Jack London – Gesammelte Werke

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Der Mann fluch­te und schleu­der­te das lee­re Ge­wehr weit von sich. Laut stöh­nend ver­such­te er, auf die Bei­ne zu kom­men. Das war eine lang­sa­me und schwie­ri­ge Ar­beit. Die Füße, die noch nicht an ihre neu­en Hül­len ge­wöhnt wa­ren, müh­ten sich ab und glit­ten hin und her; je­des Beu­gen und Stre­cken ge­lang nur durch eine un­ge­heu­re Wil­lens­an­span­nung. Als er end­lich auf den Fü­ßen stand, brauch­te er wie­der lan­ge Zeit, um sich auf­zu­rich­ten und wie ein nor­ma­ler Mensch da­zu­ste­hen.

Er kroch auf eine klei­ne Bo­den­er­hö­hung und sah sich um. Es gab kei­nen Baum, kei­nen Strauch – nur ein grau­es Meer von Moos, das von den grau­en Fel­sen, den grau­en Pfüt­zen und den klei­nen grau­en Bäch­lein kaum zu un­ter­schei­den war. Der Him­mel war eben­falls grau. Kei­ne Son­ne oder auch nur die An­deu­tung ei­ner Son­ne war zu se­hen. Er ahn­te nicht mehr, wo Nor­den sein moch­te, und hat­te ganz den Weg ver­ges­sen, den er in der vo­ri­gen Nacht hier­her­ge­wan­dert war. Aber er war nicht ver­lo­ren. Das wuss­te er. Bald kam er in das »Land der klei­nen Zwei­ge«. Er hat­te das Ge­fühl, dass es ir­gend­wo links vor ihm lie­gen muss­te, gar nicht so weit ent­fernt – viel­leicht schon hin­ter dem nächs­ten Hü­gel.

Er kehr­te zu sei­nem La­ger­platz zu­rück, um sein Bün­del für die Wei­ter­fahrt zu schnü­ren. Zu­nächst ver­ge­wis­ser­te er sich, dass alle drei Päck­chen Streich­höl­zer vor­han­den wa­ren, gab sich aber nicht die Mühe, sie noch ein­mal zu zäh­len. Da­ge­gen zö­ger­te er lan­ge und nach­denk­lich, als er einen strot­zen­den Beu­tel aus Elch­le­der wie­der ein­pa­cken woll­te. Der Beu­tel war nicht groß. Er konn­te ihn in sei­nen bei­den Hän­den ver­ber­gen. Er wuss­te ge­nau, dass das Ding nur ein Ge­wicht von fünf­zehn Pfund hat­te … ge­nau­so viel wie das gan­ze üb­ri­ge Bün­del … aber es mach­te ihm im­mer­hin ge­wis­se Schwie­rig­kei­ten. Er blieb einen Au­gen­blick ste­hen und starr­te den di­cken elch­le­der­nen Beu­tel an. Schließ­lich nahm er ihn doch, wäh­rend er einen miss­traui­schen Blick um sich warf, als ob die Ein­öde ver­su­chen könn­te, ihm den Beu­tel zu steh­len. Und als er end­lich auf­stand, um sei­ne Ta­ges­wan­de­rung an­zu­tre­ten, be­fand sich der Beu­tel un­ter den Sa­chen, die er auf sei­nem Rücken trug.

Er bog nach links ab. Hie und da blieb er ste­hen, um Moos­bee­ren zu es­sen. Sein Fuß­ge­lenk war jetzt ganz steif, er hin­k­te stär­ker als zu­vor, aber der Schmerz in dem Fuß war nichts ge­gen die Qua­len, die ihm sein lee­rer Ma­gen ver­ur­sach­te. Der Hun­ger be­gann sehr weh zu tun. Er fühl­te ihn im­mer stär­ker und schmerz­haf­ter, bis er nicht mehr im­stan­de war, sei­ne Ge­dan­ken auf den Weg zu rich­ten, den er ein­schla­gen muss­te, um nach dem »Lan­de der klei­nen Zwei­ge« zu ge­lan­gen. Die Moos­bee­ren ver­moch­ten nichts ge­gen die Schmer­zen. Sie mach­ten nur durch ihre bei­ßen­de Schär­fe sei­ne Zun­ge und sei­nen Sch­lund ganz wund.

Er er­reich­te ein Tal, wo Berg­schneehüh­ner sich auf flat­tern­den Flü­geln von Fels­blö­cken und Moos­bee­ren­sträu­chern in die Luft er­ho­ben. »Kerr … Kerr … Kerr …« schri­en sie. Er warf ih­nen Stei­ne nach, konn­te sie aber nicht tref­fen. Er leg­te sein Bün­del auf den Bo­den und pürsch­te sich an sie her­an, wie eine Kat­ze an einen Sper­ling. Die schar­fen Stei­ne zer­ris­sen ihm die Ho­sen, bis sei­ne Knie eine Fähr­te von Blut hin­ter­lie­ßen. Aber der Schmerz, den der Hun­ger ver­ur­sach­te, war so groß, dass er sonst nichts emp­fand. Er schlüpf­te durch das feuch­te Moos, sei­ne Klei­der wur­den durch­nässt, sein Kör­per zit­ter­te vor Käl­te, aber er merk­te es gar nicht, so furcht­bar brann­te das Fie­ber des Hun­gers. Und im­mer wie­der er­ho­ben die Schneehüh­ner sich und um­flat­ter­ten ihn, bis ihm ihr ewi­ges »Kerr … Kerr … Kerr …« wie ein blu­ti­ger Hohn er­schi­en. Und er ver­fluch­te sie und rief ih­nen ih­ren ei­ge­nen Schrei zu.

Ein­mal stol­per­te er so­gar über ein Schnee­huhn, das wahr­schein­lich ein­ge­schla­fen war. Er hat­te es gar nicht be­merkt, bis es aus sei­nem stei­ni­gen Win­kel ihm di­rekt ins Ge­sicht flat­ter­te. Er hasch­te nach dem Vo­gel, aber sei­ne Be­we­gung war eben­so er­schro­cken und un­ge­schickt wie der Flug des Schnee­huhns aus dem Ver­steck, und so blie­ben ihm nur ein paar Schwung­fe­dern in der Hand. Als er es weg­flie­gen sah, fühl­te er einen flam­men­den Hass ge­gen den Vo­gel, als hät­te der ihm et­was Furcht­ba­res an­ge­tan. Dann kehr­te er um und lud sich das Bün­del wie­der auf die Schul­tern.

Im Lau­fe des Ta­ges er­reich­te er auch an­de­re Tä­ler und Schluch­ten, wo es reich­lich Wild gab. Eine gan­ze Her­de von Renn­tie­ren kam an ihm vor­bei … viel­leicht zwan­zig. Und das Schlimms­te war, dass sie in­ner­halb Schuss­wei­te gin­gen und dass sei­ne Büch­se leer war. Er emp­fand eine wahn­sin­ni­ge Lust, ih­nen nach­zu­lau­fen, und war über­zeugt, sie ein­ho­len zu kön­nen. Ein schwar­zer Fuchs spa­zier­te ein­mal dicht vor sei­ner Nase vor­bei – mit ei­nem Schnee­huhn im Maul. Der Mann schrie auf. Aber ob­gleich der Fuchs töd­lich er­schrak und in großen Sprün­gen flüch­te­te, ließ er doch das Schnee­huhn nicht fal­len.

Am spä­ten Nach­mit­tag ging der Mann an ei­nem mil­chi­gen Fluss ent­lang, der voll Kalk und an ein­zel­nen Stel­len mit Schilf be­wach­sen war. Er riss die Schilf­hal­me ab, so nahe an der Wur­zel wie mög­lich, und pflück­te ein Stück her­aus, das un­ge­fähr wie ganz jun­ge Zwie­belkeim­lin­ge aus­sah und nicht län­ger als ein Bil­der­na­gel war. Es war zart, und als sei­ne Zäh­ne sich dar­in ver­gru­ben, knack­te es knusp­rig, dass er dach­te, eine de­li­ka­te Spei­se ge­fun­den zu ha­ben. Aber die Fi­bern wa­ren zäh, un­ge­nieß­ba­re Fa­sern, die von Was­ser durch­tränkt wa­ren, ganz wie die Moos­bee­ren. Nähr­wert hat­ten sie über­haupt nicht. Und doch schleu­der­te er sein Ge­päck fort und kroch in das Schilf. Er kau­te und fraß wie ein Vieh.

Er war sehr müde und hat­te oft ge­nug nur den einen Ge­dan­ken, sich hin­zu­le­gen und aus­zu­ru­hen – ganz still zu lie­gen und zu schla­fen. Aber er wur­de un­auf­halt­sam wei­ter­ge­trie­ben – nicht so sehr durch den Wunsch, das »Land der klei­nen Zwei­ge« zu er­rei­chen, wie durch den ewig na­gen­den Hun­ger. Er such­te in den klei­nen Pfüt­zen nach Fröschen und grub mit sei­nen Nä­geln in der Erde nach Wür­mern, ob­gleich er ganz ge­nau wuss­te, dass es so hoch im Nor­den we­der Frösche noch Wür­mer gab.

Ver­ge­bens un­ter­such­te er den kleins­ten Tüm­pel, bis er end­lich, als die Däm­me­rung schon längst an­ge­bro­chen war, in ei­ner Pfüt­ze einen ein­sa­men Fisch ent­deck­te. Er war nicht grö­ßer als eine El­rit­ze. Den­noch steck­te der Mann sei­nen Arm bis zur Schul­ter in das ei­si­ge Was­ser, aber der Fisch ent­schlüpf­te ihm. Er griff mit bei­den Hän­den nach ihm, doch das Was­ser wur­de durch den mil­chi­gen Bo­den­schlamm so ge­trübt, dass er kaum et­was se­hen konn­te. In sei­ner Auf­re­gung fiel er auch noch selbst in die Pfüt­ze und wur­de bis zum Lei­be nass. Und jetzt war das Was­ser so trü­be ge­wor­den, dass al­les wei­te­re Su­chen zweck­los war. Er muss­te des­halb war­ten, bis es schließ­lich wie­der klar ge­wor­den war.

Dann er­neu­er­te er sei­ne An­stren­gun­gen, den Fisch zu fan­gen. Aber er war zu un­ge­dul­dig. Des­halb nahm er sei­nen Zinn­be­cher aus dem Bün­del und be­gann die Pfüt­ze leer zu schöp­fen. Zu­erst ar­bei­te­te er wie ein Wil­der drauf­los, be­spritz­te sich und schleu­der­te das Was­ser nicht weit ge­nug, so­dass es wie­der in die Pfüt­ze lief. Dann nahm er sich zu­sam­men und mach­te es mit grö­ße­rer Sorg­falt. Er be­müh­te sich, ru­hig und kühl zu blei­ben, ob­gleich sein Herz ge­gen die Brust häm­mer­te und sei­ne Hän­de zit­ter­ten. Nach ei­ner hal­b­en Stun­de an­stren­gen­der Ar­beit war die Pfüt­ze fast leer. Kaum eine Tas­se voll war noch üb­rig. Aber – jetzt war kein Fisch mehr da. Nach lan­gem Su­chen fand er dann eine ver­bor­ge­ne Rit­ze im Stein­grund, durch die der Fisch in eine grö­ße­re Pfüt­ze, die da­ne­ben lag, ent­schlüpft war und die­se Pfüt­ze war zu groß, als dass er sie hät­te lee­ren kön­nen. Hät­te er nur eine Ah­nung vom Vor­han­den­sein der Rit­ze ge­habt, so hät­te er sie gleich mit ei­nem Stein ver­sper­ren kön­nen, und der Fisch wäre ihm leicht zur Beu­te ge­fal­len.

So dach­te er und ver­such­te auf­zu­ste­hen, sank aber müde auf dem feuch­ten Bo­den um. An­fangs sprach er lei­se mit sich selbst, dann be­gann er im­mer lau­ter in die un­barm­her­zi­ge Ein­öde hin­aus­zu­ru­fen, die um ihn her brü­te­te. Und zu­letzt wur­de er von ei­nem krampf­haf­ten, trä­nen­lo­sen Schluch­zen ge­rüt­telt.

Er mach­te ein Feu­er und wärm­te sich durch große Schlu­cke brüh­hei­ßen Was­sers. Dann be­rei­te­te er sich am fel­si­gen Ufer des Stro­mes ein La­ger, wie er es am Abend zu­vor ge­tan hat­te. Das letz­te, was er tat, war, dass er un­ter­such­te, ob sei­ne Streich­höl­zer tro­cken wa­ren. Dann zog er sei­ne Uhr auf. Die De­cken wa­ren feucht und klamm. In sei­nem Fuß­ge­lenk häm­mer­te der Schmerz. Aber er dach­te nur an ei­nes: dass er hung­rig war. Und in sei­nem un­ru­hi­gen Schlaf träum­te er von Fes­ten und Ban­ket­ten und von wun­der­ba­ren Ge­rich­ten, die ihm auf alle mög­li­che Art und Wei­se vor­ge­setzt wur­den.

Er wach­te frie­rend und elend auf. Kei­ne Son­ne war zu se­hen. Das Grau der Erde und des Him­mels war noch tiefer ge­wor­den, noch un­durch­dring­li­cher. Ein rau­er Wind weh­te, und die ers­ten Schnee­fäl­le hat­ten die Gip­fel der Hü­gel mit weißem Schim­mer ver­hüllt. Die Luft um ihn wur­de dich­ter und wei­ßer, wäh­rend er Feu­er mach­te und Was­ser koch­te. Es war ein nas­ser Schnee, halb­wegs Re­gen, und die Flo­cken wa­ren groß und klamm. An­fangs zer­schmol­zen sie, so­bald sie den Bo­den be­rühr­ten, aber es fie­len im­mer mehr, und schließ­lich ver­hüll­ten sie die Erde, ver­lösch­ten das Feu­er und verd­ar­ben ihm sei­nen Vor­rat an tro­ckenem Moos, das er zum Feu­er­ma­chen ge­sam­melt hat­te.

 

Dies war für ihn ein Zei­chen, dass er schnell sein Ge­päck neh­men und vor­wärts ge­hen soll­te, wenn er auch nicht wuss­te, wo­hin. We­der das »Land der klei­nen Zwei­ge« noch Bill oder das De­pot un­ter dem um­ge­kipp­ten Kanu am Dea­se-Fluss in­ter­es­sier­ten ihn jetzt. Es gab für ihn nur ein ein­zi­ges Wort: »Es­sen«, und das be­herrsch­te ihn voll­kom­men. Er war vor Hun­ger fast wahn­sin­nig ge­wor­den. Er küm­mer­te sich gar nicht um die Rich­tung, die er ein­schlug, so­lan­ge sie ihn durch die Schluch­ten führ­te. In­stink­tiv fand er un­ter dem nas­sen Schnee die wäs­se­ri­gen Moos­bee­ren. Sein Ge­fühl half ihm, mit­ten im Schnee das Schilf­gras zu fin­den und es mit der Wur­zel her­aus­zu­zie­hen. Das war je­doch eine Nah­rung, die nach nichts schmeck­te und in kei­ner Be­zie­hung be­frie­dig­te. Er fand auch ein Kraut, das einen säu­er­li­chen Ge­schmack hat­te, und aß al­les, was er da­von fin­den konn­te. Aber es war nur sehr we­nig, denn es war eine Kriech­pflan­ze, die un­ter ei­ner mehr­zöl­li­gen Schnee­krus­te kaum zu fin­den war.

Die­se Nacht schlief er ohne Feu­er und ohne hei­ßes Was­ser zum Trin­ken. Wie zer­schla­gen kroch er in sei­nen Schlaf­sack, um den un­ru­hi­gen Schlaf des Hun­gern­den zu schla­fen. Der Schnee wur­de zu ei­nem kal­ten Re­gen. Sehr, sehr oft wach­te er auf, weil es ihm ei­sig auf sein nach oben ge­wand­tes Ge­sicht tropf­te. Es wur­de Tag – ein grau­er Tag ohne Son­ne. Es hat­te auf­ge­hört zu reg­nen. Sein Hun­ger war nicht mehr so ät­zend. Der schmerz­haf­te, fast un­er­träg­li­che Drang nach Es­sen war vor­bei, hat­te sich er­schöpft. Es war nur ein stump­fer, dump­fer Schmerz im Ma­gen ge­blie­ben, aber die­ser Schmerz stör­te ihn nicht so sehr. Er war auch wie­der ver­nünf­ti­ger ge­wor­den und im­stan­de, sei­ne Ge­dan­ken auf das »Land der klei­nen Zwei­ge« und das De­pot am Dea­se-Fluss zu kon­zen­trie­ren.

Er riss den Rest ei­ner De­cke in Strei­fen und ver­band da­mit sei­ne blu­ten­den Füße. Dann mach­te er sich einen neu­en Ver­band um das ver­letz­te Fuß­ge­lenk und be­rei­te­te sich auf eine lan­ge Ta­ge­rei­se vor. Als er sein Bün­del zu pa­cken be­gann, mach­te er wie­der lan­ge und nach­denk­lich bei dem di­cken elch­le­der­nen Beu­tel halt. Aber schließ­lich ent­schloss er sich, ihn mit­zu­neh­men.

Der Schnee war durch den Re­gen ge­schmol­zen, und nur die Gip­fel der Hü­gel schim­mer­ten noch weiß. Die Son­ne kam zum Vor­schein, und es ge­lang ihm, die Him­mels­rich­tun­gen fest­zu­stel­len, wenn er auch lei­der er­ken­nen muss­te, dass er sich ver­irrt hat­te. Wahr­schein­lich war er an ei­nem der vor­her­ge­hen­den Tage zu weit nach links ab­ge­schwenkt. Er bog des­halb scharf nach rechts ab, um der mög­li­chen Ab­wei­chung von sei­ner Rich­tung ent­ge­gen­zu­wir­ken.

Ob­gleich die Schmer­zen, die der Hun­ger ihm ver­ur­sach­te, längst nicht mehr so schlimm wa­ren, konn­te er doch mer­ken, dass er sehr schwach ge­wor­den war. Er muss­te öf­ters halt­ma­chen, um aus­zu­ru­hen, wenn er Moos­bee­ren oder mit Schilf be­wach­se­ne Stel­len auf­such­te. Er merk­te, dass sei­ne Zun­ge dick und ge­schwol­len war und sich an­fühl­te, als ob sie mit fei­nen Haa­ren be­wach­sen wäre, und er hat­te einen bit­tern Ge­schmack im Mun­de. Sein Herz mach­te ihm viel Sor­ge. So­bald er ei­ni­ge Mi­nu­ten ge­gan­gen war, be­gann es un­barm­her­zig zu klop­fen: dump, dump, dump … und dann wie­der hüpf­te es wie wild, mit flat­tern­den Schlä­gen, die ihn er­schreck­ten und sei­ne Schrit­te schwach und un­si­cher mach­ten.

Mit­ten am Tage hat­te er das Glück, in ei­ner großen Pfüt­ze zwei El­rit­zen zu fin­den. Es war un­mög­lich, das Was­ser aus­zu­schöp­fen, aber er war heu­te ru­hi­ger als am vor­her­ge­hen­den Tage, und es ge­lang ihm, sie in sei­nem Zinn­be­cher zu fan­gen. Sie wa­ren frei­lich nicht län­ger als sein klei­ner Fin­ger, aber merk­wür­di­ger­wei­se hat­te er kei­nen be­son­de­ren Hun­ger. Der dump­fe Schmerz in sei­nem Ma­gen wur­de im­mer dump­fer und schwä­cher. Es war fast, als ob der Ma­gen all­mäh­lich ein­sch­lie­fe. Er ver­zehr­te die Fi­sche roh und kau­te sie mit pein­lichs­ter Sorg­falt, denn er aß ja über­haupt nur aus rein ver­nunft­mä­ßi­gen Grün­den, nicht weil er ei­nem Be­dürf­nis ge­horch­te. Er hat­te nicht die ge­rings­te Lust zu es­sen, aber er wuss­te, dass er es­sen muss­te, um zu le­ben.

Im Lau­fe des Abends fing er noch drei El­rit­zen. Zwei da­von ver­zehr­te er gleich, die drit­te hob er sich für das Früh­stück am nächs­ten Tage auf. Die Son­ne hat­te hie und da Strei­fen von Moos ge­trock­net, so­dass es ihm mög­lich wur­de, Feu­er zu ma­chen und sich mit heißem Was­ser zu er­wär­men. An die­sem Tage hat­te er nicht mehr als zehn Mei­len zu­rück­ge­legt. Und am nächs­ten Tage wan­der­te er, so oft sein hart klop­fen­des Herz es ihm er­laub­te, leg­te aber auf die­se Wei­se nur fünf Mei­len zu­rück. Sein Ma­gen ver­ur­sach­te ihm nicht mehr das ge­rings­te Un­be­ha­gen. Der Hun­ger schi­en ein­fach ein­ge­schla­fen zu sein. Er be­fand sich jetzt auch in ei­nem gänz­lich un­be­kann­ten Lan­de, und er sah schon vie­le Renn­tie­re, au­ßer­dem auch zahl­rei­che Wöl­fe. Oft hör­te er ihr Heu­len durch die Ein­öde, und ein­mal sah er drei Wöl­fe in kur­z­er Ent­fer­nung sei­nen Weg kreu­zen.

Wie­der eine Nacht. Als er ge­gen Mor­gen er­wach­te, war er noch ru­hi­ger und ver­nünf­ti­ger ge­wor­den. Er lös­te den le­der­nen Rie­men, mit dem der Elch­le­der­beu­tel zu­ge­bun­den war. Ein gel­ber Strom von gro­bem Gold­staub und -klum­pen er­goss sich durch die Öff­nung. Er teil­te das Gold in zwei un­ge­fähr glei­che Hau­fen. Die eine Hälf­te ver­pack­te er in ein Stück von ei­ner De­cke und ver­barg es hin­ter ei­nem her­vor­sprin­gen­den Fels­block, die an­de­re Hälf­te tat er in den Sack zu­rück.

Zum Wi­ckeln sei­ner Füße muss­te er jetzt schon Strei­fen von sei­ner letz­ten De­cke schnei­den. Sein Ge­wehr be­hielt er noch im­mer bei sich, la­gen doch in ih­rem De­pot am Dea­se-Fluss Pa­tro­nen.

Es war ein neb­li­ger Tag, und lei­der er­wach­te der Hun­ger jetzt wie­der. Er fühl­te sich sehr schwach und litt an ei­nem Schwin­del, der ihn hin und wie­der voll­kom­men blind mach­te. Es war schon längst nichts Un­ge­wöhn­li­ches mehr, dass er strau­chel­te und stürz­te. Und ein­mal, als er stol­per­te, fiel er ge­ra­de in ein Schnee­huhn­nest. Es wa­ren vier erst vor kur­z­em aus­ge­kro­che­ne Kücken dar­in; sie wa­ren viel­leicht einen Tag alt, klei­ne Klum­pen pul­sie­ren­den Le­bens, je­des kaum mehr als ein Hap­pen, und er ver­schlang sie gie­rig. Er steck­te sie sich le­ben­dig in den Mund, zer­kau­te sie wie Eier­scha­len zwi­schen sei­nen Zäh­nen. Das Mut­ter­tier schlug un­ter lau­tem Ge­kreisch auf ihn ein. Mit sei­nem Ge­wehr als Keu­le ver­such­te er den Vo­gel zu er­schla­gen, aber das Tier ent­kam. Er schleu­der­te ihm Stei­ne nach, und es ge­lang ihm, einen Flü­gel zu zer­schmet­tern. Aber der Vo­gel ent­flat­ter­te, be­vor er ihn fan­gen konn­te, lief, den ver­stüm­mel­ten Flü­gel nach­schlep­pend, fort, wäh­rend er ihn hum­pelnd ver­folg­te.

Die klei­nen Kücken hat­ten sei­nen Ap­pe­tit nur ver­schärft. Er hüpf­te und hin­k­te mit sei­nem kran­ken Fuß­ge­lenk da­hin. Ab und zu warf er mit Stei­nen nach dem Vo­gel, dann und wann schrie er mit hei­se­rer Stim­me. Dann wie­der hum­pel­te und hüpf­te er in grim­mi­gem Schwei­gen. Mür­risch und ge­dul­dig raff­te er sich wie­der auf, wenn er hin­fiel. Und im­mer wie­der rieb er sich mit der Hand die Au­gen, wenn der Schwin­del ihn zu über­wäl­ti­gen droh­te.

Die Ver­fol­gung führ­te ihn über sump­fi­ges Ge­län­de in die Tie­fe der Schlucht hin­ab, und dort fand er plötz­lich im feuch­ten Moos Fuß­stap­fen. Es wa­ren nicht die sei­ni­gen – das sah er so­fort. Es muss­te Bills Fähr­te sein. Aber er konn­te nicht ste­hen blei­ben, denn die Schnee­huhn­mut­ter lief vor ihm her. Zu­erst woll­te er sie fan­gen und dann um­keh­ren und die Fuß­spu­ren un­ter­su­chen.

Er er­mü­de­te das Schnee­huhn all­mäh­lich – gleich­zei­tig aber er­mü­de­te er sich sel­ber. Das Huhn lag, nach Atem rin­gend, auf der Sei­te – nur we­ni­ge Schritt von ihm ent­fernt. Und er lag eben­falls auf der Sei­te, hat­te aber nicht Kraft ge­nug, um hin­zu­krie­chen. Und als er sich er­holt hat­te, hat­te der Vo­gel es auch ge­tan und flat­ter­te fort, als der Mann ge­ra­de die Hand aus­streck­te, um ihn zu er­grei­fen. Die Jagd war zu Ende. Die Nacht brach her­ein, und der Vo­gel war da­mit end­gül­tig ent­kom­men. Vor lau­ter Schwä­che stol­per­te er und schlug vorn­über zu Bo­den, das Bün­del auf dem Na­cken. Es dau­er­te lan­ge, ehe er sich über­haupt rüh­ren konn­te. Dann wälz­te er sich auf die Sei­te, zog sei­ne Uhr auf und blieb bis zum nächs­ten Mor­gen lie­gen.

Wie­der kam ein neb­li­ger Tag. Die Hälf­te sei­ner letz­ten De­cke hat­te er be­reits als Fuß­lap­pen ver­wen­det. Er war nicht mehr im­stan­de, die Fähr­te Bills zu fin­den. Sie war ihm auch völ­lig gleich­gül­tig. Sein Hun­ger trieb ihn jetzt wie­der wei­ter, nur dach­te er mit Stau­nen, ob Bill sich viel­leicht auch ver­irrt hät­te. Ge­gen Mit­tag wur­de das Schlep­pen des schwe­ren Bün­dels ihm zu er­mü­dend. Aber­mals teil­te er das Gold in zwei Häuf­chen, ließ dies­mal aber das eine ein­fach auf den Bo­den strö­men. Im Lau­fe des Nach­mit­tags warf er auch die an­de­re Hälf­te fort. Jetzt blie­ben ihm über­haupt nur noch eine hal­be De­cke, der Zinn­be­cher und das Ge­wehr.

Eine un­an­ge­neh­me Hal­lu­zi­na­ti­on be­gann sich sei­ner zu be­mäch­ti­gen. Er war ganz über­zeugt, dass er noch eine Pa­tro­ne üb­rig hät­te. Sie lag in der Kam­mer des Stut­zens, und er hat­te sie bis­her ein­fach über­se­hen. An­de­rer­seits aber wuss­te er die gan­ze Zeit, dass die Kam­mer leer war. Die Hal­lu­zi­na­ti­on woll­te je­doch kei­ner ver­nunft­mä­ßi­gen Über­le­gung wei­chen. Er konn­te sie für Stun­den ver­drän­gen, dann aber öff­ne­te er doch schnell die Kam­mer und muss­te fest­stel­len, dass sie leer war. Und die Ent­täu­schung war ge­nau­so bit­ter, wie wenn er wirk­lich er­war­tet hät­te, eine Pa­tro­ne zu fin­den.

Eine hal­be Stun­de lang trot­te­te er wei­ter. Dann tauch­te die ver­rück­te Hal­lu­zi­na­ti­on wie­der in sei­nem Ge­hirn auf. Und aber­mals be­kämpf­te er sie, und den­noch blieb sie hart­nä­ckig, bis er, um sich zu ver­ge­wis­sern und sich von ihr zu be­frei­en, wie­der­um die Ge­wehr­kam­mer öff­ne­te und fest­stell­te, dass nichts vor­han­den war. Zu an­de­ren Zei­ten wan­der­ten sei­ne Ge­dan­ken selt­sa­me­re Wege. Und wäh­rend er wie ein leb­lo­ser Au­to­mat wei­ter­wank­te, nag­ten höchst merk­wür­di­ge Plä­ne und Ein­fäl­le wie Wür­mer in sei­nem Ge­hirn. Aber all die­se Aus­flü­ge aus der Wirk­lich­keit wa­ren doch nur von kur­z­er Dau­er, denn der ste­chen­de Schmerz, den der Hun­ger ver­ur­sach­te, rief ihn im­mer wie­der zu­rück. Ein­mal wur­de er von ei­nem sol­chen Aus­flug in die Welt der Fan­ta­sie ganz plötz­lich durch ein Ge­sicht zu­rück­ge­ru­fen, das ihn bei­na­he die Be­sin­nung ge­kos­tet hät­te. Er schwank­te, tau­mel­te und wank­te wie ein Be­trun­ke­ner, der sich ver­ge­bens be­müht, das Gleich­ge­wicht zu be­wah­ren. Vor ihm stand ein Pferd! Ein rich­ti­ges Pferd! Er woll­te sei­nen Au­gen nicht trau­en. Um ihn her lag ein dich­ter Ne­bel, der von flim­mern­den Licht­fle­cken ge­spren­kelt war. Er rieb sich wie ein Wil­der die Au­gen, um klar se­hen zu kön­nen – und bei Gott: Es war kein Pferd, son­dern ein großer brau­ner Bär! Das Tier be­ob­ach­te­te ihn mit krie­ge­ri­scher Neu­gier­de.

Der Mann hat­te sein Ge­wehr schon halb an die Schul­ter ge­ho­ben, als er sich klar­mach­te, dass er ja kei­ne Pa­tro­ne dar­in hat­te. Er senk­te es wie­der und zog sein Jagd­mes­ser aus der mit Glas­per­len be­stick­ten Schei­de an sei­ner Hüf­te. Es war sehr scharf. Und es hat­te eine schar­fe Spit­ze. Er woll­te sich auf den Bä­ren stür­zen und ihn tö­ten. Aber sein Herz be­gann wie­der sein war­nen­des Po­chen: dump … dump … dump … Dann ka­men das wil­de Hüp­fen und das auf­ge­reg­te Flat­tern, der ei­ser­ne Ring, der sich um sei­ne Stirn press­te, und dann kroch das Schwin­del­ge­fühl schlei­chend durch sein Ge­hirn.

Sein ver­zwei­fel­ter Mut wur­de von ei­ner mäch­ti­gen Woge von Angst be­siegt. Was soll­te er in sei­ner ver­damm­ten Schwä­che tun, wenn das Tier ihn an­griff? Er nahm sich zu­sam­men und stell­te sich in sei­ne im­po­san­tes­te Po­si­tur, fass­te das Mes­ser fest und starr­te den Bä­ren scharf an. Das mäch­ti­ge Tier mach­te mit plum­per Be­we­gung ei­ni­ge Schrit­te vor­wärts, stell­te sich auf die Hin­ter­bei­ne und ließ ver­suchs­wei­se ein Knur­ren hö­ren. Wenn der Mann lief, wür­de es ihm nach­lau­fen – aber er lief nicht. Jetzt war er von der Kühn­heit der Angst be­seelt. Auch er knurr­te, wild, schre­cken­er­re­gend. Und ver­lieh auf die­se Wei­se der Angst Stim­me, die dem Le­bens­wil­len so nahe ver­wandt und mit den tiefs­ten Wur­zeln des Le­bens ver­bun­den und ver­wach­sen ist.

 

Der Bär ent­fern­te sich lang­sam, wäh­rend er dro­hend knurr­te, sich aber in Wirk­lich­keit selbst vor dem selt­sa­men Ge­schöpf, das so auf­recht und furcht­los da­stand, fürch­te­te. Der Mann aber rühr­te sich nicht. Wie eine Sta­tue blieb er ste­hen, bis die Ge­fahr ver­schwun­den war. Dann gab er der Schwä­che nach und sank er­schöpft und zit­ternd in das feuch­te Moos.

Wie­der raff­te er sich auf und wan­der­te wei­ter. Aber jetzt hat­te er eine neue Art von Furcht ken­nen­ge­lernt. Es war nicht die Furcht vor dem pas­si­ven Tod des Ver­hun­gerns, son­dern die, durch äu­ße­re Ge­walt ver­nich­tet zu wer­den, ehe die Ent­beh­run­gen das letz­te Stre­ben, das den Wil­len zum Le­ben auf­recht hielt, in ihm ver­nich­tet hät­ten. Da wa­ren zum Bei­spiel die Wöl­fe. Ihr Heu­len er­scholl von al­len Sei­ten in der Ein­öde und ver­wan­del­te die Luft in eine Werk­statt der Dro­hung, der Ver­nich­tung und dunk­ler Ge­fah­ren. Und so er­füllt war die Luft von die­sen schreck­ein­flö­ßen­den Tö­nen, dass er sich selbst da­bei er­tapp­te, wie er die Arme em­por­streck­te und sich kör­per­lich da­ge­gen stemm­te, als ob es die Wand ei­nes vom Win­de um­tob­ten Zel­tes wäre.

Wie­der und wie­der kreuz­ten die Wöl­fe in klei­nen Ru­deln von zwei oder drei Stück sei­nen Weg. Aber sie hiel­ten sich von ihm weg. Sie wa­ren nicht zahl­reich ge­nug, und au­ßer­dem jag­ten sie die Renn­tie­re, die nicht kämpf­ten, wäh­rend sie nie wis­sen konn­ten, ob die­ses selt­sa­me Ge­schöpf, das auf zwei Bei­nen auf­recht her­um­lief, nicht viel­leicht doch kratz­te oder biss.

Im Lau­fe des spä­ten Nach­mit­tags kam er an eine Stel­le, wo ab­ge­nag­te Kno­chen ver­rie­ten, dass die Wöl­fe ein Tier ge­tö­tet hat­ten. Es war, wie er aus den Über­res­ten fest­stell­te, ein Renn­tier­kalb, das noch vor ei­ner Stun­de mun­ter her­um­ge­lau­fen und äu­ßerst le­ben­dig ge­we­sen war. Er be­trach­te­te die Kno­chen, die so sau­ber ab­ge­nagt wa­ren, als ob man sie ge­wa­schen und po­liert hät­te, und die noch einen ro­si­gen Ton zeig­ten, weil das Le­ben, das in ih­ren Zel­len ge­wirkt hat­te, noch nicht end­gül­tig er­lo­schen war. Konn­te es ge­sche­hen, dass, ehe der Tag zu Ende ge­gan­gen, von ihm selbst nichts wei­ter üb­rig war? So war das Le­ben ja. Ein eit­les und flüch­ti­ges Et­was. Und nur das Le­ben war eine Qual. Der Tod hat­te kei­ne Sta­cheln. Der Tod war nur Schlaf. Er be­deu­te­te Auf­hö­ren. Ruhe. Frie­den. Wa­rum in al­ler Welt woll­te er da nicht ger­ne ster­ben?

Aber er mo­ra­li­sier­te nicht all­zu­lan­ge. Er hock­te im Moos und be­gann an den Res­ten vom Le­ben zu sau­gen, die noch von dem zar­ten Rosa der le­ben­di­gen Kraft ge­tönt wa­ren. Der süße Ge­schmack vom Fleisch, der nur lei­se und un­wirk­lich wie eine Erin­ne­rung war, mach­te ihn voll­kom­men ver­rückt. Sei­ne Kie­fer um­schlos­sen die Kno­chen und kau­ten drauf­los. Zu­wei­len wa­ren es die Kno­chen, bis­wei­len aber auch sei­ne Zäh­ne, die zer­spran­gen. Dann zer­malm­te er die Kno­chen zwi­schen zwei Stei­nen, mahl­te sie zu ei­nem Brei, den er schluck­te. Hin und wie­der quetsch­te er sich bei der Eile auch die Fin­ger, und doch fand er einen Au­gen­blick Zeit, dar­über zu stau­nen, dass es nicht be­son­ders weht­at, wenn er die Fin­ger ver­se­hent­lich mit dem schwe­ren Stein traf.

Es ka­men schreck­li­che Tage mit Schnee und Re­gen. Er wuss­te gar nicht mehr, wann er la­ger­te und wann er wie­der auf­brach. Er wan­der­te eben­so oft nachts wie am Tage. Er blieb lie­gen, wo er zu­fäl­lig um­fiel, und kroch wei­ter, so­bald der ster­ben­de Le­bens­wil­le in ihm auf­fla­cker­te und ein we­nig kla­rer brann­te. Als Ein­zel­we­sen kämpf­te er über­haupt nicht mehr. Es war das Le­ben selbst in ihm, das ihn vor­wärts trieb. Er litt nicht mehr. Sei­ne Ner­ven wa­ren ab­ge­stumpft und un­emp­find­lich ge­wor­den. Aber sei­ne See­le wur­de von wun­der­ba­ren Vi­sio­nen und herr­li­chen Träu­men er­füllt.

Und die gan­ze Zeit ging er und sog und nag­te an den zer­split­ter­ten Kno­chen des Renn­tiers, denn er hat­te die letz­ten elen­den Res­te auf­ge­sam­melt und schlepp­te sie über­all mit sich. Er über­quer­te kei­ne Was­ser­schei­den oder Hü­gel mehr, son­dern folg­te rein me­cha­nisch ei­nem großen Fluss, der durch ein wei­tes, seich­tes Tal­ge­län­de ström­te. Er sah we­der das Tal noch den Fluss. Er sah nichts als sei­ne Vi­sio­nen. See­le und Kör­per kro­chen wei­ter Sei­te an Sei­te, aber doch jede für sich, so dünn war der Fa­den, der bei­de mit­ein­an­der ver­band.

Er kam plötz­lich rich­tig zum Be­wusst­sein, als er auf ei­nem Fel­sen auf dem Rücken lag. Die Son­ne schi­en klar und warm. Aus wei­ter Fer­ne hör­te er das Quie­ken der Renn­tier­käl­ber. Er hat­te eine un­kla­re Erin­ne­rung an Re­gen, Wind und Schnee, ob er aber zwei Tage oder zwei Wo­chen vom Sturm her­um­ge­schleu­dert wor­den war, das ahn­te er nicht.

Eine Zeit lang blieb er un­be­weg­lich lie­gen und ließ den freund­li­chen Son­nen­schein auf sich her­ab­strö­men und sei­nen miss­han­del­ten Kör­per mit wun­der­vol­ler Wär­me sät­ti­gen. Ein herr­li­cher Tag, dach­te er. Vi­el­leicht wür­de es ihm ge­lin­gen fest­zu­stel­len, wo er war. Mit ei­ner schmerz­haf­ten An­stren­gung wälz­te er sich auf die Sei­te. Un­ter ihm ström­te ein brei­ter, lang­sam flie­ßen­der Fluss. Er kam ihm ver­blüf­fend un­be­kannt vor. Lang­sam folg­te er ihm mit den Au­gen: Der Fluss schlän­gel­te sich in wei­ten Win­dun­gen durch öde, nack­te Hü­gel, die öder und nack­ter wa­ren als ir­gend­wel­che Hü­gel, die er je ge­se­hen hat­te. Lang­sam, wohl­über­legt, ohne Er­re­gung oder grö­ße­res In­ter­es­se als sonst, folg­te er mit den Au­gen dem Lauf des un­be­kann­ten Stro­mes bis zum Ho­ri­zont und sah, dass er sich dort in einen kla­ren, hell schim­mern­den See er­goss. Noch im­mer spür­te er kei­ne Er­re­gung. Es ist höchst selt­sam, dach­te er, es muss eine Vi­si­on oder eine Fata Mor­ga­na sein – ir­gend­ei­ne Gau­ke­lei sei­nes ver­wor­re­nen Geis­tes. Er wur­de in die­ser An­nah­me auch da­durch be­stärkt, dass er ein Schiff ent­deck­te, das mit­ten auf dem schim­mern­den See vor An­ker lag. Er schloss einen Au­gen­blick die Au­gen und öff­ne­te sie dann wie­der. Merk­wür­di­ger­wei­se blieb die Vi­si­on im­mer noch. Und doch war es gar nicht selt­sam. Er wuss­te ge­nau, dass es kei­nen See und kein Schiff mit­ten im öden Lan­de ge­ben konn­te, ge­nau wie er wuss­te, dass er kei­ne Pa­tro­ne mehr in sei­nem lee­ren Stut­zen hat­te.

Er hör­te hin­ter sich ein son­der­ba­res Schnau­fen – ein hal­b­er­stick­tes Wür­gen oder Hus­ten. In­fol­ge sei­ner un­er­hör­ten Schwä­che und Steif­heit ver­moch­te er sich nur sehr lang­sam auf die an­de­re Sei­te zu wäl­zen. In un­mit­tel­ba­rer Nähe sah er nichts, aber er war­te­te ge­dul­dig. Wie­der ver­nahm er das Hus­ten und Schnau­fen, und jetzt er­blick­te er ge­ra­de vor sich, kei­ne fünf Schritt ent­fernt, den grau­en Kopf ei­nes Wolfs zwi­schen zwei za­cki­gen Stei­nen her­vor­lu­gen. Die auf­recht­ste­hen­den Ohren wa­ren nicht ganz so spitz, wie er sie sonst an Wöl­fen be­merkt hat­te. Die Au­gen schie­nen ent­zün­det und blut­un­ter­lau­fen. Der Kopf hing schlaff und ver­zwei­felt her­ab. Das Tier blin­zel­te im­mer­fort in den Son­nen­schein. Er hat­te den Ein­druck, dass es krank sein müss­te. Als er hin­sah, schnauf­te und hus­te­te es wie­der.