Jack London – Gesammelte Werke

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»Las­sen Sie Cor­ry sich nur amü­sie­ren«, ant­wor­te­te Pent­field. »Er hat es sich red­lich ver­dient.«

»Je­der nach sei­nem Ge­schmack«, lach­te Nick In­wood. »Aber ich wür­de hei­ra­ten doch nicht sich amü­sie­ren nen­nen …«

»Cor­ry ver­hei­ra­tet!« rief Pent­field un­gläu­big, aber doch ver­blüfft.

»Ja­wohl«, sag­te In­wood. »Ich habe es in der Fri­s­ko­er Zei­tung ge­le­sen, die heut mor­gen über das Eis ge­bracht wur­de.«

»Nun – und wie heißt das Mä­del?« frag­te Pent­field, sein Ge­sicht hat­te den Aus­druck ge­dul­di­ger Tap­fer­keit, mit dem ein Mann den Kö­der schluckt und sich da­bei klar ist, dass gleich ein mäch­ti­ges Ge­läch­ter auf sei­ne Kos­ten fol­gen wird.

Nick In­wood nahm die Zei­tung aus der Ta­sche und such­te dar­in, wäh­rend er sag­te:

»Ich hab’ lei­der kein gu­tes Ge­dächt­nis für Na­men, aber ich glau­be, es war so was wie Ma­bel – ja rich­tig, hier steht es – Ma­bel Hol­mes, Toch­ter von Rich­ter Hol­mes, mag der nun sein, wer er will …«

La­wrence Pent­field ließ sich nicht das ge­rings­te an­mer­ken, ob­gleich er sich frag­te, wie in al­ler Welt ihr Name hier im Nord­land be­kannt sein könn­te. Er blick­te ru­hig von Ge­sicht zu Ge­sicht, um ir­gend­wel­che An­zei­chen von dem Streich zu ent­de­cken, den man ihm spie­len woll­te, aber ab­ge­se­hen von ei­ner selbst­ver­ständ­li­chen Neu­gier war nichts zu be­mer­ken. Dann wand­te er sich an den Spiel­be­sit­zer und sag­te kühl und ru­hig:

»In­wood, ich habe hier eben einen Fünf­hun­der­ter be­kom­men, der mir zu­flüs­tert, dass das, was Sie da er­zäh­len, nicht in der Zei­tung steht.«

Der Spiel­be­sit­zer sah ihn mit ko­mi­scher Neu­gier­de an.

»Ge­hen Sie, mein Jun­ge … ich will Ihr Geld nicht ha­ben.«

»Ich dach­te nur«, knurr­te Pent­field, wand­te sich wie­der dem Spiel zu und setz­te auf ei­ni­ge Kar­ten. Nick In­wood be­kam einen ro­ten Kopf, ließ den Blick sorg­fäl­tig über die Spal­ten der Zei­tung schwei­fen, als ob er selbst sei­nen Sin­nen nicht recht trau­te. Dann wand­te er sich an Pent­field.

»Se­hen Sie selbst hier«, sag­te er schnell und ner­vös. »Ich kann das nicht zu­ge­ben, ver­ste­hen Sie.«

»Was zu­ge­ben?« frag­te Pent­field bru­tal.

»Ihre An­deu­tung, dass ich ge­lo­gen hät­te.«

»Un­sinn«, lau­te­te die Ant­wort. »Ich woll­te nur an­deu­ten, dass Sie ver­such­ten, einen takt­lo­sen Witz zu ma­chen.«

»Ma­chen Sie Ihre Ein­sät­ze, mei­ne Her­ren«, rief der Crou­pier.

»Aber ich sage Ih­nen, dass es wahr ist«, be­harr­te Nick In­wood.

»Und ich habe ge­sagt, dass ich fünf­hun­dert dar­auf wet­te, dass es nicht in der Zei­tung steht«, sag­te Pent­field und zog gleich­zei­tig einen schwe­ren Gold­beu­tel aus der Ta­sche.

»Ich habe kei­ne Lust, Ih­nen Ihr Geld zu neh­men«, lau­te­te die Ant­wort, als er Pent­field die Zei­tung in die Hand steck­te.

Pent­field sah es, ob­gleich es ihm kaum mög­lich war, es zu glau­ben. Er warf einen flüch­ti­gen Blick auf die Über­schrift »Jung Lo­chin­var kam aus dem Nor­den« und las den Ar­ti­kel flüch­tig durch, bis die bei­den ne­ben­ein­an­der­ste­hen­den Na­men Ma­bel Hol­mes und Cor­ry Hutchin­son ihm buch­stäb­lich in die Au­gen spran­gen. Dann blick­te er nach dem Kopf des Blat­tes und sah, dass es eine San Fran­zis­ko­er Zei­tung war.

»Das Geld ge­hört Ih­nen, In­wood«, be­merk­te er mit ei­nem kur­z­en La­chen. »Aber da steht nichts da­von, was mein Part­ner tun wird, wenn er ab­ge­reist ist.«

Dann nahm er die Zei­tung wie­der in die Hand und las die No­tiz Wort für Wort, sehr lang­sam und sorg­fäl­tig. Er konn­te nicht län­ger zwei­feln. Es stand fest, dass Cor­ry Hutchin­son Ma­bel Hol­mes ge­hei­ra­tet hat­te. »Ei­ner der Bo­nanz­a­kö­ni­ge«, so wur­de er ge­schil­dert, »Part­ner von La­wrence Pent­field (den die vor­neh­me Ge­sell­schaft San Fran­zis­kos noch nicht ver­ges­sen ha­ben wird) und ge­mein­sam mit die­sem Herrn an an­de­ren rei­chen Mi­nen­un­ter­neh­mun­gen be­tei­ligt.« Fer­ner las er, »dass Herr und Frau Hutchin­son nach ei­nem kur­z­en Aus­flug nach De­troit ihre ei­gent­li­che Hoch­zeits­rei­se nach dem be­zau­bern­den Klon­di­ke­lan­de ma­chen wol­len.«

»Ich kom­me spä­ter wie­der«, sag­te Pent­field. »Hal­ten Sie bit­te den Platz für mich frei.« Er stand auf und nahm sei­nen Beu­tel, der in­zwi­schen beim Kas­sie­rer ge­we­sen und um fünf­hun­dert Dol­lar leich­ter zu­rück­ge­kehrt war.

Er trat auf die Stra­ße hin­aus und kauf­te sich eine Se­att­le­zei­tung. Sie ent­hielt den­sel­ben Be­richt, wenn auch ein we­nig ge­kürzt. Es war nicht mehr zu be­zwei­feln, dass Cor­ry und Ma­bel ver­hei­ra­tet wa­ren. Pent­field kehr­te nach der Oper zu­rück und nahm wie­der sei­nen Platz am Spiel­tisch ein. Er bat die Höchst­gren­ze auf­zu­he­ben.

»Wol­len wohl ver­su­chen, et­was Le­ben in die Bude zu krie­gen«, sag­te Nick In­wood und nick­te dem Crou­pier sein Ein­ver­ständ­nis zu. »Ich woll­te ge­ra­de in den A.C.-La­den ge­hen, aber jetzt glau­be ich doch, dass ich lie­ber blei­be und zu­se­he, wie es Ih­nen er­geht.«

Nach zwei­stün­di­gem Kampf zeig­te es sich, wie es La­wrence Pent­field er­gan­gen war. Der Crou­pier biss die Spit­ze ei­ner fri­schen Zi­gar­re ab, zün­de­te ein Streich­holz an und ver­kün­de­te, dass die Bank ge­sprengt sei. Pent­field steck­te die Vier­zig­tau­send ein, gab Nick In­wood die Hand und teil­te ihm mit, dass es das letz­te­mal sei, dass er an sei­nem Spiel­tisch oder an ei­nem an­de­ren ge­spielt hät­te.

Kei­ner ahn­te oder ver­mu­te­te, dass er ge­trof­fen, noch we­ni­ger, dass er schwer ge­trof­fen war. Sei­nem Auf­tre­ten war kein Un­ter­schied an­zu­mer­ken. Eine Wo­che ging er sei­ner Ar­beit nach, ganz wie er es im­mer ge­tan, bis er einen Be­richt über die Hoch­zeit in ei­ner Port­land­zei­tung las. Dann rief er einen Freund, bat ihn, sich sei­ner Mine an­zu­neh­men, und reis­te hin­ter sei­nen Hun­den den Yu­kon hin­auf. Bis Whi­te Ri­ver folg­te er dem Wege nach dem Salz­was­ser­see, dort aber bog er ab. Fünf Tage spä­ter stieß er auf ein Jagd­la­ger der Whi­te-Ri­ver-In­dia­ner. Abends wur­de ein Fest ab­ge­hal­ten, und er saß auf dem Ehren­platz ne­ben dem Häupt­ling. Am nächs­ten Mor­gen lenk­te er sei­ne Hun­de nach dem Yu­kon zu­rück. Aber er reis­te nicht mehr al­lein. Eine jun­ge Squaw füt­ter­te an die­sem Abend sei­ne Hun­de für ihn und half ihm das La­ger be­rei­ten. Sie war in ih­rer Kind­heit von ei­nem Bä­ren über­fal­len wor­den und hin­k­te im­mer noch leicht. Sie hieß Lasch­ka, und sie war an­fangs et­was miss­trau­isch ge­gen den frem­den wei­ßen Mann, der plötz­lich aus dem Un­be­kann­ten auf­ge­taucht war, sie hei­ra­te­te, ohne ihr ein Wort oder einen Blick zu schen­ken, und der sie jetzt mit sich in das Un­be­kann­te nahm.

Aber Lasch­kas Schick­sal war bes­ser als das, wel­ches wil­den In­dia­ner­mäd­chen sonst zu­teil wird, wenn sie wei­ße Män­ner im Nord­land hei­ra­ten. So­bald sie Daw­son er­reicht hat­ten, wur­de die in­dia­ni­sche Ehe, die sie ver­band, nach Art der wei­ßen Män­ner fei­er­lich vor dem Pries­ter be­stä­tigt. Von Daw­son, wo ihr al­les als Traum und Wun­der er­schi­en, brach­te er sie di­rekt nach der Bo­nanz­a­mi­ne und in das aus vier­e­cki­gen Plan­ken er­bau­te Haus auf dem Hü­gel.

Das neun­tä­gi­ge Stau­nen, das die Fol­ge da­von war, wur­de nicht so sehr durch den Um­stand her­vor­ge­ru­fen, dass La­wrence Pent­field sich eine Squaw für Bett und Tisch ge­wählt hat­te, wie durch die Fei­er­lich­keit, durch die er den Bund le­ga­li­sier­te. Dass er die­se Hei­rat be­son­ders sank­tio­nie­ren ließ, war das ein­zi­ge, was der Ge­sell­schaft un­ver­ständ­lich er­schi­en. Aber nie­mand ließ Pent­field et­was mer­ken. So­lan­ge die Lau­nen ei­nes Man­nes der Ge­mein­schaft nicht scha­den, lässt man ihn in Ruhe, und Pent­field wur­de nicht ein­mal aus den Hüt­ten der Män­ner ver­bannt, die wei­ße Frau­en hat­ten. Die Trau­ze­re­mo­nie hat­te die Wir­kung, dass er nicht zu den Squa­w­män­nern ge­rech­net wur­de, und ent­hob ihn je­des mo­ra­li­schen Vor­wurfs, wenn es auch Män­ner gab, die sei­nen Ge­schmack kri­ti­sier­ten.

Von der Au­ßen­welt be­kam er kei­ne Brie­fe mehr. Sechs Schlit­ten­la­dun­gen mit Post wa­ren am großen Lachs­fluss ver­lo­ren­ge­gan­gen. Au­ßer­dem wuss­te Pent­field auch, dass Cor­ry und sei­ne Braut zu die­ser Zeit schon un­ter­wegs sein muss­ten. Sie muss­ten sich eben jetzt auf der Hoch­zeits­rei­se be­fin­den … Auf der Hoch­zeits­rei­se, von der er zwei Jah­re lang ge­träumt hat­te. Er ver­zog bei die­sem Ge­dan­ken bit­ter den Mund. Aber er ließ sich nichts mer­ken, ab­ge­se­hen da­von, dass er freund­li­cher zu Lasch­ka wur­de.

Der März war schon längst vor­bei, und der April nä­her­te sich sei­nem Ende, als Lasch­ka ihn um die Er­laub­nis bat, den Yu­kon ei­ni­ge Mei­len ab­wärts nach der Hüt­te Si­wash Pe­tes zu fah­ren. Pe­tes Frau, die vom Ste­wart Ri­ver stamm­te, hat­te Be­scheid ge­schickt, dass ihr klei­nes Kind krank war. Und Lasch­ka, die au­ßer­or­dent­lich müt­ter­lich ver­an­lagt war und sich selbst für er­fah­ren in Be­zug auf Kin­der­krank­hei­ten hielt, ließ kei­ne Ge­le­gen­heit vor­über­ge­hen, um sich der Kin­der an­de­rer Frau­en an­zu­neh­men, die glück­li­cher wa­ren als sie.

Pent­field schirr­te die Hun­de an, und Lasch­ka hin­ter sich, schlug er den Weg das Bett des Bo­nan­za hin­ab ein. Früh­ling lag in der Luft. Die Käl­te hat­te ihre schnei­den­de Schär­fe ver­lo­ren, und wenn auch der Schnee im­mer noch das Land be­deck­te, so er­zähl­te doch das Mur­meln und Rie­seln des Was­sers, dass der ei­ser­ne Griff des Win­ters sich lo­cker­te. Der Weg war grund­los, hier und dort hat­te man einen neu­en Weg um die Lö­cher her­um ge­schaf­fen. An ei­ner sol­chen Stel­le, wo nicht ge­nü­gend Platz war, dass zwei Schlit­ten ein­an­der aus­wei­chen konn­ten, hör­te Pent­field das Läu­ten von Schel­len, die sich nä­her­ten, und ließ des­halb sei­ne Hun­de halt­ma­chen.

 

Ein Ge­spann mü­der Hun­de kam um die nächs­te Ecke, von ei­nem schwer­be­la­de­nen Schlit­ten ge­folgt. An der Lenk­stan­ge ging ein Mann, der auf eine Art steu­er­te, die Pent­field be­kannt vor­kam, und hin­ter dem Schlit­ten ka­men zwei Frau­en. Sein Blick such­te wie­der den Mann an der Lenk­stan­ge. Es war Cor­ry. Pent­field stand auf und war­te­te. Er war froh, dass er Lasch­ka bei sich hat­te. Wenn die Be­geg­nung ar­ran­giert wor­den wäre, hät­te sie nicht un­ter güns­ti­ge­ren Be­din­gun­gen statt­fin­den kön­nen, dach­te er. Und wäh­rend er da­stand und war­te­te, über­leg­te er, was sie wohl sa­gen wür­den, was sie sa­gen könn­ten. Er selbst brauch­te ja nichts zu er­klä­ren. Das war ihre Sa­che, und er war be­reit, sie an­zu­hö­ren.

Als sie ein­an­der ge­gen­über­stan­den, er­kann­te Cor­ry ihn und blieb ste­hen. Mit ei­nem »Hal­lo, Al­ter!« streck­te er die Hand aus.

Pent­field nahm die Hand, aber ohne Wär­me, ohne Wor­te. Jetzt hat­ten die bei­den Da­men sie er­reicht, und er sah, dass die eine Dora Hol­mes war. Er nahm sei­ne Pelz­müt­ze ab, de­ren Ohren­klap­pen flat­ter­ten, gab ihr die Hand und wand­te sich dann zu Ma­bel. Sie nä­her­te sich mit wie­gen­den Schrit­ten, strah­lend und blen­dend, zö­ger­te aber vor sei­ner aus­ge­streck­ten Hand. Er hat­te ei­gent­lich die Ab­sicht ge­habt zu sa­gen:

»Wie geht es Ih­nen, Frau Hutchin­son?« … aber ir­gend­wie hat­te das »Frau Hutchin­son« ihn ver­wirrt, und er war des­halb nur im­stan­de, ein »Wie geht es Ih­nen?« her­vor­zu­stot­tern.

Die Lage war ge­nau so ge­zwun­gen und un­be­quem, wie er es ge­wünscht hat­te. Ma­bel ver­riet die Er­re­gung, die sie ih­rer per­sön­li­chen Lage ent­spre­chend emp­fand, wäh­rend Dora of­fen­bar die Rol­le ei­ner Art Frie­dens­ver­mitt­le­rin spie­len woll­te und sag­te: »Was ist denn mit dir los, La­wrence?«

Be­vor er ant­wor­ten konn­te, nahm Cor­ry ihn beim Är­mel und zog ihn bei­sei­te.

»Sag mal, Al­ter, was be­deu­tet denn das?« Cor­ry stell­te die Fra­ge im Flüs­ter­ton und wies mit den Au­gen auf Lasch­ka.

»Ich ver­ste­he nicht, Cor­ry, was die­se Sa­che dich an­ge­hen soll­te«, gab Pent­field spöt­tisch zur Ant­wort.

Aber Cor­ry ging ge­ra­des­wegs auf die Sa­che los.

»Was macht die­se Frau auf dei­nem Schlit­ten? Eine schö­ne Auf­ga­be, die du mir stellst, dies zu er­klä­ren. Ich hof­fe nur, dass es über­haupt ge­hen wird! Wer ist sie denn? Wes­sen Squaw ist sie?«

Da führ­te La­wrence Pent­field sei­nen ver­nich­ten­den Schlag, und noch dazu mit ei­nem ge­wis­sen Über­mut, der ihn für das ihm an­ge­ta­ne Un­recht ein we­nig zu ent­schä­di­gen schi­en.

»Sie ist mei­ne Squaw«, sag­te er. »Frau Pent­field, wenn Sie ge­stat­ten.«

Cor­ry Hutchin­son stöhn­te, aber Pent­field ließ ihn ste­hen und wand­te sich zu den bei­den Frau­en. Ma­bel stand mit ge­quäl­ter Mie­ne da und schi­en sich nur mit Mühe auf­recht­zu­hal­ten. Er wand­te sich zu Dora und frag­te, sehr freund­lich, als ob die gan­ze Welt nur Son­nen­schein wäre:

»Wie ha­ben Sie die Fahrt über­stan­den? War es schwer, sich nachts warm zu hal­ten? – Und wie ist sie Frau Hutchin­son be­kom­men?« frag­te er dann und warf einen Blick auf Ma­bel.

»Oh, du lie­ber Kinds­kopf!« rief Dora, schlang ihm bei­de Arme um den Hals und drück­te ihn an sich. »Dann hast du es also auch ge­se­hen! Ich dach­te mir ja schon, dass et­was los sein müss­te, weil du dich so son­der­bar be­nahmst.«

»Ich ver­ste­he nicht recht«, stam­mel­te er.

»In der Num­mer vom nächs­ten Tage wur­de es schon be­rich­tigt«, plau­der­te Dora wei­ter. »Wir lie­ßen uns ja nicht träu­men, dass du ge­ra­de die­se Zei­tung in die Hand be­kom­men soll­test. In al­len an­de­ren stand es rich­tig, und na­tür­lich ist die­se dum­me Zei­tung die ein­zi­ge, die du ge­le­sen hast …«

»Wart einen Au­gen­blick! Wie meinst du das?« frag­te Pent­field, und auf ein­mal wur­de sein Herz von ei­ner furcht­ba­ren Angst er­grif­fen, und er hat­te das Ge­fühl, am Ran­de ei­nes tie­fen Ab­grun­des zu ste­hen.

Aber Dora fuhr mit un­ge­heu­rer Zun­gen­fer­tig­keit fort:

»Und weißt du, als es be­kannt wur­de, dass so­wohl Ma­bel wie ich nach Klon­di­ke gin­gen, schrieb die ›Wo­chen­post‹, dass es, wenn wir weg­gin­gen, ›wun­der­bar‹ in der Myr­don Ave­nue wer­den wür­de. Das Blatt mein­te na­tür­lich ›son­der­bar‹.«

»Dann – –«

»Ich bin Frau Hutchin­son«, ant­wor­te­te Dora. »Und du hast die gan­ze Zeit ge­glaubt, Ma­bel wäre es.«

»Ja, so ist es ge­we­sen«, ant­wor­te­te Pent­field lang­sam. »Aber jetzt ver­ste­he ich. Der Re­por­ter hat die bei­den Na­men ver­wech­selt. Die Zei­tun­gen in Se­att­le und Port­land ha­ben es dann nach­ge­druckt.«

Eine Mi­nu­te stand er schwei­gend da. Ma­bels Ge­sicht war ihm zu­ge­wandt, und er konn­te den er­war­tungs­vol­len Aus­druck se­hen. Cor­ry be­trach­te­te mit un­ge­heu­rem In­ter­es­se die zer­ris­se­nen Ze­hen sei­nes einen Mo­kass­ins, wäh­rend Dora lan­ge Sei­ten­bli­cke auf das un­be­weg­li­che Ge­sicht Lasch­kas warf, die im Schlit­ten saß. La­wrence Pent­field starr­te vor sich hin – und schau­te in eine un­end­lich trau­ri­ge Zu­kunft, in de­ren grau­er Mo­no­to­nie er sich selbst auf ei­nem Schlit­ten ne­ben Lasch­ka hin­ter lau­fen­den Hun­den sah.

Dann sprach er ganz ein­fach und sah Ma­bel da­bei in die Au­gen.

»Es tut mir gren­zen­los leid. Das hät­te ich mir nie träu­men las­sen. Ich glaub­te, du hät­test Cor­ry ge­hei­ra­tet. Es ist mei­ne Frau, die auf dem Schlit­ten dort sitzt.«

Ma­bel Hol­mes wand­te sich halb ohn­mäch­tig ih­rer Schwes­ter zu. Es sah aus, als ob die gan­ze Mü­dig­keit der lan­gen Rei­se sie jetzt mit ei­nem Male über­fie­le. Dora leg­te ih­ren Arm um sie. Cor­ry Hutchin­son war im­mer noch mit sei­nen Mo­kass­ins be­schäf­tigt. Pent­field blick­te schnell von Ge­sicht zu Ge­sicht. Dann wand­te er sich nach dem Schlit­ten.

»Wir kön­nen nicht den gan­zen Tag hier ste­hen­blei­ben, wenn Pe­tes Kind­chen auf uns war­tet«, sag­te er zu Lasch­ka.

Die lan­ge Hun­de­peit­sche zisch­te durch die Luft, die Hun­de war­fen sich in die Sie­len, und der Schlit­ten wur­de schlin­gernd vor­wärts ge­schleu­dert.

»Hör, Cor­ry«, rief Pent­field über die Schul­ter zu­rück. »Du kannst ru­hig die alte Hüt­te neh­men. Ich habe sie ei­ni­ge Zeit nicht be­nutzt. Ich habe eine neue oben auf dem Hü­gel ge­baut.«

Die Liebe zum Leben

Sie hum­pel­ten un­ter Schmer­zen den Hang hin­un­ter, und ein­mal stol­per­te der vor­ders­te der bei­den Män­ner über einen der her­um­lie­gen­den Fels­blö­cke. Sie wa­ren sehr er­schöpft und kraft­los. Ihre Ge­sich­ter tru­gen den Aus­druck bit­te­rer Ge­duld, der eine Fol­ge all­zu­lang er­tra­ge­ner Ent­beh­run­gen ist. Sie schlepp­ten schwe­re Las­ten auf dem Rücken, De­cken­bün­del, die mit Rie­men an den Schul­tern be­fes­tigt wa­ren. Auch um die Stirn hat­ten sie einen Rie­men ge­legt, um den Druck der Bün­del auf die Schul­tern zu er­leich­tern. Je­der trug ein Ge­wehr. Sie gin­gen ge­bückt, die Schul­tern weit vor­ge­scho­ben, den Kopf tief hin­ab­hän­gend, die Au­gen starr auf den Bo­den ge­rich­tet. »Ich wünsch­te, wir hät­ten zwei von den Pa­tro­nen, die wir in un­serm De­pot lie­gen ha­ben«, sag­te der Mann, der hin­ter­her­ging.

Sei­ne Stim­me hat­te einen un­heim­lich gleich­gül­ti­gen Klang. Er sprach ohne je­den Ei­fer, und der vor­an­ge­hen­de, der so­eben in den mil­chi­gen Strom hin­aus­hink­te, der über die Fels­blö­cke schäum­te, wür­dig­te ihn kei­ner Ant­wort.

Der an­de­re folg­te ihm auf den Fer­sen. Es fiel ih­nen nicht ein, sich die Fuß­be­klei­dung aus­zu­zie­hen, ob­gleich das Was­ser ei­sig kalt war – so kalt, dass ih­nen die Ge­len­ke schmerz­ten und die Füße ganz un­emp­find­sam wur­den. An ein­zel­nen Stel­len ging ih­nen das Was­ser bis zu den Kni­en, und bei­de Män­ner wa­ren nahe dar­an, das Gleich­ge­wicht zu ver­lie­ren.

Der zwei­te Mann glitt auf ei­nem glat­ten Kie­sel­stein aus. Er wäre bei­na­he ge­stürzt, kam je­doch mit ei­ner ge­wal­ti­gen An­stren­gung wie­der auf die Bei­ne und stieß da­bei einen schar­fen Schmer­zens­ruf aus. Er schi­en plötz­lich kraft­los und schwind­lig zu wer­den, streck­te die freie Hand aus und fuch­tel­te mit ihr in der Luft her­um, wie um eine Stüt­ze zu fin­den. Als er das Gleich­ge­wicht wie­der­ge­fun­den hat­te, ging er ei­ni­ge Schrit­te vor­wärts, tau­mel­te je­doch aber­mals, fuch­tel­te mit den Ar­men und schi­en fal­len zu wol­len. Dann blieb er ste­hen und sah dem an­de­ren Man­ne nach, der nicht ein ein­zi­ges Mal den Kopf ge­dreht hat­te.

Eine vol­le Mi­nu­te blieb er ste­hen, als ob er et­was ernst über­leg­te. Dann rief er laut:

»Hörst du denn nicht, Bill, ich hab’ mir den Fuß ver­staucht.«

Bill wank­te wei­ter durch den mil­chi­gen Strom. Er wand­te nicht den Kopf, sah sich nicht um. Der an­de­re stand noch im­mer da und sah ihn ge­hen. Und ob­gleich sein Ge­sicht aus­drucks­los wie zu­vor war, gli­chen sei­ne Au­gen de­nen ei­nes ver­wun­de­ten Hir­sches.

Bill er­klet­ter­te un­ter­des­sen das an­de­re Ufer und setz­te sei­nen Weg fort, ohne sich ein ein­zi­ges Mal um­zu­dre­hen. Der Mann im Fluss be­ob­ach­te­te ihn. Sei­ne Lip­pen zit­ter­ten ein we­nig, so­dass die lan­gen rau­en Haa­re des brau­nen Bar­tes, der sie ver­barg, sich sicht­lich be­weg­ten. Er be­feuch­te­te sich die Lip­pen mit der Zun­ge.

»Bill!« rief er.

Es war der ver­zwei­fel­te Hil­fe­ruf ei­nes star­ken Man­nes, der in Not war, aber Bill wand­te nicht ein­mal den Kopf. Der Zu­rück­ge­blie­be­ne sah ihn wei­ter­ge­hen. Sah, wie er gro­tesk da­hin­hum­pel­te, sich mit un­si­che­ren Schrit­ten den sanft an­stei­gen­den Hang zu der duns­ti­gen Kup­pe des nied­ri­gen Hü­gels hin­auf schlich. Er sah ihm nach, bis er den Kamm er­reicht hat­te und hin­ter dem Ho­ri­zont ver­schwun­den war. Dann wand­te er den Blick ab und ließ ihn lang­sam in dem en­gen Kreis schwei­fen, der jetzt nach Bills Ver­schwin­den al­les war, was ihm von der Welt ge­blie­ben.

Tief am Ho­ri­zont glomm fahl die Son­ne, fast ver­bor­gen hin­ter ge­stalt­lo­sen Ne­beln und Dämp­fen, die wie dich­te Mas­sen, aber ohne fes­te Form und Li­ni­en wirk­ten. Der Mann nahm die Uhr her­aus, wäh­rend er sich mit sei­nem gan­zen Ge­wicht auf das eine Bein stütz­te. Es war vier. Und da es schon Ende Juli oder An­fang Au­gust sein muss­te – er wuss­te seit ei­ner Wo­che oder vier­zehn Ta­gen das Da­tum nicht mehr ge­nau –, zeig­te die Son­ne jetzt, wenn auch nur un­ge­nau, die Nord­westrich­tung an. Er warf einen Blick nach dem Sü­den – ir­gend­wo dort un­ten jen­seits der öden und win­di­gen Hü­gel lag – das wuss­te er – der Gro­ße Bä­ren­see. Er wuss­te auch, dass in die­ser Rich­tung der Po­lar­kreis die Ein­öden Ka­na­das durch­schnitt. Der Fluss, in dem er jetzt stand, war ein Ne­ben­fluss des Cop­per­mi­ne, der nach Nor­den ström­te und in die Co­ro­na­ti­on-Bucht und in das Nörd­li­che Eis­meer mün­de­te. Er war noch nie dort ge­we­sen, hat­te es aber ein­mal auf ei­ner Kar­te bei der Hud­son-Bay-Com­pa­ny ge­se­hen.

Wie­der durch­maß sein Blick den Kreis der Welt, die ihm ge­blie­ben war. Es war kein sehr er­hei­tern­des Schau­spiel, das sich ihm dar­bot. Wo er hin­sah – über­all der­sel­be wei­che Ho­ri­zont. Die Hü­gel wa­ren alle sehr nied­rig. Nir­gends wa­ren Bäu­me, nir­gends Ge­büsch oder Gras zu se­hen … es gab nichts als er­schüt­tern­de, furcht­ba­re Öde und Ein­sam­keit. Lang­sam und lei­se tauch­te un­über­wind­ba­re Furcht in sei­nen Au­gen auf.

»Bill!« flüs­ter­te er, ein­mal, zwei­mal. »Bill!«

Er wa­te­te in das mil­chi­ge Was­ser hin­ein, als ob die un­ge­heu­re Öde ihn mit un­wi­der­steh­li­cher Schwe­re weiter­schob, wäh­rend sie ihn mit grau­sa­mer, bru­ta­ler Freu­de zer­malm­te. Wie in ei­nem An­fall von Schüt­tel­frost zit­ter­te er, bis das Ge­wehr ihm aus der Hand und mit ei­nem Plät­schern ins Was­ser fiel. Das brach­te ihn wie­der zu sich. Er be­kämpf­te sei­ne Angst und nahm sich ge­walt­sam zu­sam­men. Er bück­te sich, such­te im Was­ser, bis er sein Ge­wehr ge­fun­den hat­te, und hob es auf. Dann schob er sich das Bün­del wei­ter auf die lin­ke Schul­ter hin­auf, als ob er da­durch dem rech­ten Fuß, den er sich ver­staucht hat­te, das Ge­wicht ab­neh­men woll­te. Und lang­sam und vor­sich­tig nä­her­te er sich, vor Schmer­zen zu­ckend, dem an­de­ren Ufer.

Hier blieb er nicht ste­hen. Mit ei­ner ver­zwei­fel­ten An­stren­gung, die an Wahn­sinn grenz­te, eil­te er, ohne auf den Schmerz zu ach­ten, den Hü­gel hin­an, um den Gip­fel zu er­rei­chen, hin­ter dem sein Ka­me­rad vor­hin ver­schwun­den war … noch gro­tes­ker und noch tra­gi­ko­mi­scher an­zu­se­hen, als sein hum­peln­der, sprin­gen­der Ge­nos­se es ge­we­sen. Als er aber den Gip­fel er­reicht hat­te, sah er vor sich nur ein fla­ches Tal, das von al­lem Le­ben ent­blö­ßt war. Wie­der be­kämpf­te er sei­ne Angst, über­wand sie, schob sich das Bün­del noch wei­ter nach links hin­über und tau­mel­te den Hang hin­un­ter.

 

Die Soh­le des Ta­les war feucht. Dich­tes Moos kleb­te wie nas­ser Schwamm an den Fer­sen. Das Was­ser quoll bei je­dem Schritt, den er mach­te, un­ter sei­nen Fü­ßen her­vor. Und je­des Mal, wenn er den Fuß wie­der hob, gab es ein gluck­sen­des, sau­gen­des Geräusch, wie wenn das Moos nur zö­gernd sei­nen Griff um den Mo­kas­sin auf­gab. Er such­te sich vor­sich­tig die Stel­len aus, wo er den Fuß hin­set­zen konn­te, und folg­te da­bei nach Mög­lich­keit der Fähr­te sei­nes Ka­me­ra­den zwi­schen den Fels­blö­cken, die sich wie klei­ne In­seln aus dem Mee­re von Moos er­ho­ben.

Ob­gleich al­lein, war er doch nicht ver­lo­ren. Er wuss­te, dass er ein Stück wei­ter eine Stel­le er­rei­chen muss­te, wo ab­ge­stor­be­ne Tan­nen und Kie­fern ver­wach­sen und ver­dorrt das Ufer ei­nes klei­nen Sees um­säum­ten, der in der Spra­che der Ein­ge­bo­re­nen Tit­chin­nie­chi­lie hieß. Das Land selbst wur­de das »Land der klei­nen Zwei­ge« ge­nannt. Und durch die­sen See ström­te ein klei­ner Fluss, des­sen Was­ser nicht mil­chig war. An die­sem Fluss wuchs auch Schilf, des­sen ent­sann er sich noch, aber Wald war nicht da. Die­sem Fluss woll­te er bis zur ers­ten Was­ser­schei­de fol­gen. Die woll­te er dann über­schrei­ten, bis er den nächs­ten Fluss traf, der nach Wes­ten floss, und der ihn bis zu dem grö­ße­ren Dea­se-Fluss füh­ren muss­te. Hier wür­de er un­ter ei­nem um­ge­kipp­ten Kanu und mit vie­len großen Stei­nen be­deckt ihr De­pot fin­den. In die­sem De­pot be­fan­den sich Mu­ni­ti­on für sein lee­res Ge­wehr, An­gel­ha­ken und -lei­nen, ja so­gar ein klei­nes Netz – kurz, al­les Gerät, das zum Fan­gen und Tö­ten der ver­schie­de­nen Tie­re not­wen­dig war. Dort wür­de er auch Mehl – frei­lich nicht sehr viel –, ein Stück Räu­cher­speck und ei­ni­ge Boh­nen fin­den.

Wahr­schein­lich war­te­te auch Bill dort auf ihn. Sie konn­ten dann ge­mein­sam den Dea­se bis zum Gro­ßen Bä­ren­see hin­un­ter­pad­deln. Den über­quer­ten sie dann in süd­li­cher Rich­tung, im­mer wei­ter nach Sü­den, bis sie den Ma­cken­zie er­reich­ten. Und wei­ter, im­mer wei­ter nach Sü­den wür­den sie zie­hen. Wäh­rend der Win­ter ih­nen ver­geb­lich nach­lief und die Eis­krus­te selbst die Stru­del er­star­ren ließ und die Tage kalt und klin­gend klar mach­te, wür­den sie selbst im­mer wei­ter nach Sü­den wan­dern, bis sie eine be­hag­li­che Sta­ti­on der Hud­son-Bay-Com­pa­ny er­reich­ten, wo der Wald hoch und reich wuchs und wo es Le­bens­mit­tel ohne Ende gab.

Sol­che Ge­dan­ken schös­sen durch den Kopf des Man­nes, der sich lang­sam und müh­se­lig vor­wärts kämpf­te. Aber wenn er auch große An­for­de­run­gen an sei­nen Kör­per stell­te, so war doch der Kampf, den er mit sei­ner See­le führ­te, nicht we­ni­ger hart. Ver­ge­bens ver­such­te er sich vor­zutäu­schen, dass Bill ihn gar nicht ver­las­sen hät­te, dass Bill si­cher beim De­pot auf ihn war­ten wür­de. Er war ge­zwun­gen, aus al­len Kräf­ten an die­sem Glau­ben fest­zu­hal­ten, denn sonst wäre er gar nicht im­stan­de ge­we­sen wei­ter­zu­schrei­ten; er hät­te sich ein­fach hin­ge­legt und wäre ge­stor­ben. Und als der düs­ter glim­men­de Son­nen­ball lang­sam hin­ter dem nord­west­li­chen Hü­gel­rand ver­schwun­den war, ging er in Ge­dan­ken, im­mer wie­der, je­den Zoll durch, den Bill und er süd­wärts zie­hen muss­ten, um dem kom­men­den Win­ter zu ent­flie­hen. Und ein Mal über das an­de­re stell­te er sich die Le­bens­mit­tel im De­pot und die, wel­che er bei der Hud­son-Bay-Sta­ti­on er­hal­ten wür­de, vor Au­gen. Seit zwei Ta­gen hat­te er nichts zu es­sen be­kom­men, und schon seit lan­gem hat­te er nicht ge­ges­sen, was er zu es­sen wünsch­te. Manch­mal blieb er ste­hen und pflück­te die blas­sen Moos­bee­ren, steck­te sie in den Mund, kau­te und ver­schlang sie. Eine Moos­bee­re be­steht aber nur aus ei­nem klei­nen, von et­was Flüs­sig­keit um­ge­be­nen Sa­men. Im Mun­de ver­schwin­det die Flüs­sig­keit, und der Sa­men, der üb­rig­bleibt, schmeckt bit­ter und scharf. Der Mann wuss­te ge­nau, dass die Bee­re kei­nen Nähr­wert hat, aber er kau­te sie trotz­dem ge­dul­dig mit ei­ner Hoff­nungs­freu­dig­keit, die grö­ßer als al­les Wis­sen war und sich den Teu­fel um alle prak­ti­schen Er­fah­run­gen scher­te.

Ge­gen neun Uhr stieß er sich den Zeh an ei­nem Stein, und vor lau­ter Mü­dig­keit und Schwä­che stol­per­te er und stürz­te. Er lag ei­ni­ge Zeit auf dem feuch­ten Bo­den, ohne die Kraft zu ha­ben, wie­der auf­zu­ste­hen. Dann ge­lang es ihm, die Ge­päck­rie­men ab­zu­strei­fen, und müh­se­lig und schwer­fäl­lig setz­te er sich auf. Es war noch nicht ganz dun­kel ge­wor­den, und in der zö­gern­den Däm­me­rung such­te er mit den Hän­den auf dem Bo­den, um et­was Moos zu fin­den, das tro­cken ge­nug war. Als er einen klei­nen Hau­fen zu­sam­men­ge­schabt hat­te, mach­te er ein Feu­er – ein schwach glim­men­des, rau­chen­des Feu­er und stell­te den Zinn­topf auf, um Was­ser zu ko­chen.

Er öff­ne­te sein Bün­del, und das ers­te, was er dann tat, war, dass er sei­ne Streich­höl­zer zähl­te. Es wa­ren im gan­zen sie­ben­und­sech­zig. Er zähl­te sie drei­mal, um sei­ner Sa­che si­cher zu sein. Dann teil­te er sie in drei Häuf­chen und pack­te je­des für sich in Öl­pa­pier ein. Das ers­te Häuf­chen tat er hier­auf in sei­nen lee­ren Ta­baks­beu­tel, das zwei­te in das Schweiß­le­der sei­nes arg mit­ge­nom­me­nen Hu­tes, wäh­rend er das drit­te auf der Brust un­ter dem Hemd ver­barg. Als das ge­tan war, über­kam ihn plötz­lich ein pa­ni­scher Schre­cken, er pack­te sie alle wie­der aus und zähl­te sie noch ein­mal. Es wa­ren im­mer noch sie­ben­und­sech­zig.

Er trock­ne­te sei­ne Fuß­be­klei­dung am Feu­er. Die Mo­kass­ins wa­ren zu durch­näss­ten Fet­zen ge­wor­den. Die Über­zugst­rümp­fe wa­ren durch­lö­chert, sei­ne Füße zer­schun­den und blu­tig. In sei­nem Fuß­ge­lenk häm­mer­te es, und er un­ter­such­te es des­halb. Es war so stark an­ge­schwol­len, dass es eben­so dick wie das Knie war. Er riss einen lan­gen Strei­fen von ei­ner sei­ner bei­den De­cken und band ihn straff um das Fuß­ge­lenk. Er riss wei­te­re Strei­fen ab und band sie um sei­ne Füße, da­mit sie ihm gleich­zei­tig als St­rümp­fe und als Mo­kass­ins die­nen konn­ten. Dann trank er den gan­zen Topf hei­ßes Was­ser aus, zog sei­ne Uhr auf und kroch in sei­nen Schlaf­sack.

Er schlief wie ein To­ter. Die kur­ze Dun­kel­heit um Mit­ter­nacht kam und schwand. Im Nord­os­ten ging die Son­ne auf – oder rich­ti­ger ge­sagt, die Däm­me­rung brach drü­ben an, denn die Son­ne selbst blieb hin­ter grau­en Wol­ken ver­bor­gen.

Um sechs Uhr wach­te er auf. Er lag ru­hig auf dem Rücken, starr­te in den grau­en Him­mel em­por und fühl­te nur das eine, dass er hung­rig war. Als er sich auf die Sei­te leg­te und sich auf den Ell­bo­gen stütz­te, hör­te er zu sei­nem Stau­nen ein lau­tes Schnar­chen und sah einen Renn­tier­bul­len, der ihn wach­sam und neu­gie­rig be­trach­te­te. Das Tier war kaum zwan­zig Schritt von ihm ent­fernt, und im sel­ben Au­gen­blick schoss dem Mann die Vi­si­on und der Ge­schmack ei­nes Renn­tier­bra­tens, der auf dem Feu­er zisch­te und schmor­te, durch den Kopf. Mecha­nisch streck­te er die Hand nach dem lee­ren Ge­wehr aus, ziel­te und drück­te ab. Der Bul­le schnauf­te und lief in wei­ten Sprün­gen da­von. Sei­ne Hufe klap­per­ten und schlu­gen, wäh­rend er über die Fels­blö­cke hin­über­setz­te.