genügend Platz war, dass zwei Schlitten einander ausweichen konnten, hörte Pentfield das Läuten von Schellen, die sich näherten, und ließ deshalb seine Hunde haltmachen.
Ein Gespann müder Hunde kam um die nächste Ecke, von einem schwerbeladenen Schlitten gefolgt. An der Lenkstange ging ein Mann, der auf eine Art steuerte, die Pentfield bekannt vorkam, und hinter dem Schlitten kamen zwei Frauen. Sein Blick suchte wieder den Mann an der Lenkstange. Es war Corry. Pentfield stand auf und wartete. Er war froh, dass er Laschka bei sich hatte. Wenn die Begegnung arrangiert worden wäre, hätte sie nicht unter günstigeren Bedingungen stattfinden können, dachte er. Und während er dastand und wartete, überlegte er, was sie wohl sagen würden, was sie sagen könnten. Er selbst brauchte ja nichts zu erklären. Das war ihre Sache, und er war bereit, sie anzuhören.
Als sie einander gegenüberstanden, erkannte Corry ihn und blieb stehen. Mit einem »Hallo, Alter!« streckte er die Hand aus.
Pentfield nahm die Hand, aber ohne Wärme, ohne Worte. Jetzt hatten die beiden Damen sie erreicht, und er sah, dass die eine Dora Holmes war. Er nahm seine Pelzmütze ab, deren Ohrenklappen flatterten, gab ihr die Hand und wandte sich dann zu Mabel. Sie näherte sich mit wiegenden Schritten, strahlend und blendend, zögerte aber vor seiner ausgestreckten Hand. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt zu sagen:
»Wie geht es Ihnen, Frau Hutchinson?« … aber irgendwie hatte das »Frau Hutchinson« ihn verwirrt, und er war deshalb nur imstande, ein »Wie geht es Ihnen?« hervorzustottern.
Die Lage war genau so gezwungen und unbequem, wie er es gewünscht hatte. Mabel verriet die Erregung, die sie ihrer persönlichen Lage entsprechend empfand, während Dora offenbar die Rolle einer Art Friedensvermittlerin spielen wollte und sagte: »Was ist denn mit dir los, Lawrence?«
Bevor er antworten konnte, nahm Corry ihn beim Ärmel und zog ihn beiseite.
»Sag mal, Alter, was bedeutet denn das?« Corry stellte die Frage im Flüsterton und wies mit den Augen auf Laschka.
»Ich verstehe nicht, Corry, was diese Sache dich angehen sollte«, gab Pentfield spöttisch zur Antwort.
Aber Corry ging geradeswegs auf die Sache los.
»Was macht diese Frau auf deinem Schlitten? Eine schöne Aufgabe, die du mir stellst, dies zu erklären. Ich hoffe nur, dass es überhaupt gehen wird! Wer ist sie denn? Wessen Squaw ist sie?«
Da führte Lawrence Pentfield seinen vernichtenden Schlag, und noch dazu mit einem gewissen Übermut, der ihn für das ihm angetane Unrecht ein wenig zu entschädigen schien.
»Sie ist meine Squaw«, sagte er. »Frau Pentfield, wenn Sie gestatten.«
Corry Hutchinson stöhnte, aber Pentfield ließ ihn stehen und wandte sich zu den beiden Frauen. Mabel stand mit gequälter Miene da und schien sich nur mit Mühe aufrechtzuhalten. Er wandte sich zu Dora und fragte, sehr freundlich, als ob die ganze Welt nur Sonnenschein wäre:
»Wie haben Sie die Fahrt überstanden? War es schwer, sich nachts warm zu halten? – Und wie ist sie Frau Hutchinson bekommen?« fragte er dann und warf einen Blick auf Mabel.
»Oh, du lieber Kindskopf!« rief Dora, schlang ihm beide Arme um den Hals und drückte ihn an sich. »Dann hast du es also auch gesehen! Ich dachte mir ja schon, dass etwas los sein müsste, weil du dich so sonderbar benahmst.«
»Ich verstehe nicht recht«, stammelte er.
»In der Nummer vom nächsten Tage wurde es schon berichtigt«, plauderte Dora weiter. »Wir ließen uns ja nicht träumen, dass du gerade diese Zeitung in die Hand bekommen solltest. In allen anderen stand es richtig, und natürlich ist diese dumme Zeitung die einzige, die du gelesen hast …«
»Wart einen Augenblick! Wie meinst du das?« fragte Pentfield, und auf einmal wurde sein Herz von einer furchtbaren Angst ergriffen, und er hatte das Gefühl, am Rande eines tiefen Abgrundes zu stehen.
Aber Dora fuhr mit ungeheurer Zungenfertigkeit fort:
»Und weißt du, als es bekannt wurde, dass sowohl Mabel wie ich nach Klondike gingen, schrieb die ›Wochenpost‹, dass es, wenn wir weggingen, ›wunderbar‹ in der Myrdon Avenue werden würde. Das Blatt meinte natürlich ›sonderbar‹.«
»Dann – –«
»Ich bin Frau Hutchinson«, antwortete Dora. »Und du hast die ganze Zeit geglaubt, Mabel wäre es.«
»Ja, so ist es gewesen«, antwortete Pentfield langsam. »Aber jetzt verstehe ich. Der Reporter hat die beiden Namen verwechselt. Die Zeitungen in Seattle und Portland haben es dann nachgedruckt.«
Eine Minute stand er schweigend da. Mabels Gesicht war ihm zugewandt, und er konnte den erwartungsvollen Ausdruck sehen. Corry betrachtete mit ungeheurem Interesse die zerrissenen Zehen seines einen Mokassins, während Dora lange Seitenblicke auf das unbewegliche Gesicht Laschkas warf, die im Schlitten saß. Lawrence Pentfield starrte vor sich hin – und schaute in eine unendlich traurige Zukunft, in deren grauer Monotonie er sich selbst auf einem Schlitten neben Laschka hinter laufenden Hunden sah.
Dann sprach er ganz einfach und sah Mabel dabei in die Augen.
»Es tut mir grenzenlos leid. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich glaubte, du hättest Corry geheiratet. Es ist meine Frau, die auf dem Schlitten dort sitzt.«
Mabel Holmes wandte sich halb ohnmächtig ihrer Schwester zu. Es sah aus, als ob die ganze Müdigkeit der langen Reise sie jetzt mit einem Male überfiele. Dora legte ihren Arm um sie. Corry Hutchinson war immer noch mit seinen Mokassins beschäftigt. Pentfield blickte schnell von Gesicht zu Gesicht. Dann wandte er sich nach dem Schlitten.
»Wir können nicht den ganzen Tag hier stehenbleiben, wenn Petes Kindchen auf uns wartet«, sagte er zu Laschka.
Die lange Hundepeitsche zischte durch die Luft, die Hunde warfen sich in die Sielen, und der Schlitten wurde schlingernd vorwärts geschleudert.
»Hör, Corry«, rief Pentfield über die Schulter zurück. »Du kannst ruhig die alte Hütte nehmen. Ich habe sie einige Zeit nicht benutzt. Ich habe eine neue oben auf dem Hügel gebaut.«
Sie humpelten unter Schmerzen den Hang hinunter, und einmal stolperte der vorderste der beiden Männer über einen der herumliegenden Felsblöcke. Sie waren sehr erschöpft und kraftlos. Ihre Gesichter trugen den Ausdruck bitterer Geduld, der eine Folge allzulang ertragener Entbehrungen ist. Sie schleppten schwere Lasten auf dem Rücken, Deckenbündel, die mit Riemen an den Schultern befestigt waren. Auch um die Stirn hatten sie einen Riemen gelegt, um den Druck der Bündel auf die Schultern zu erleichtern. Jeder trug ein Gewehr. Sie gingen gebückt, die Schultern weit vorgeschoben, den Kopf tief hinabhängend, die Augen starr auf den Boden gerichtet. »Ich wünschte, wir hätten zwei von den Patronen, die wir in unserm Depot liegen haben«, sagte der Mann, der hinterherging.
Seine Stimme hatte einen unheimlich gleichgültigen Klang. Er sprach ohne jeden Eifer, und der vorangehende, der soeben in den milchigen Strom hinaushinkte, der über die Felsblöcke schäumte, würdigte ihn keiner Antwort.
Der andere folgte ihm auf den Fersen. Es fiel ihnen nicht ein, sich die Fußbekleidung auszuziehen, obgleich das Wasser eisig kalt war – so kalt, dass ihnen die Gelenke schmerzten und die Füße ganz unempfindsam wurden. An einzelnen Stellen ging ihnen das Wasser bis zu den Knien, und beide Männer waren nahe daran, das Gleichgewicht zu verlieren.
Der zweite Mann glitt auf einem glatten Kieselstein aus. Er wäre beinahe gestürzt, kam jedoch mit einer gewaltigen Anstrengung wieder auf die Beine und stieß dabei einen scharfen Schmerzensruf aus. Er schien plötzlich kraftlos und schwindlig zu werden, streckte die freie Hand aus und fuchtelte mit ihr in der Luft herum, wie um eine Stütze zu finden. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ging er einige Schritte vorwärts, taumelte jedoch abermals, fuchtelte mit den Armen und schien fallen zu wollen. Dann blieb er stehen und sah dem anderen Manne nach, der nicht ein einziges Mal den Kopf gedreht hatte.
Eine volle Minute blieb er stehen, als ob er etwas ernst überlegte. Dann rief er laut:
»Hörst du denn nicht, Bill, ich hab’ mir den Fuß verstaucht.«
Bill wankte weiter durch den milchigen Strom. Er wandte nicht den Kopf, sah sich nicht um. Der andere stand noch immer da und sah ihn gehen. Und obgleich sein Gesicht ausdruckslos wie zuvor war, glichen seine Augen denen eines verwundeten Hirsches.
Bill erkletterte unterdessen das andere Ufer und setzte seinen Weg fort, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Der Mann im Fluss beobachtete ihn. Seine Lippen zitterten ein wenig, sodass die langen rauen Haare des braunen Bartes, der sie verbarg, sich sichtlich bewegten. Er befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge.
»Bill!« rief er.
Es war der verzweifelte Hilferuf eines starken Mannes, der in Not war, aber Bill wandte nicht einmal den Kopf. Der Zurückgebliebene sah ihn weitergehen. Sah, wie er grotesk dahinhumpelte, sich mit unsicheren Schritten den sanft ansteigenden Hang zu der dunstigen Kuppe des niedrigen Hügels hinauf schlich. Er sah ihm nach, bis er den Kamm erreicht hatte und hinter dem Horizont verschwunden war. Dann wandte er den Blick ab und ließ ihn langsam in dem engen Kreis schweifen, der jetzt nach Bills Verschwinden alles war, was ihm von der Welt geblieben.
Tief am Horizont glomm fahl die Sonne, fast verborgen hinter gestaltlosen Nebeln und Dämpfen, die wie dichte Massen, aber ohne feste Form und Linien wirkten. Der Mann nahm die Uhr heraus, während er sich mit seinem ganzen Gewicht auf das eine Bein stützte. Es war vier. Und da es schon Ende Juli oder Anfang August sein musste – er wusste seit einer Woche oder vierzehn Tagen das Datum nicht mehr genau –, zeigte die Sonne jetzt, wenn auch nur ungenau, die Nordwestrichtung an. Er warf einen Blick nach dem Süden – irgendwo dort unten jenseits der öden und windigen Hügel lag – das wusste er – der Große Bärensee. Er wusste auch, dass in dieser Richtung der Polarkreis die Einöden Kanadas durchschnitt. Der Fluss, in dem er jetzt stand, war ein Nebenfluss des Coppermine, der nach Norden strömte und in die Coronation-Bucht und in das Nördliche Eismeer mündete. Er war noch nie dort gewesen, hatte es aber einmal auf einer Karte bei der Hudson-Bay-Company gesehen.
Wieder durchmaß sein Blick den Kreis der Welt, die ihm geblieben war. Es war kein sehr erheiterndes Schauspiel, das sich ihm darbot. Wo er hinsah – überall derselbe weiche Horizont. Die Hügel waren alle sehr niedrig. Nirgends waren Bäume, nirgends Gebüsch oder Gras zu sehen … es gab nichts als erschütternde, furchtbare Öde und Einsamkeit. Langsam und leise tauchte unüberwindbare Furcht in seinen Augen auf.
»Bill!« flüsterte er, einmal, zweimal. »Bill!«
Er watete in das milchige Wasser hinein, als ob die ungeheure Öde ihn mit unwiderstehlicher Schwere weiterschob, während sie ihn mit grausamer, brutaler Freude zermalmte. Wie in einem Anfall von Schüttelfrost zitterte er, bis das Gewehr ihm aus der Hand und mit einem Plätschern ins Wasser fiel. Das brachte ihn wieder zu sich. Er bekämpfte seine Angst und nahm sich gewaltsam zusammen. Er bückte sich, suchte im Wasser, bis er sein Gewehr gefunden hatte, und hob es auf. Dann schob er sich das Bündel weiter auf die linke Schulter hinauf, als ob er dadurch dem rechten Fuß, den er sich verstaucht hatte, das Gewicht abnehmen wollte. Und langsam und vorsichtig näherte er sich, vor Schmerzen zuckend, dem anderen Ufer.
Hier blieb er nicht stehen. Mit einer verzweifelten Anstrengung, die an Wahnsinn grenzte, eilte er, ohne auf den Schmerz zu achten, den Hügel hinan, um den Gipfel zu erreichen, hinter dem sein Kamerad vorhin verschwunden war … noch grotesker und noch tragikomischer anzusehen, als sein humpelnder, springender Genosse es gewesen. Als er aber den Gipfel erreicht hatte, sah er vor sich nur ein flaches Tal, das von allem Leben entblößt war. Wieder bekämpfte er seine Angst, überwand sie, schob sich das Bündel noch weiter nach links hinüber und taumelte den Hang hinunter.
Die Sohle des Tales war feucht. Dichtes Moos klebte wie nasser Schwamm an den Fersen. Das Wasser quoll bei jedem Schritt, den er machte, unter seinen Füßen hervor. Und jedes Mal, wenn er den Fuß wieder hob, gab es ein glucksendes, saugendes Geräusch, wie wenn das Moos nur zögernd seinen Griff um den Mokassin aufgab. Er suchte sich vorsichtig die Stellen aus, wo er den Fuß hinsetzen konnte, und folgte dabei nach Möglichkeit der Fährte seines Kameraden zwischen den Felsblöcken, die sich wie kleine Inseln aus dem Meere von Moos erhoben.
Obgleich allein, war er doch nicht verloren. Er wusste, dass er ein Stück weiter eine Stelle erreichen musste, wo abgestorbene Tannen und Kiefern verwachsen und verdorrt das Ufer eines kleinen Sees umsäumten, der in der Sprache der Eingeborenen Titchinniechilie hieß. Das Land selbst wurde das »Land der kleinen Zweige« genannt. Und durch diesen See strömte ein kleiner Fluss, dessen Wasser nicht milchig war. An diesem Fluss wuchs auch Schilf, dessen entsann er sich noch, aber Wald war nicht da. Diesem Fluss wollte er bis zur ersten Wasserscheide folgen. Die wollte er dann überschreiten, bis er den nächsten Fluss traf, der nach Westen floss, und der ihn bis zu dem größeren Dease-Fluss führen musste. Hier würde er unter einem umgekippten Kanu und mit vielen großen Steinen bedeckt ihr Depot finden. In diesem Depot befanden sich Munition für sein leeres Gewehr, Angelhaken und -leinen, ja sogar ein kleines Netz – kurz, alles Gerät, das zum Fangen und Töten der verschiedenen Tiere notwendig war. Dort würde er auch Mehl – freilich nicht sehr viel –, ein Stück Räucherspeck und einige Bohnen finden.
Wahrscheinlich wartete auch Bill dort auf ihn. Sie konnten dann gemeinsam den Dease bis zum Großen Bärensee hinunterpaddeln. Den überquerten sie dann in südlicher Richtung, immer weiter nach Süden, bis sie den Mackenzie erreichten. Und weiter, immer weiter nach Süden würden sie ziehen. Während der Winter ihnen vergeblich nachlief und die Eiskruste selbst die Strudel erstarren ließ und die Tage kalt und klingend klar machte, würden sie selbst immer weiter nach Süden wandern, bis sie eine behagliche Station der Hudson-Bay-Company erreichten, wo der Wald hoch und reich wuchs und wo es Lebensmittel ohne Ende gab.
Solche Gedanken schössen durch den Kopf des Mannes, der sich langsam und mühselig vorwärts kämpfte. Aber wenn er auch große Anforderungen an seinen Körper stellte, so war doch der Kampf, den er mit seiner Seele führte, nicht weniger hart. Vergebens versuchte er sich vorzutäuschen, dass Bill ihn gar nicht verlassen hätte, dass Bill sicher beim Depot auf ihn warten würde. Er war gezwungen, aus allen Kräften an diesem Glauben festzuhalten, denn sonst wäre er gar nicht imstande gewesen weiterzuschreiten; er hätte sich einfach hingelegt und wäre gestorben. Und als der düster glimmende Sonnenball langsam hinter dem nordwestlichen Hügelrand verschwunden war, ging er in Gedanken, immer wieder, jeden Zoll durch, den Bill und er südwärts ziehen mussten, um dem kommenden Winter zu entfliehen. Und ein Mal über das andere stellte er sich die Lebensmittel im Depot und die, welche er bei der Hudson-Bay-Station erhalten würde, vor Augen. Seit zwei Tagen hatte er nichts zu essen bekommen, und schon seit langem hatte er nicht gegessen, was er zu essen wünschte. Manchmal blieb er stehen und pflückte die blassen Moosbeeren, steckte sie in den Mund, kaute und verschlang sie. Eine Moosbeere besteht aber nur aus einem kleinen, von etwas Flüssigkeit umgebenen Samen. Im Munde verschwindet die Flüssigkeit, und der Samen, der übrigbleibt, schmeckt bitter und scharf. Der Mann wusste genau, dass die Beere keinen Nährwert hat, aber er kaute sie trotzdem geduldig mit einer Hoffnungsfreudigkeit, die größer als alles Wissen war und sich den Teufel um alle praktischen Erfahrungen scherte.
Gegen neun Uhr stieß er sich den Zeh an einem Stein, und vor lauter Müdigkeit und Schwäche stolperte er und stürzte. Er lag einige Zeit auf dem feuchten Boden, ohne die Kraft zu haben, wieder aufzustehen. Dann gelang es ihm, die Gepäckriemen abzustreifen, und mühselig und schwerfällig setzte er sich auf. Es war noch nicht ganz dunkel geworden, und in der zögernden Dämmerung suchte er mit den Händen auf dem Boden, um etwas Moos zu finden, das trocken genug war. Als er einen kleinen Haufen zusammengeschabt hatte, machte er ein Feuer – ein schwach glimmendes, rauchendes Feuer und stellte den Zinntopf auf, um Wasser zu kochen.
Er öffnete sein Bündel, und das erste, was er dann tat, war, dass er seine Streichhölzer zählte. Es waren im ganzen siebenundsechzig. Er zählte sie dreimal, um seiner Sache sicher zu sein. Dann teilte er sie in drei Häufchen und packte jedes für sich in Ölpapier ein. Das erste Häufchen tat er hierauf in seinen leeren Tabaksbeutel, das zweite in das Schweißleder seines arg mitgenommenen Hutes, während er das dritte auf der Brust unter dem Hemd verbarg. Als das getan war, überkam ihn plötzlich ein panischer Schrecken, er packte sie alle wieder aus und zählte sie noch einmal. Es waren immer noch siebenundsechzig.
Er trocknete seine Fußbekleidung am Feuer. Die Mokassins waren zu durchnässten Fetzen geworden. Die Überzugstrümpfe waren durchlöchert, seine Füße zerschunden und blutig. In seinem Fußgelenk hämmerte es, und er untersuchte es deshalb. Es war so stark angeschwollen, dass es ebenso dick wie das Knie war. Er riss einen langen Streifen von einer seiner beiden Decken und band ihn straff um das Fußgelenk. Er riss weitere Streifen ab und band sie um seine Füße, damit sie ihm gleichzeitig als Strümpfe und als Mokassins dienen konnten. Dann trank er den ganzen Topf heißes Wasser aus, zog seine Uhr auf und kroch in seinen Schlafsack.
Er schlief wie ein Toter. Die kurze Dunkelheit um Mitternacht kam und schwand. Im Nordosten ging die Sonne auf – oder richtiger gesagt, die Dämmerung brach drüben an, denn die Sonne selbst blieb hinter grauen Wolken verborgen.
Um sechs Uhr wachte er auf. Er lag ruhig auf dem Rücken, starrte in den grauen Himmel empor und fühlte nur das eine, dass er hungrig war. Als er sich auf die Seite legte und sich auf den Ellbogen stützte, hörte er zu seinem Staunen ein lautes Schnarchen und sah einen Renntierbullen, der ihn wachsam und neugierig betrachtete. Das Tier war kaum zwanzig Schritt von ihm entfernt, und im selben Augenblick schoss dem Mann die Vision und der Geschmack eines Renntierbratens, der auf dem Feuer zischte und schmorte, durch den Kopf. Mechanisch streckte er die Hand nach dem leeren Gewehr aus, zielte und drückte ab. Der Bulle schnaufte und lief in weiten Sprüngen davon. Seine Hufe klapperten und schlugen, während er über die Felsblöcke hinübersetzte.