Der Mann fluchte und schleuderte das leere Gewehr weit von sich. Laut stöhnend versuchte er, auf die Beine zu kommen. Das war eine langsame und schwierige Arbeit. Die Füße, die noch nicht an ihre neuen Hüllen gewöhnt waren, mühten sich ab und glitten hin und her; jedes Beugen und Strecken gelang nur durch eine ungeheure Willensanspannung. Als er endlich auf den Füßen stand, brauchte er wieder lange Zeit, um sich aufzurichten und wie ein normaler Mensch dazustehen.
Er kroch auf eine kleine Bodenerhöhung und sah sich um. Es gab keinen Baum, keinen Strauch – nur ein graues Meer von Moos, das von den grauen Felsen, den grauen Pfützen und den kleinen grauen Bächlein kaum zu unterscheiden war. Der Himmel war ebenfalls grau. Keine Sonne oder auch nur die Andeutung einer Sonne war zu sehen. Er ahnte nicht mehr, wo Norden sein mochte, und hatte ganz den Weg vergessen, den er in der vorigen Nacht hierhergewandert war. Aber er war nicht verloren. Das wusste er. Bald kam er in das »Land der kleinen Zweige«. Er hatte das Gefühl, dass es irgendwo links vor ihm liegen musste, gar nicht so weit entfernt – vielleicht schon hinter dem nächsten Hügel.
Er kehrte zu seinem Lagerplatz zurück, um sein Bündel für die Weiterfahrt zu schnüren. Zunächst vergewisserte er sich, dass alle drei Päckchen Streichhölzer vorhanden waren, gab sich aber nicht die Mühe, sie noch einmal zu zählen. Dagegen zögerte er lange und nachdenklich, als er einen strotzenden Beutel aus Elchleder wieder einpacken wollte. Der Beutel war nicht groß. Er konnte ihn in seinen beiden Händen verbergen. Er wusste genau, dass das Ding nur ein Gewicht von fünfzehn Pfund hatte … genauso viel wie das ganze übrige Bündel … aber es machte ihm immerhin gewisse Schwierigkeiten. Er blieb einen Augenblick stehen und starrte den dicken elchledernen Beutel an. Schließlich nahm er ihn doch, während er einen misstrauischen Blick um sich warf, als ob die Einöde versuchen könnte, ihm den Beutel zu stehlen. Und als er endlich aufstand, um seine Tageswanderung anzutreten, befand sich der Beutel unter den Sachen, die er auf seinem Rücken trug.
Er bog nach links ab. Hie und da blieb er stehen, um Moosbeeren zu essen. Sein Fußgelenk war jetzt ganz steif, er hinkte stärker als zuvor, aber der Schmerz in dem Fuß war nichts gegen die Qualen, die ihm sein leerer Magen verursachte. Der Hunger begann sehr weh zu tun. Er fühlte ihn immer stärker und schmerzhafter, bis er nicht mehr imstande war, seine Gedanken auf den Weg zu richten, den er einschlagen musste, um nach dem »Lande der kleinen Zweige« zu gelangen. Die Moosbeeren vermochten nichts gegen die Schmerzen. Sie machten nur durch ihre beißende Schärfe seine Zunge und seinen Schlund ganz wund.
Er erreichte ein Tal, wo Bergschneehühner sich auf flatternden Flügeln von Felsblöcken und Moosbeerensträuchern in die Luft erhoben. »Kerr … Kerr … Kerr …« schrien sie. Er warf ihnen Steine nach, konnte sie aber nicht treffen. Er legte sein Bündel auf den Boden und pürschte sich an sie heran, wie eine Katze an einen Sperling. Die scharfen Steine zerrissen ihm die Hosen, bis seine Knie eine Fährte von Blut hinterließen. Aber der Schmerz, den der Hunger verursachte, war so groß, dass er sonst nichts empfand. Er schlüpfte durch das feuchte Moos, seine Kleider wurden durchnässt, sein Körper zitterte vor Kälte, aber er merkte es gar nicht, so furchtbar brannte das Fieber des Hungers. Und immer wieder erhoben die Schneehühner sich und umflatterten ihn, bis ihm ihr ewiges »Kerr … Kerr … Kerr …« wie ein blutiger Hohn erschien. Und er verfluchte sie und rief ihnen ihren eigenen Schrei zu.
Einmal stolperte er sogar über ein Schneehuhn, das wahrscheinlich eingeschlafen war. Er hatte es gar nicht bemerkt, bis es aus seinem steinigen Winkel ihm direkt ins Gesicht flatterte. Er haschte nach dem Vogel, aber seine Bewegung war ebenso erschrocken und ungeschickt wie der Flug des Schneehuhns aus dem Versteck, und so blieben ihm nur ein paar Schwungfedern in der Hand. Als er es wegfliegen sah, fühlte er einen flammenden Hass gegen den Vogel, als hätte der ihm etwas Furchtbares angetan. Dann kehrte er um und lud sich das Bündel wieder auf die Schultern.
Im Laufe des Tages erreichte er auch andere Täler und Schluchten, wo es reichlich Wild gab. Eine ganze Herde von Renntieren kam an ihm vorbei … vielleicht zwanzig. Und das Schlimmste war, dass sie innerhalb Schussweite gingen und dass seine Büchse leer war. Er empfand eine wahnsinnige Lust, ihnen nachzulaufen, und war überzeugt, sie einholen zu können. Ein schwarzer Fuchs spazierte einmal dicht vor seiner Nase vorbei – mit einem Schneehuhn im Maul. Der Mann schrie auf. Aber obgleich der Fuchs tödlich erschrak und in großen Sprüngen flüchtete, ließ er doch das Schneehuhn nicht fallen.
Am späten Nachmittag ging der Mann an einem milchigen Fluss entlang, der voll Kalk und an einzelnen Stellen mit Schilf bewachsen war. Er riss die Schilfhalme ab, so nahe an der Wurzel wie möglich, und pflückte ein Stück heraus, das ungefähr wie ganz junge Zwiebelkeimlinge aussah und nicht länger als ein Bildernagel war. Es war zart, und als seine Zähne sich darin vergruben, knackte es knusprig, dass er dachte, eine delikate Speise gefunden zu haben. Aber die Fibern waren zäh, ungenießbare Fasern, die von Wasser durchtränkt waren, ganz wie die Moosbeeren. Nährwert hatten sie überhaupt nicht. Und doch schleuderte er sein Gepäck fort und kroch in das Schilf. Er kaute und fraß wie ein Vieh.
Er war sehr müde und hatte oft genug nur den einen Gedanken, sich hinzulegen und auszuruhen – ganz still zu liegen und zu schlafen. Aber er wurde unaufhaltsam weitergetrieben – nicht so sehr durch den Wunsch, das »Land der kleinen Zweige« zu erreichen, wie durch den ewig nagenden Hunger. Er suchte in den kleinen Pfützen nach Fröschen und grub mit seinen Nägeln in der Erde nach Würmern, obgleich er ganz genau wusste, dass es so hoch im Norden weder Frösche noch Würmer gab.
Vergebens untersuchte er den kleinsten Tümpel, bis er endlich, als die Dämmerung schon längst angebrochen war, in einer Pfütze einen einsamen Fisch entdeckte. Er war nicht größer als eine Elritze. Dennoch steckte der Mann seinen Arm bis zur Schulter in das eisige Wasser, aber der Fisch entschlüpfte ihm. Er griff mit beiden Händen nach ihm, doch das Wasser wurde durch den milchigen Bodenschlamm so getrübt, dass er kaum etwas sehen konnte. In seiner Aufregung fiel er auch noch selbst in die Pfütze und wurde bis zum Leibe nass. Und jetzt war das Wasser so trübe geworden, dass alles weitere Suchen zwecklos war. Er musste deshalb warten, bis es schließlich wieder klar geworden war.
Dann erneuerte er seine Anstrengungen, den Fisch zu fangen. Aber er war zu ungeduldig. Deshalb nahm er seinen Zinnbecher aus dem Bündel und begann die Pfütze leer zu schöpfen. Zuerst arbeitete er wie ein Wilder drauflos, bespritzte sich und schleuderte das Wasser nicht weit genug, sodass es wieder in die Pfütze lief. Dann nahm er sich zusammen und machte es mit größerer Sorgfalt. Er bemühte sich, ruhig und kühl zu bleiben, obgleich sein Herz gegen die Brust hämmerte und seine Hände zitterten. Nach einer halben Stunde anstrengender Arbeit war die Pfütze fast leer. Kaum eine Tasse voll war noch übrig. Aber – jetzt war kein Fisch mehr da. Nach langem Suchen fand er dann eine verborgene Ritze im Steingrund, durch die der Fisch in eine größere Pfütze, die daneben lag, entschlüpft war und diese Pfütze war zu groß, als dass er sie hätte leeren können. Hätte er nur eine Ahnung vom Vorhandensein der Ritze gehabt, so hätte er sie gleich mit einem Stein versperren können, und der Fisch wäre ihm leicht zur Beute gefallen.
So dachte er und versuchte aufzustehen, sank aber müde auf dem feuchten Boden um. Anfangs sprach er leise mit sich selbst, dann begann er immer lauter in die unbarmherzige Einöde hinauszurufen, die um ihn her brütete. Und zuletzt wurde er von einem krampfhaften, tränenlosen Schluchzen gerüttelt.
Er machte ein Feuer und wärmte sich durch große Schlucke brühheißen Wassers. Dann bereitete er sich am felsigen Ufer des Stromes ein Lager, wie er es am Abend zuvor getan hatte. Das letzte, was er tat, war, dass er untersuchte, ob seine Streichhölzer trocken waren. Dann zog er seine Uhr auf. Die Decken waren feucht und klamm. In seinem Fußgelenk hämmerte der Schmerz. Aber er dachte nur an eines: dass er hungrig war. Und in seinem unruhigen Schlaf träumte er von Festen und Banketten und von wunderbaren Gerichten, die ihm auf alle mögliche Art und Weise vorgesetzt wurden.
Er wachte frierend und elend auf. Keine Sonne war zu sehen. Das Grau der Erde und des Himmels war noch tiefer geworden, noch undurchdringlicher. Ein rauer Wind wehte, und die ersten Schneefälle hatten die Gipfel der Hügel mit weißem Schimmer verhüllt. Die Luft um ihn wurde dichter und weißer, während er Feuer machte und Wasser kochte. Es war ein nasser Schnee, halbwegs Regen, und die Flocken waren groß und klamm. Anfangs zerschmolzen sie, sobald sie den Boden berührten, aber es fielen immer mehr, und schließlich verhüllten sie die Erde, verlöschten das Feuer und verdarben ihm seinen Vorrat an trockenem Moos, das er zum Feuermachen gesammelt hatte.
Dies war für ihn ein Zeichen, dass er schnell sein Gepäck nehmen und vorwärts gehen sollte, wenn er auch nicht wusste, wohin. Weder das »Land der kleinen Zweige« noch Bill oder das Depot unter dem umgekippten Kanu am Dease-Fluss interessierten ihn jetzt. Es gab für ihn nur ein einziges Wort: »Essen«, und das beherrschte ihn vollkommen. Er war vor Hunger fast wahnsinnig geworden. Er kümmerte sich gar nicht um die Richtung, die er einschlug, solange sie ihn durch die Schluchten führte. Instinktiv fand er unter dem nassen Schnee die wässerigen Moosbeeren. Sein Gefühl half ihm, mitten im Schnee das Schilfgras zu finden und es mit der Wurzel herauszuziehen. Das war jedoch eine Nahrung, die nach nichts schmeckte und in keiner Beziehung befriedigte. Er fand auch ein Kraut, das einen säuerlichen Geschmack hatte, und aß alles, was er davon finden konnte. Aber es war nur sehr wenig, denn es war eine Kriechpflanze, die unter einer mehrzölligen Schneekruste kaum zu finden war.
Diese Nacht schlief er ohne Feuer und ohne heißes Wasser zum Trinken. Wie zerschlagen kroch er in seinen Schlafsack, um den unruhigen Schlaf des Hungernden zu schlafen. Der Schnee wurde zu einem kalten Regen. Sehr, sehr oft wachte er auf, weil es ihm eisig auf sein nach oben gewandtes Gesicht tropfte. Es wurde Tag – ein grauer Tag ohne Sonne. Es hatte aufgehört zu regnen. Sein Hunger war nicht mehr so ätzend. Der schmerzhafte, fast unerträgliche Drang nach Essen war vorbei, hatte sich erschöpft. Es war nur ein stumpfer, dumpfer Schmerz im Magen geblieben, aber dieser Schmerz störte ihn nicht so sehr. Er war auch wieder vernünftiger geworden und imstande, seine Gedanken auf das »Land der kleinen Zweige« und das Depot am Dease-Fluss zu konzentrieren.
Er riss den Rest einer Decke in Streifen und verband damit seine blutenden Füße. Dann machte er sich einen neuen Verband um das verletzte Fußgelenk und bereitete sich auf eine lange Tagereise vor. Als er sein Bündel zu packen begann, machte er wieder lange und nachdenklich bei dem dicken elchledernen Beutel halt. Aber schließlich entschloss er sich, ihn mitzunehmen.
Der Schnee war durch den Regen geschmolzen, und nur die Gipfel der Hügel schimmerten noch weiß. Die Sonne kam zum Vorschein, und es gelang ihm, die Himmelsrichtungen festzustellen, wenn er auch leider erkennen musste, dass er sich verirrt hatte. Wahrscheinlich war er an einem der vorhergehenden Tage zu weit nach links abgeschwenkt. Er bog deshalb scharf nach rechts ab, um der möglichen Abweichung von seiner Richtung entgegenzuwirken.
Obgleich die Schmerzen, die der Hunger ihm verursachte, längst nicht mehr so schlimm waren, konnte er doch merken, dass er sehr schwach geworden war. Er musste öfters haltmachen, um auszuruhen, wenn er Moosbeeren oder mit Schilf bewachsene Stellen aufsuchte. Er merkte, dass seine Zunge dick und geschwollen war und sich anfühlte, als ob sie mit feinen Haaren bewachsen wäre, und er hatte einen bittern Geschmack im Munde. Sein Herz machte ihm viel Sorge. Sobald er einige Minuten gegangen war, begann es unbarmherzig zu klopfen: dump, dump, dump … und dann wieder hüpfte es wie wild, mit flatternden Schlägen, die ihn erschreckten und seine Schritte schwach und unsicher machten.
Mitten am Tage hatte er das Glück, in einer großen Pfütze zwei Elritzen zu finden. Es war unmöglich, das Wasser auszuschöpfen, aber er war heute ruhiger als am vorhergehenden Tage, und es gelang ihm, sie in seinem Zinnbecher zu fangen. Sie waren freilich nicht länger als sein kleiner Finger, aber merkwürdigerweise hatte er keinen besonderen Hunger. Der dumpfe Schmerz in seinem Magen wurde immer dumpfer und schwächer. Es war fast, als ob der Magen allmählich einschliefe. Er verzehrte die Fische roh und kaute sie mit peinlichster Sorgfalt, denn er aß ja überhaupt nur aus rein vernunftmäßigen Gründen, nicht weil er einem Bedürfnis gehorchte. Er hatte nicht die geringste Lust zu essen, aber er wusste, dass er essen musste, um zu leben.
Im Laufe des Abends fing er noch drei Elritzen. Zwei davon verzehrte er gleich, die dritte hob er sich für das Frühstück am nächsten Tage auf. Die Sonne hatte hie und da Streifen von Moos getrocknet, sodass es ihm möglich wurde, Feuer zu machen und sich mit heißem Wasser zu erwärmen. An diesem Tage hatte er nicht mehr als zehn Meilen zurückgelegt. Und am nächsten Tage wanderte er, so oft sein hart klopfendes Herz es ihm erlaubte, legte aber auf diese Weise nur fünf Meilen zurück. Sein Magen verursachte ihm nicht mehr das geringste Unbehagen. Der Hunger schien einfach eingeschlafen zu sein. Er befand sich jetzt auch in einem gänzlich unbekannten Lande, und er sah schon viele Renntiere, außerdem auch zahlreiche Wölfe. Oft hörte er ihr Heulen durch die Einöde, und einmal sah er drei Wölfe in kurzer Entfernung seinen Weg kreuzen.
Wieder eine Nacht. Als er gegen Morgen erwachte, war er noch ruhiger und vernünftiger geworden. Er löste den ledernen Riemen, mit dem der Elchlederbeutel zugebunden war. Ein gelber Strom von grobem Goldstaub und -klumpen ergoss sich durch die Öffnung. Er teilte das Gold in zwei ungefähr gleiche Haufen. Die eine Hälfte verpackte er in ein Stück von einer Decke und verbarg es hinter einem hervorspringenden Felsblock, die andere Hälfte tat er in den Sack zurück.
Zum Wickeln seiner Füße musste er jetzt schon Streifen von seiner letzten Decke schneiden. Sein Gewehr behielt er noch immer bei sich, lagen doch in ihrem Depot am Dease-Fluss Patronen.
Es war ein nebliger Tag, und leider erwachte der Hunger jetzt wieder. Er fühlte sich sehr schwach und litt an einem Schwindel, der ihn hin und wieder vollkommen blind machte. Es war schon längst nichts Ungewöhnliches mehr, dass er strauchelte und stürzte. Und einmal, als er stolperte, fiel er gerade in ein Schneehuhnnest. Es waren vier erst vor kurzem ausgekrochene Kücken darin; sie waren vielleicht einen Tag alt, kleine Klumpen pulsierenden Lebens, jedes kaum mehr als ein Happen, und er verschlang sie gierig. Er steckte sie sich lebendig in den Mund, zerkaute sie wie Eierschalen zwischen seinen Zähnen. Das Muttertier schlug unter lautem Gekreisch auf ihn ein. Mit seinem Gewehr als Keule versuchte er den Vogel zu erschlagen, aber das Tier entkam. Er schleuderte ihm Steine nach, und es gelang ihm, einen Flügel zu zerschmettern. Aber der Vogel entflatterte, bevor er ihn fangen konnte, lief, den verstümmelten Flügel nachschleppend, fort, während er ihn humpelnd verfolgte.
Die kleinen Kücken hatten seinen Appetit nur verschärft. Er hüpfte und hinkte mit seinem kranken Fußgelenk dahin. Ab und zu warf er mit Steinen nach dem Vogel, dann und wann schrie er mit heiserer Stimme. Dann wieder humpelte und hüpfte er in grimmigem Schweigen. Mürrisch und geduldig raffte er sich wieder auf, wenn er hinfiel. Und immer wieder rieb er sich mit der Hand die Augen, wenn der Schwindel ihn zu überwältigen drohte.
Die Verfolgung führte ihn über sumpfiges Gelände in die Tiefe der Schlucht hinab, und dort fand er plötzlich im feuchten Moos Fußstapfen. Es waren nicht die seinigen – das sah er sofort. Es musste Bills Fährte sein. Aber er konnte nicht stehen bleiben, denn die Schneehuhnmutter lief vor ihm her. Zuerst wollte er sie fangen und dann umkehren und die Fußspuren untersuchen.
Er ermüdete das Schneehuhn allmählich – gleichzeitig aber ermüdete er sich selber. Das Huhn lag, nach Atem ringend, auf der Seite – nur wenige Schritt von ihm entfernt. Und er lag ebenfalls auf der Seite, hatte aber nicht Kraft genug, um hinzukriechen. Und als er sich erholt hatte, hatte der Vogel es auch getan und flatterte fort, als der Mann gerade die Hand ausstreckte, um ihn zu ergreifen. Die Jagd war zu Ende. Die Nacht brach herein, und der Vogel war damit endgültig entkommen. Vor lauter Schwäche stolperte er und schlug vornüber zu Boden, das Bündel auf dem Nacken. Es dauerte lange, ehe er sich überhaupt rühren konnte. Dann wälzte er sich auf die Seite, zog seine Uhr auf und blieb bis zum nächsten Morgen liegen.
Wieder kam ein nebliger Tag. Die Hälfte seiner letzten Decke hatte er bereits als Fußlappen verwendet. Er war nicht mehr imstande, die Fährte Bills zu finden. Sie war ihm auch völlig gleichgültig. Sein Hunger trieb ihn jetzt wieder weiter, nur dachte er mit Staunen, ob Bill sich vielleicht auch verirrt hätte. Gegen Mittag wurde das Schleppen des schweren Bündels ihm zu ermüdend. Abermals teilte er das Gold in zwei Häufchen, ließ diesmal aber das eine einfach auf den Boden strömen. Im Laufe des Nachmittags warf er auch die andere Hälfte fort. Jetzt blieben ihm überhaupt nur noch eine halbe Decke, der Zinnbecher und das Gewehr.
Eine unangenehme Halluzination begann sich seiner zu bemächtigen. Er war ganz überzeugt, dass er noch eine Patrone übrig hätte. Sie lag in der Kammer des Stutzens, und er hatte sie bisher einfach übersehen. Andererseits aber wusste er die ganze Zeit, dass die Kammer leer war. Die Halluzination wollte jedoch keiner vernunftmäßigen Überlegung weichen. Er konnte sie für Stunden verdrängen, dann aber öffnete er doch schnell die Kammer und musste feststellen, dass sie leer war. Und die Enttäuschung war genauso bitter, wie wenn er wirklich erwartet hätte, eine Patrone zu finden.
Eine halbe Stunde lang trottete er weiter. Dann tauchte die verrückte Halluzination wieder in seinem Gehirn auf. Und abermals bekämpfte er sie, und dennoch blieb sie hartnäckig, bis er, um sich zu vergewissern und sich von ihr zu befreien, wiederum die Gewehrkammer öffnete und feststellte, dass nichts vorhanden war. Zu anderen Zeiten wanderten seine Gedanken seltsamere Wege. Und während er wie ein lebloser Automat weiterwankte, nagten höchst merkwürdige Pläne und Einfälle wie Würmer in seinem Gehirn. Aber all diese Ausflüge aus der Wirklichkeit waren doch nur von kurzer Dauer, denn der stechende Schmerz, den der Hunger verursachte, rief ihn immer wieder zurück. Einmal wurde er von einem solchen Ausflug in die Welt der Fantasie ganz plötzlich durch ein Gesicht zurückgerufen, das ihn beinahe die Besinnung gekostet hätte. Er schwankte, taumelte und wankte wie ein Betrunkener, der sich vergebens bemüht, das Gleichgewicht zu bewahren. Vor ihm stand ein Pferd! Ein richtiges Pferd! Er wollte seinen Augen nicht trauen. Um ihn her lag ein dichter Nebel, der von flimmernden Lichtflecken gesprenkelt war. Er rieb sich wie ein Wilder die Augen, um klar sehen zu können – und bei Gott: Es war kein Pferd, sondern ein großer brauner Bär! Das Tier beobachtete ihn mit kriegerischer Neugierde.
Der Mann hatte sein Gewehr schon halb an die Schulter gehoben, als er sich klarmachte, dass er ja keine Patrone darin hatte. Er senkte es wieder und zog sein Jagdmesser aus der mit Glasperlen bestickten Scheide an seiner Hüfte. Es war sehr scharf. Und es hatte eine scharfe Spitze. Er wollte sich auf den Bären stürzen und ihn töten. Aber sein Herz begann wieder sein warnendes Pochen: dump … dump … dump … Dann kamen das wilde Hüpfen und das aufgeregte Flattern, der eiserne Ring, der sich um seine Stirn presste, und dann kroch das Schwindelgefühl schleichend durch sein Gehirn.
Sein verzweifelter Mut wurde von einer mächtigen Woge von Angst besiegt. Was sollte er in seiner verdammten Schwäche tun, wenn das Tier ihn angriff? Er nahm sich zusammen und stellte sich in seine imposanteste Positur, fasste das Messer fest und starrte den Bären scharf an. Das mächtige Tier machte mit plumper Bewegung einige Schritte vorwärts, stellte sich auf die Hinterbeine und ließ versuchsweise ein Knurren hören. Wenn der Mann lief, würde es ihm nachlaufen – aber er lief nicht. Jetzt war er von der Kühnheit der Angst beseelt. Auch er knurrte, wild, schreckenerregend. Und verlieh auf diese Weise der Angst Stimme, die dem Lebenswillen so nahe verwandt und mit den tiefsten Wurzeln des Lebens verbunden und verwachsen ist.
Der Bär entfernte sich langsam, während er drohend knurrte, sich aber in Wirklichkeit selbst vor dem seltsamen Geschöpf, das so aufrecht und furchtlos dastand, fürchtete. Der Mann aber rührte sich nicht. Wie eine Statue blieb er stehen, bis die Gefahr verschwunden war. Dann gab er der Schwäche nach und sank erschöpft und zitternd in das feuchte Moos.
Wieder raffte er sich auf und wanderte weiter. Aber jetzt hatte er eine neue Art von Furcht kennengelernt. Es war nicht die Furcht vor dem passiven Tod des Verhungerns, sondern die, durch äußere Gewalt vernichtet zu werden, ehe die Entbehrungen das letzte Streben, das den Willen zum Leben aufrecht hielt, in ihm vernichtet hätten. Da waren zum Beispiel die Wölfe. Ihr Heulen erscholl von allen Seiten in der Einöde und verwandelte die Luft in eine Werkstatt der Drohung, der Vernichtung und dunkler Gefahren. Und so erfüllt war die Luft von diesen schreckeinflößenden Tönen, dass er sich selbst dabei ertappte, wie er die Arme emporstreckte und sich körperlich dagegen stemmte, als ob es die Wand eines vom Winde umtobten Zeltes wäre.
Wieder und wieder kreuzten die Wölfe in kleinen Rudeln von zwei oder drei Stück seinen Weg. Aber sie hielten sich von ihm weg. Sie waren nicht zahlreich genug, und außerdem jagten sie die Renntiere, die nicht kämpften, während sie nie wissen konnten, ob dieses seltsame Geschöpf, das auf zwei Beinen aufrecht herumlief, nicht vielleicht doch kratzte oder biss.
Im Laufe des späten Nachmittags kam er an eine Stelle, wo abgenagte Knochen verrieten, dass die Wölfe ein Tier getötet hatten. Es war, wie er aus den Überresten feststellte, ein Renntierkalb, das noch vor einer Stunde munter herumgelaufen und äußerst lebendig gewesen war. Er betrachtete die Knochen, die so sauber abgenagt waren, als ob man sie gewaschen und poliert hätte, und die noch einen rosigen Ton zeigten, weil das Leben, das in ihren Zellen gewirkt hatte, noch nicht endgültig erloschen war. Konnte es geschehen, dass, ehe der Tag zu Ende gegangen, von ihm selbst nichts weiter übrig war? So war das Leben ja. Ein eitles und flüchtiges Etwas. Und nur das Leben war eine Qual. Der Tod hatte keine Stacheln. Der Tod war nur Schlaf. Er bedeutete Aufhören. Ruhe. Frieden. Warum in aller Welt wollte er da nicht gerne sterben?
Aber er moralisierte nicht allzulange. Er hockte im Moos und begann an den Resten vom Leben zu saugen, die noch von dem zarten Rosa der lebendigen Kraft getönt waren. Der süße Geschmack vom Fleisch, der nur leise und unwirklich wie eine Erinnerung war, machte ihn vollkommen verrückt. Seine Kiefer umschlossen die Knochen und kauten drauflos. Zuweilen waren es die Knochen, bisweilen aber auch seine Zähne, die zersprangen. Dann zermalmte er die Knochen zwischen zwei Steinen, mahlte sie zu einem Brei, den er schluckte. Hin und wieder quetschte er sich bei der Eile auch die Finger, und doch fand er einen Augenblick Zeit, darüber zu staunen, dass es nicht besonders wehtat, wenn er die Finger versehentlich mit dem schweren Stein traf.
Es kamen schreckliche Tage mit Schnee und Regen. Er wusste gar nicht mehr, wann er lagerte und wann er wieder aufbrach. Er wanderte ebenso oft nachts wie am Tage. Er blieb liegen, wo er zufällig umfiel, und kroch weiter, sobald der sterbende Lebenswille in ihm aufflackerte und ein wenig klarer brannte. Als Einzelwesen kämpfte er überhaupt nicht mehr. Es war das Leben selbst in ihm, das ihn vorwärts trieb. Er litt nicht mehr. Seine Nerven waren abgestumpft und unempfindlich geworden. Aber seine Seele wurde von wunderbaren Visionen und herrlichen Träumen erfüllt.
Und die ganze Zeit ging er und sog und nagte an den zersplitterten Knochen des Renntiers, denn er hatte die letzten elenden Reste aufgesammelt und schleppte sie überall mit sich. Er überquerte keine Wasserscheiden oder Hügel mehr, sondern folgte rein mechanisch einem großen Fluss, der durch ein weites, seichtes Talgelände strömte. Er sah weder das Tal noch den Fluss. Er sah nichts als seine Visionen. Seele und Körper krochen weiter Seite an Seite, aber doch jede für sich, so dünn war der Faden, der beide miteinander verband.
Er kam plötzlich richtig zum Bewusstsein, als er auf einem Felsen auf dem Rücken lag. Die Sonne schien klar und warm. Aus weiter Ferne hörte er das Quieken der Renntierkälber. Er hatte eine unklare Erinnerung an Regen, Wind und Schnee, ob er aber zwei Tage oder zwei Wochen vom Sturm herumgeschleudert worden war, das ahnte er nicht.
Eine Zeit lang blieb er unbeweglich liegen und ließ den freundlichen Sonnenschein auf sich herabströmen und seinen misshandelten Körper mit wundervoller Wärme sättigen. Ein herrlicher Tag, dachte er. Vielleicht würde es ihm gelingen festzustellen, wo er war. Mit einer schmerzhaften Anstrengung wälzte er sich auf die Seite. Unter ihm strömte ein breiter, langsam fließender Fluss. Er kam ihm verblüffend unbekannt vor. Langsam folgte er ihm mit den Augen: Der Fluss schlängelte sich in weiten Windungen durch öde, nackte Hügel, die öder und nackter waren als irgendwelche Hügel, die er je gesehen hatte. Langsam, wohlüberlegt, ohne Erregung oder größeres Interesse als sonst, folgte er mit den Augen dem Lauf des unbekannten Stromes bis zum Horizont und sah, dass er sich dort in einen klaren, hell schimmernden See ergoss. Noch immer spürte er keine Erregung. Es ist höchst seltsam, dachte er, es muss eine Vision oder eine Fata Morgana sein – irgendeine Gaukelei seines verworrenen Geistes. Er wurde in dieser Annahme auch dadurch bestärkt, dass er ein Schiff entdeckte, das mitten auf dem schimmernden See vor Anker lag. Er schloss einen Augenblick die Augen und öffnete sie dann wieder. Merkwürdigerweise blieb die Vision immer noch. Und doch war es gar nicht seltsam. Er wusste genau, dass es keinen See und kein Schiff mitten im öden Lande geben konnte, genau wie er wusste, dass er keine Patrone mehr in seinem leeren Stutzen hatte.
Er hörte hinter sich ein sonderbares Schnaufen – ein halbersticktes Würgen oder Husten. Infolge seiner unerhörten Schwäche und Steifheit vermochte er sich nur sehr langsam auf die andere Seite zu wälzen. In unmittelbarer Nähe sah er nichts, aber er wartete geduldig. Wieder vernahm er das Husten und Schnaufen, und jetzt erblickte er gerade vor sich, keine fünf Schritt entfernt, den grauen Kopf eines Wolfs zwischen zwei zackigen Steinen hervorlugen. Die aufrechtstehenden Ohren waren nicht ganz so spitz, wie er sie sonst an Wölfen bemerkt hatte. Die Augen schienen entzündet und blutunterlaufen. Der Kopf hing schlaff und verzweifelt herab. Das Tier blinzelte immerfort in den Sonnenschein. Er hatte den Eindruck, dass es krank sein müsste. Als er hinsah, schnaufte und hustete es wieder.