Jack London – Gesammelte Werke

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3

Eben­so plötz­lich, wie er be­gon­nen, hör­te Wolf Lar­sen auf zu flu­chen. Er zün­de­te sich wie­der sei­ne Zi­gar­re an und sah sich um. Sei­ne Au­gen fie­len auf den Koch. »Na, Köch­lein?« frag­te er mit ei­ner merk­wür­di­gen, kal­ten und stäh­ler­nen Leut­se­lig­keit.

»Ja­wohl, Käptn«, schal­te­te der Koch be­flis­sen und ent­schul­di­gend ein.

»Meinst du nicht, dass du jetzt lan­ge ge­nug den Kopf her­aus­ge­steckt hast? Das ist nicht ge­sund. Der Steu­er­mann ist tot, und dich kann ich nicht auch noch ent­beh­ren. Sei vor­sich­tig mit dei­ner Ge­sund­heit, Köch­lein. Ver­stan­den?«

Das letz­te Wort traf im Ge­gen­satz zu der frü­he­ren Freund­lich­keit wie ein Peit­schen­hieb, und der Koch er­zit­ter­te.

»Ja­wohl, Käptn«, ant­wor­te­te er schüch­tern, und der be­an­stan­de­te Kopf ver­schwand.

Nach die­ser Ab­fuhr schi­en die Mann­schaft das In­ter­es­se an den Vor­gän­gen an Deck ver­lo­ren zu ha­ben und mach­te sich wie­der an die Ar­beit. Meh­re­re Leu­te je­doch, die zwi­schen der Ka­jü­te und der Kom­bü­se her­um­lun­ger­ten – sie schie­nen kei­ne See­leu­te zu sein –, spra­chen lei­se wei­ter mit­ein­an­der. Wie ich spä­ter er­fuhr, wa­ren es die Rob­ben­jä­ger, die sich hoch er­ha­ben über die ge­wöhn­li­chen Ma­tro­sen fühl­ten.

»Jo­han­sen!« rief Wolf Lar­sen. Ein Ma­tro­se ge­horch­te. »Hol’ dir Pla­ten und Na­del und näh’ den Schuft ein. Al­tes Lei­nen fin­dest du in der Schiff­stru­he. Los!«

»Was sol­len wir ihm an die Füße hän­gen, Käptn?« frag­te der Mann gleich­mü­tig.

»Wird sich schon fin­den«, sag­te Wolf Lar­sen. Dann hob er die Stim­me und rief: »Köch­lein!«

Tho­mas Mu­gridge sprang wie ein Schach­tel­männ­chen aus sei­ner Kom­bü­se.

»Geh nach un­ten und füll’ einen Sack mit Koh­len.«

»Hat ei­ner von euch eine Bi­bel oder ein Ge­bet­buch, Jun­gens?« lau­te­te die nächs­te Fra­ge, die der Ka­pi­tän dies­mal an die bei der Luke her­um­lun­gern­den Jä­ger rich­te­te.

Sie schüt­tel­ten die Köp­fe, und ei­ner von ih­nen mach­te einen Witz, den ich nicht ver­stand, der aber all­ge­mei­nes Ge­läch­ter her­vor­rief.

Wolf Lar­sen stell­te die glei­che Fra­ge an die Ma­tro­sen. Bi­beln und Ge­bet­bü­cher schie­nen ein sel­te­ner Ar­ti­kel an Bord zu sein, aber ei­ner der Leu­te er­bot sich, die Fra­ge an die Wa­che, die sich un­ten be­fand, wei­ter­ge­hen zu las­sen. Nach ei­ner Mi­nu­te kam er je­doch mit der Nach­richt zu­rück, dass keins von bei­den vor­han­den sei.

Der Ka­pi­tän zuck­te die Ach­seln. »Dann las­sen wir ihn ohne Ge­schwätz ver­schwin­den, wenn un­ser schiff­brü­chi­ger Pas­tor nicht das See­manns­ri­tu­al aus­wen­dig weiß.«

Bei die­sen Wor­ten dreh­te er sich um und sah mich an. »Sie sind Pas­tor, nicht wahr?« frag­te er.

Die Jä­ger dreh­ten sich wie ein Mann um und be­trach­te­ten mich. Ich hat­te das pein­li­che Ge­fühl, ei­ner Vo­gel­scheu­che zu glei­chen. Mein Aus­se­hen ver­ur­sach­te ein schal­len­des Ge­läch­ter, das der An­blick des To­ten, der grin­send an Deck aus­ge­streckt lag, in kei­ner Wei­se dämpf­te, ein Ge­läch­ter, so rau und barsch wie das Meer sel­ber, aus der Keh­le von Män­nern, die we­der Schliff noch Zart­ge­fühl kann­ten.

Wolf Lar­sen lach­te nicht, wenn sei­ne grau­en Au­gen auch leicht auf­leuch­te­ten. Ich war dicht an ihn her­an­ge­tre­ten, und jetzt er­hielt ich, ab­ge­se­hen von sei­ner äu­ße­ren Er­schei­nung und sei­nem Strom von Flü­chen, den ers­ten Ein­druck von dem Man­ne. Die be­deu­ten­den, fes­ten Züge ver­lie­hen sei­nem Ge­sicht trotz der Vier­schrö­tig­keit gute Pro­por­tio­nen. Wirk­te das Ge­sicht auf den ers­ten Blick eben­so mas­siv wie sein Kör­per, so ge­wann man doch bei nä­he­rer Be­trach­tung die Über­zeu­gung, dass in der Tie­fe sei­nes We­sens eine un­ge­heu­re, ent­setz­li­che Kraft schlum­mer­te. Mund, Kinn, die hohe Stirn, die sich schwer über den Au­gen wölb­te, al­les dies, je­des für sich schon un­ge­wöhn­li­che Stär­ke ver­ra­tend, zeug­te zu­sam­men von ei­ner un­sag­ba­ren Männ­lich­keit. Eine sol­che See­le ließ sich nicht aus­lo­ten, nicht er­mes­sen; sie dul­de­te kei­nen Ver­gleich.

Die Au­gen – sie be­trach­te­te ich be­son­ders ein­ge­hen­d– wa­ren groß und schön, weit of­fen wie die ei­nes wirk­li­chen Künst­lers und von dich­ten schwar­zen Brau­en über­wölbt. Sie wa­ren von je­nem ver­än­der­li­chen Grau, das nie gleich­bleibt, wie chan­gie­ren­de Sei­de in der Son­ne spielt und zahl­lo­se Schat­tie­run­gen an­nimmt, die dun­kel- und hell­grau und grau­grün und manch­mal azur­blau wie die Tief­see sein kön­nen. Es wa­ren Au­gen, die die See­le hin­ter tau­send Ver­klei­dun­gen bar­gen, und die sich nur sel­ten öff­ne­ten, um sie un­ver­schlei­ert auf wun­der­ba­re Aben­teu­er in die Welt fah­ren zu las­sen – Au­gen, die mit der hoff­nungs­lo­sen Düs­ter­keit ei­nes blei­er­nen Him­mels brü­ten und wie­der Feu­er­fun­ken wie von ei­nem ge­schwun­ge­nen Schwert sprü­hen, die fros­tig wie eine ark­ti­sche Land­schaft wer­den und wie­der sanft wär­men konn­ten, und die, in­ten­siv und männ­lich – lo­ckend und bit­tend – in feu­ri­ger Lie­be blit­zend, Frau­en be­zau­bern und zu­gleich be­herr­schen moch­ten, dass sie sich in ei­nem Schau­er von Freu­de und Er­leich­te­rung er­ga­ben.

Doch zu­rück zu mei­nem Be­richt: Ich er­klär­te, dass ich kein Geist­li­cher sei, also den Got­tes­dienst bei dem Be­gräb­nis lei­der nicht über­neh­men kön­ne.

»Was für einen Be­ruf ha­ben Sie denn?«

Ich ge­ste­he, dass man noch nie eine sol­che Fra­ge an mich ge­rich­tet, und dass auch ich selbst noch nie dar­über nach­ge­dacht hat­te. Ich war wie vor den Kopf ge­schla­gen, und ehe ich mich be­son­nen hat­te, stot­ter­te ich: »Ich – ich bin Gent­le­man.«

Sei­ne Lip­pen kräu­sel­ten sich zu ei­nem ver­ächt­li­chen Lä­cheln.

»Ich habe ge­ar­bei­tet, ich ar­bei­te wirk­lich«, rief ich eif­rig, als wäre er mein Rich­ter, der Re­chen­schaft von mir for­der­te, wäh­rend ich mir gleich­zei­tig ganz klar dar­über wur­de, wie dumm ich war, über­haupt auf die Fra­ge ein­zu­ge­hen.

»Le­ben Sie da­von?«

So her­risch und ge­bie­te­risch wirk­te er, dass ich ›klap­pern­d‹ wie ein zit­tern­des Kind vor dem ge­stren­gen Leh­rer da­stand.

»Wer un­ter­hält Sie?« lau­te­te sei­ne nächs­te Fra­ge.

»Ich bin ver­mö­gend«, ant­wor­te­te ich keck und hät­te mir im nächs­ten Au­gen­blick die Zun­ge ab­bei­ßen mö­gen. »Aber das hat doch al­les nichts mit der An­ge­le­gen­heit zu tun, über die ich mit Ih­nen zu spre­chen habe.«

Er be­ach­te­te mei­nen Pro­test nicht.

»Wer hat das Ver­mö­gen ver­dient? Nun? Dacht’ ich’s doch. Ihr Va­ter. Sie ste­hen auf den Fü­ßen ei­nes to­ten Man­nes. Sie selbst ha­ben nie was ge­habt. Sie wä­ren nicht im­stan­de, ih­rem hung­ri­gen Ma­gen von ei­nem Son­nen­auf­gang zum an­de­ren drei Mahl­zei­ten zu ver­schaf­fen. Zei­gen Sie mal Ihre Hän­de!«

Sei­ne ent­setz­li­che schlum­mern­de Kraft muss sich in die­sem Au­gen­blick ge­regt, oder ich muss ge­schla­fen ha­ben, denn ehe ich es wuss­te, war er zwei Schritt vor­ge­tre­ten, hat­te mei­ne rech­te Hand ge­packt und un­ter­such­te sie. Ich woll­te sie zu­rück­zie­hen, aber sei­ne Fin­ger um­schlos­sen sie ohne sicht­ba­re An­stren­gung so fest, dass ich glaub­te, er zer­mal­me sie. Un­ter sol­chen Um­stän­den ist es schwer, Wür­de zu be­wah­ren. Ich konn­te doch nicht wie ein Schul­jun­ge mich win­den und zap­peln. Und ich konn­te auch ein Ge­schöpf nicht an­grei­fen, das mei­nen Arm mit ei­nem ein­zi­gen Druck zu zer­bre­chen im­stan­de war. So blieb mir nichts üb­rig, als still­zu­hal­ten und die Schmach hin­zu­neh­men. Ich hat­te Zeit zu be­ob­ach­ten, dass die Ta­schen des To­ten ent­leert und sein Kör­per und sein Grin­sen dem Blick durch ein Stück Se­gel­tuch ent­zo­gen wor­den wa­ren, des­sen Fal­ten Jo­han­sen, der Ma­tro­se, mit gro­bem Bind­fa­den zu­sam­men­näh­te, in­dem er die Na­del mit ei­nem in sei­ner Hand­flä­che be­fes­tig­ten Le­der­werk­zeug durch­trieb.

Wolf Lar­sen schleu­der­te mei­ne Hand ver­ächt­lich von sich: »Die Hän­de ei­nes To­ten ha­ben die Ihren weich er­hal­ten. Zu nichts nüt­ze als zum Auf­wa­schen und Kü­chen­jun­gen­dienst.«

»Ich wün­sche an Land ge­setzt zu wer­den«, sag­te ich fest, denn ich hat­te mich wie­der in der Ge­walt. »Ich wer­de Ih­nen zah­len, was Sie für Ihre Ver­spä­tung und Ihre Mühe ver­lan­gen.«

Er sah mich mit ei­nem selt­sa­men Blick an. Sei­ne Au­gen leuch­te­ten spöt­tisch.

»Ich habe Ih­nen einen Ge­gen­vor­schlag zu ma­chen. Mein Steu­er­mann ist tot, und es ist da­her eine gan­ze Rei­he von Be­för­de­run­gen vor­zu­neh­men. Ein Ma­tro­se wird den Platz des Steu­er­manns ein­neh­men, der Ka­jüts­jun­ge wird Ma­tro­se, und Sie rücken an sei­ne Stel­le, un­ter­schrei­ben einen Kon­trakt für die Fahrt und be­kom­men zwan­zig Dol­lar mo­nat­lich und freie Ver­pfle­gung. Was mei­nen Sie dazu? Den­ken Sie dar­an, dass es zu Ihrem ei­ge­nen Bes­ten ist. Es wird et­was aus Ih­nen. Sie ler­nen viel­leicht, auf ei­ge­nen Fü­ßen zu ste­hen und so­gar ein biss­chen auf ih­nen zu lau­fen.«

Aber ich ach­te­te nicht auf sei­ne Wor­te. Die Se­gel des Fahr­zeu­ges, das ich in Süd­west ge­se­hen hat­te, wa­ren im­mer grö­ßer und deut­li­cher ge­wor­den. Es war die­sel­be Scho­ner­ta­ke­lung, wie die ›Ghost‹ sie hat­te, aber der Rumpf war klei­ner. Es war ein schö­ner An­blick, wie es jetzt mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln auf uns zu­flog und au­gen­schein­lich sei­nen Kurs ganz dicht an uns vor­bei nahm. Der Wind hat­te plötz­lich zu­ge­nom­men, und die Son­ne war nach ein paar är­ger­li­chen Bli­cken hin­ter den Wol­ken ver­schwun­den. Die See hat­te sich in ein düs­te­res Blei­grau ver­wan­delt und ging schwe­rer, und die Wo­gen­käm­me wur­den von weißem Schaum ge­krönt. Wir fuh­ren schnel­ler und kreng­ten stär­ker über. Eine Bö tauch­te die Re­ling ganz un­ter Was­ser, so­dass es das Deck über­spül­te und ein paar von den Jä­gern ver­an­lass­te, schnell die Bei­ne hoch­zu­zie­hen.

 

»Das Schiff fährt bald an uns vor­bei«, sag­te ich nach ei­ner klei­nen Pau­se. »Da es uns ent­ge­gen­kommt, ist an­zu­neh­men, dass es nach San Fran­cis­co will.«

»Sehr wahr­schein­lich«, lau­te­te Wolf Lar­sens Ant­wort. Dann wand­te er sich halb um und rief: »Köch­lein, he, Köch­lein!« Der Koch fuhr aus der Kom­bü­se.

»Wo ist der Jun­ge? Sag’ ihm, dass ich ihn brau­che.«

»Ja­wohl, Käptn«, und Tho­mas Mu­gridge eil­te nach ach­tern und ver­schwand über eine Trep­pe in der Nähe des Ra­des. Gleich dar­auf tauch­te er wie­der auf, ge­folgt von ei­nem kräf­ti­gen, fins­ter­bli­cken­den Bur­schen von acht­zehn bis neun­zehn Jah­ren.

»Da ist er«, sag­te der Koch.

Aber Wolf Lar­sen igno­rier­te den Ehren­mann und wand­te sich so­fort an den Ka­jüts­jun­gen.

»Wie heißt du, Jun­ge?«

»Ge­or­ge Le­ach, Käptn«, lau­te­te die ver­dros­se­ne Ant­wort, und die Hal­tung des Jun­gen ver­riet deut­lich, dass er wuss­te, warum er her­be­foh­len war.

»Das ist kein iri­scher Name«, schnapp­te der Ka­pi­tän scharf. »O’Too­le oder McCar­thy wür­den bes­ser zu dei­ner Frat­ze pas­sen. Sonst hat je­den­falls ein Ire bei dei­ner Mut­ter im Bett ge­le­gen.«

Ich sah, wie sich die Hän­de des Bur­schen bei die­ser Be­lei­di­gung ball­ten und das Blut ihm zu Kop­fe stieg. »Aber las­sen wir das!« fuhr Wolf Lar­sen fort. »Du wirst wohl dei­ne Grün­de ha­ben, dei­nen Na­men zu ver­ges­sen, und des­halb kön­nen wir doch Freun­de blei­ben, so­lan­ge du dei­ne Pf­licht tust. Du stammst na­tür­lich aus Te­le­graf Hill. Das ver­rät dei­ne Frat­ze auf zehn Mei­len. Rich­ti­ge Rauf­bol­de! Ich ken­ne die Sor­te. Na, das wol­len wir dir schon aus­trei­ben. Ver­stan­den? Wer hat dich ge­heu­ert?«

»McCrea­dy & Swan­son.«

»Käptn!« don­ner­te Wolf Lar­sen.

»McCrea­dy & Swan­son, Käptn«, ver­bes­ser­te sich der Jun­ge, und sei­ne Au­gen schos­sen Blit­ze.

»Wer hat den Vor­schuss ge­kriegt?«

»Die Leu­te, Käptn.«

»Hab’ ich mir ge­dacht. Und du hast dich ver­flucht ge­freut dar­über. Konn­test gar nicht schnell ge­nug ma­chen, denn es wa­ren wohl ver­schie­de­ne Her­ren hin­ter dir her.«

Jetzt ver­lor der Jun­ge die Be­sin­nung. Sein Kör­per krümm­te sich wie zum Sprun­ge, und sein Ge­sicht glich dem ei­nes knur­ren­den wil­den Tie­res. »Das ist …«

»Was?« frag­te Wolf Lar­sen mit merk­wür­dig sanf­ter Stim­me, als wäre er un­ge­heu­er neu­gie­rig auf das nicht aus­ge­spro­che­ne Wort.

Der Jun­ge schwieg und be­herrsch­te sich. »Nichts, Käptn, ich neh­me es zu­rück.«

»Ich wuss­te ja, dass ich recht hat­te!« Dies mit be­lus­tig­tem Lä­cheln. »Wie alt bist du?«

»Sech­zehn, Käptn.«

»Du lügst. Du bist we­nigs­tens acht­zehn und noch dazu groß für dein Al­ter. Mus­keln wie ein Pferd. Pack’ dein Zeug zu­sam­men und geh nach vorn in die Back. Du bist zum Jung­mann be­för­dert. Ver­stan­den?«

Ohne eine Ant­wort des Jun­gen ab­zu­war­ten, wand­te sich der Ka­pi­tän zu dem Ma­tro­sen, der ge­ra­de die schau­er­li­che Auf­ga­be, die Lei­che ein­zunä­hen, be­en­det hat­te. »Jo­han­sen, ver­stehst du was vom Na­vi­gie­ren?«

»Nein, Käptn.«

»Na, scha­det nichts, du bist zum Steu­er­mann be­för­dert. Bring’ dei­ne Sie­ben­sa­chen nach ach­tern in die Steu­er­manns­ka­bi­ne.«

»Ja­wohl, Käptn«, lau­te­te die fro­he Ant­wort, und Jo­han­sen ging. Der Jun­ge hat­te sich un­ter­des­sen nicht vom Fleck ge­rührt.

»Worauf war­test du noch?« frag­te Wolf Lar­sen.

»Ich hab’ mich nicht als Jung­mann ein­tra­gen las­sen. Käptn«, lau­te­te die Ant­wort. »Ich bin als Ka­jüts­jun­ge ge­heu­ert und wün­sche kei­ne an­de­re Be­schäf­ti­gung.«

»Pack’ dei­ne Sa­chen zu­sam­men und mach’, dass du nach vorn kommst.«

Dies­mal war Wolf Lar­sens Be­fehl her­risch und durch­drin­gend. Der Jun­ge blick­te fins­ter vor sich hin, ge­horch­te aber nicht.

Da er­folg­te wie­der ein Aus­bruch von Wolf Lar­sens ent­setz­li­cher Kraft. Ganz un­er­war­tet und von nicht zwei Se­kun­den Dau­er. Er sprang vol­le sechs Fuß weit über das Deck und jag­te sei­ne Faust dem an­de­ren in den Ma­gen. Mir wur­de übel, als wäre ich selbst in den Leib ge­trof­fen. Ich er­wäh­ne dies, um zu zei­gen, in wel­chem Zu­stand sich mei­ne Ner­ven da­mals be­fan­den, und wie un­ge­wohnt ich der­ar­ti­ger ro­her Auf­trit­te war. Der Ka­jüts­jun­ge – er wog min­des­tens hun­dert­fünf­zig Pfund – klapp­te zu­sam­men. Sein Kör­per wur­de hoch­ge­ho­ben, be­schrieb eine kur­ze Kur­ve und fiel kopf­über ne­ben der Lei­che auf das Deck, wo er lie­gen blieb und sich in Schmer­zen wand.

»Nun?« frag­te Wolf Lar­sen mich. »Ha­ben Sie sich’s über­legt?«

Ich warf einen Blick nach dem sich nä­hern­den Scho­ner, der jetzt, nur we­ni­ge hun­dert Me­ter ent­fernt, dicht vor uns war. Es war ein schmuckes klei­nes Fahr­zeug. Auf ei­nem der Se­gel konn­te ich eine große schwar­ze Zahl er­ken­nen, wie ich sie auf Bil­dern von Lot­sen­schif­fen ge­se­hen hat­te.

»Was ist das für ein Schiff?« frag­te ich.

»Lot­sen­scho­ner ›La­dy Mi­ne‹«, er­wi­der­te Wolf Lar­sen mit grau­sa­mem Lä­cheln. »Hat den Lot­sen ab­ge­setzt und geht jetzt nach San Fran­cis­co. Wird bei die­sem Wind in fünf bis sechs Stun­den dort sein.«

»Wol­len Sie ihn bit­te an­ru­fen, dass er mich an Land bringt?«

»Tut mir leid, aber mein Si­gnal­buch ist über Bord ge­fal­len«, mein­te er, und die Jä­ger grins­ten.

Ich blick­te ihn scharf an, und die Ge­dan­ken wir­bel­ten mir durch den Kopf. Ich hat­te die schreck­li­che Be­hand­lung des Ka­jüts­jun­gen mit an­ge­se­hen und wuss­te, dass mir höchst­wahr­schein­lich das Glei­che, wenn nicht Schreck­li­che­res blüh­te. Wie ge­sagt: die Ge­dan­ken wir­bel­ten mir durch den Kopf, und dann tat ich, was ich heu­te noch für die tap­fers­te Tat mei­nes Le­bens hal­te. Ich lief an die Re­ling, schwenk­te die Arme und schrie:

»›La­dy Mi­ne‹, ahoi! Bringt mich an Land! Tau­send Dol­lar, wenn ihr mich an Land bringt!«

Ich war­te­te und be­ob­ach­te­te am Rad zwei Män­ner, von de­nen der eine steu­er­te. Der an­de­re hob ein Sprach­rohr an die Lip­pen. Ich wand­te nicht den Kopf, ob­gleich ich je­den Au­gen­blick den töd­li­chen Schlag von der mensch­li­chen Bes­tie hin­ter mir er­war­te­te. Schließ­lich konn­te ich die Span­nung nicht län­ger er­tra­gen. Ich sah mich um. Er hat­te sich nicht vom Fleck ge­rührt. Er stand noch in der­sel­ben Stel­lung da, schwank­te leicht im Rol­len des Schif­fes und zün­de­te sich eine neue Zi­gar­re an.

»Was gibt es? Ist et­was ge­sche­hen?« So rief der Mann auf der ›La­dy Mi­ne‹.

»Ja«, schrie ich mit der vol­len Kraft mei­ner Lun­gen. »Le­ben oder Tod! Tau­send Dol­lar, wenn ihr mich an Land bringt!«

»Die Ge­gend be­kommt mei­ner Mann­schaft nicht gut«, rief Wolf Lar­sen jetzt hin­über. »Der« – er wies mit dem Dau­men auf mich – »glaubt über­all See­schlan­gen und Af­fen zu se­hen.«

Der Mann auf der ›La­dy Mi­ne‹ lach­te durchs Me­ga­phon. Das Lot­sen­schiff setz­te sei­nen Kurs fort.

»Schickt ihn zum Teu­fel!« er­tön­te der letz­te Ruf, und die bei­den Män­ner wink­ten zum Ab­schied.

Verzwei­felt lehn­te ich mich über die Re­ling und starr­te dem klei­nen Scho­ner nach; die wo­gen­de Wüs­te wuchs rasch zwi­schen ihm und uns. Er war in sechs Stun­den ver­mut­lich in San Fran­cis­co! Mir war, als soll­te mir der Kopf sprin­gen. Der Hals schnür­te sich mir zu­sam­men. Eine Sturz­see schlug über die Re­ling und be­sprüh­te mir die Lip­pen mit Salz­was­ser. Der Wind war auf­ge­frischt, und die ›Ghost‹ kreng­te so stark, dass die Re­ling auf Lee ganz un­ter Was­ser be­gra­ben war. Ich konn­te hö­ren, wie es über das Deck spül­te.

Als ich mich kurz dar­auf um­wand­te, sah ich, wie der Jun­ge schwan­kend wie­der auf die Bei­ne kam. Sein Ge­sicht war geis­ter­haft weiß und von un­ter­drück­tem Schmerz ver­zerrt. Er sah sehr elend aus.

»Na, Le­ach, gehst du nun nach vorn?« frag­te Wolf Lar­sen.

»Ja­wohl, Käptn«, ant­wor­te­te die ge­duck­te See­le.

»Und Sie?« frag­te er mich.

»Ich gebe Ih­nen tau­send …«

Aber er un­ter­brach mich: »Las­sen wir das! Wol­len Sie den Pos­ten des Ka­jüts­jun­gen über­neh­men? Oder soll ich Sie erst in die Ma­che neh­men?«

Was soll­te ich tun? Wenn ich mich bru­tal prü­geln, viel­leicht tot­schla­gen ließ, nütz­te es mir auch nichts. Ich starr­te in die grau­sa­men Au­gen. Sie hät­ten aus Gra­nit sein kön­nen, so we­nig Lieht und Wär­me ei­ner mensch­li­chen See­le leuch­te­te aus ih­nen. In den Au­gen man­cher Men­schen kann man die Re­gun­gen ih­rer See­le le­sen, aber die sei­nen wa­ren leer, kalt und grau wie das Meer selbst. »Nun?«

»Ja«, sag­te ich.

»Sa­gen Sie: ›Ja­wohl, Käpt­n‹!«

»Ja­wohl, Käptn!« ver­bes­ser­te ich mich.

»Wie hei­ßen Sie?«

»Van Wey­den, Käptn.«

»Vor­na­me?«

»Hum­phrey, Käptn; Hum­phrey van Wey­den.«

»Al­ter?«

»Fün­fund­drei­ßig, Käptn.«

»Das ge­nügt. Ge­hen Sie zum Koch und las­sen Sie sich in Ihren Pf­lich­ten un­ter­wei­sen.«

Und so ge­sch­ah es, dass ich in ein un­frei­wil­li­ges Dienst­ver­hält­nis zu Wolf Lar­sen trat. Er war stär­ker als ich, das war al­les. Aber ich habe es we­der da­mals noch spä­ter je be­grif­fen. Es wird mir im­mer als et­was Un­ge­heu­er­li­ches, Un­ver­ständ­li­ches, als ein furcht­ba­rer Alp er­schei­nen.

»Halt, war­ten Sie noch!«

Folg­sam blieb ich ste­hen.

»Jo­han­sen, ru­fen Sie die gan­ze Mann­schaft zu­sam­men. Jetzt ist al­les im rei­nen, und da ist es am bes­ten, wenn wir gleich das Be­gräb­nis vor­neh­men und das Deck von un­nüt­zem Un­rat säu­bern.«

Wäh­rend Jo­han­sen die Wa­che her­aufrief, leg­ten ein paar Ma­tro­sen die ein­ge­näh­te Lei­che nach An­wei­sung des Ka­pi­täns auf einen Lu­ken­de­ckel. Zu bei­den Sei­ten des Decks hin­gen klei­ne Boo­te über die Re­ling. Ei­ni­ge Mann ho­ben den Lu­ken­de­ckel mit sei­ner gräss­li­chen Last und tru­gen ihn nach Lee hin­über, wo sie die Lei­che, die Bei­ne au­ßen­bords, auf ei­nes der Boo­te leg­ten. Der Koh­len­sack, den der Koch ge­holt hat­te, wur­de ans Fu­ßen­de ge­bun­den.

Un­ter ei­nem Be­gräb­nis auf See hat­te ich mir im­mer et­was sehr Fei­er­li­ches vor­ge­stellt, aber bei die­sem Be­gräb­nis schwan­den mei­ne Il­lu­sio­nen schnell und gründ­lich. Ei­ner von den Jä­gern, ein klei­ner schwarz­äu­gi­ger Mann, den sei­ne Ka­me­ra­den Smo­ke nann­ten, er­zähl­te stark mit Flü­chen und Zo­ten ge­spick­te Ge­schich­ten, und je­den Au­gen­blick brach die gan­ze Jä­ger­grup­pe in ein Ge­läch­ter aus, das in mei­nen Ohren wie ein Chor von Wöl­fen oder das Ge­kläff der Höl­len­hun­de klang. Die Ma­tro­sen ver­sam­mel­ten sich ge­räusch­voll ach­tern, ei­ni­ge von der Mann­schaft rie­ben sich den Schlaf aus den Au­gen und un­ter­hiel­ten sich lei­se. Auf ih­ren Zü­gen lag ein un­heil­ver­kün­den­der, mür­ri­scher Aus­druck. Es war deut­lich zu se­hen, dass die Aus­sicht auf eine Fahrt un­ter die­sem Ka­pi­tän, die dazu noch un­ter so üb­len Vor­be­deu­tun­gen be­gon­nen hat­te, sie nicht lock­te. Hin und wie­der war­fen sie ver­stoh­le­ne Bli­cke auf Wolf Lar­sen, und ich konn­te mer­ken, dass sie den Mann fürch­te­ten.

Er schritt zum Lu­ken­de­ckel, und alle Müt­zen wur­den ab­ge­nom­men. Ich ließ mei­nen Blick über sie schwei­fen – es wa­ren zwan­zig Mann, zwei­und­zwan­zig mit dem Mann am Ru­der und mir. Es ist wohl be­greif­lich, dass ich sie neu­gie­rig mus­ter­te, soll­te es doch nun mein Schick­sal sein, ihr Los, ein­ge­pfercht in die­se schwim­men­de Mi­nia­tur­welt, wer weiß wie vie­le Wo­chen und Mo­na­te zu tei­len. Die Ma­tro­sen be­stan­den haupt­säch­lich aus Eng­län­dern und Skan­di­na­vi­ern mit gro­ben, aus­drucks­lo­sen Ge­sich­tern. Die Jä­ger hin­ge­gen hat­ten schar­fe, har­te, von zü­gel­lo­ser Lei­den­schaft ge­präg­te Züge. Merk­wür­di­ger­wei­se sah ich so­fort, dass Wolf Lar­sens Ge­sicht nicht die­sen Aus­druck von Ver­derbt­heit hat­te. Ge­wiss, es hat­te auch schar­fe Li­ni­en, aber nur Li­ni­en, die von Ent­schlos­sen­heit und Fes­tig­keit spra­chen. Sei­ne Mie­ne war von ei­nem Frei­mut und ei­ner Of­fen­heit, die durch sei­ne Bart­lo­sig­keit noch ver­stärkt wur­den. Ich konn­te – bis zum nächs­ten Zwi­schen­fall – kaum glau­ben, dass dies der­sel­be Mann war, der den Ka­jüts­jun­gen so be­han­delt hat­te.

 

Er öff­ne­te den Mund, um zu spre­chen, aber in die­sem Au­gen­blick traf ein Wind­stoß nach dem an­de­ren den Scho­ner und press­te ihn auf die Sei­te. Der Wind heul­te ein wil­des Lied durch die Ta­ke­lung. Ei­ni­ge von den Jä­gern war­fen ängst­li­che Bli­cke nach oben. Die Re­ling auf Lee, wo der Tote lag, tauch­te tief ins Was­ser, und als der Scho­ner sich auf­rich­te­te, wur­den un­se­re Füße über­spült. Ein Re­gen­schau­er er­goss sich über uns, und je­der Trop­fen traf wie ein Ha­gel­korn. Als er vor­über war, be­gann Wolf Lar­sen zu spre­chen, wäh­rend die Leu­te im Takt des stamp­fen­den Schif­fes schwank­ten.

»Ich er­in­ne­re mich nur ei­nes Teils des Ri­tuals«, sag­te er, »näm­lich: ›Und der Leich­nam soll ins Meer ge­wor­fen wer­den.‹ – Also hin­ein da­mit.«

Er schwieg. Die Leu­te, die den Lu­ken­de­ckel hiel­ten, wa­ren ver­dutzt, ver­wirrt durch die Kür­ze der Ze­re­mo­nie. Wü­tend fuhr er auf sie los:

»Hoch das Ende, zum Don­ner­wet­ter! Was ist in euch ge­fah­ren, zum Teu­fel?«

Sie ho­ben schleu­nigst den Lu­ken­de­ckel am obe­ren Ende. Und wie ein über Bord ge­wor­fe­ner Hund flog der Tote, die Füße vor­an, ins Meer. Der Koh­len­sack an sei­nen Fü­ßen zog ihn hin­un­ter. Er war fort.

»Jo­han­sen«, sag­te Wolf Lar­sen kurz zu dem neu­en Steu­er­mann, »las­sen Sie alle Mann, da sie ge­ra­de hier sind, an Deck blei­ben. Ho­len Sie die Top­se­gel und den Klü­ver ein, aber ein biss­chen schnell. Wir be­kom­men einen tüch­ti­gen Süd­west. Ref­fen Sie lie­ber auch das Groß­se­gel, wenn Sie schon mal da­bei sind.« In ei­nem Au­gen­blick war das gan­ze Deck in Be­we­gung. Jo­han­sen brüll­te sei­ne Be­feh­le, und die Leu­te hahl­ten und fier­ten an al­len mög­li­chen Stri­cken und Tau­en – für mich als Lan­drat­te na­tür­lich ein wir­res Cha­os. Was mich aber be­son­ders pack­te, war die Herz­lo­sig­keit, die in sei­nem Tun lag. Der Tote war ver­ges­sen. Er war mit ei­nem Koh­len­sack an den Fü­ßen ver­senkt wor­den, das Schiff setz­te sei­ne Rei­se fort, und die Ar­beit ging ih­ren Gang. Kei­ner war auch nur im ge­rings­ten er­grif­fen. Die Jä­ger lach­ten über eine neue Ge­schich­te, die ›S­mo­ke‹ er­zähl­te, die Leu­te hahl­ten und fier­ten, und zwei von ih­nen klet­ter­ten nach oben. Wolf Lar­sen mus­ter­te den sich über­zie­hen­den Him­mel in Luv. Und der Tote, der so elend ge­stor­ben und so jäm­mer­lich be­gra­ben war, sank im­mer tiefer – – – Da über­wäl­tig­te mich die Grau­sam­keit des Mee­res, sei­ne Un­barm­her­zig­keit und Ge­walt. Das Le­ben war bil­lig, et­was Sinn­lo­ses und Tie­ri­sches, eine see­len­lo­se Be­we­gung von Schlamm und Schleim. Ich stell­te mich an die Re­ling in Luv, ne­ben den Wan­ten, und starr­te über die trost­lo­sen, schäu­men­den Wo­gen hin­weg auf die nied­ri­gen Ne­bel­bän­ke. Hin und wie­der trieb eine Re­gen­bö da­zwi­schen und ent­zog den Ne­bel mei­nen Bli­cken. Und die­ses selt­sa­me Schiff zog mit sei­ner schreck­li­chen Be­sat­zung vor pral­len Se­geln nach Süd­west, über die wei­te Flä­che des Stil­len Ozeans.