Jack London – Gesammelte Werke

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»Aber das hat doch nichts mit der Sa­che zu tun«, rief ich. »Aber sehr!« Er sprach jetzt sehr schnell, und sei­ne Au­gen blitz­ten. »Das ist Ge­mein­heit, und das ist Le­ben. Wel­chen Nut­zen hät­te die Uns­terb­lich­keit wohl von der Ge­mein­heit, und wel­chen Sinn hät­te das? Wie en­det es? Wozu ist das al­les? Sie ha­ben kei­ne Nah­rung er­zeugt. Und doch hät­te die Nah­rung, die Sie ver­zehrt und ver­geu­det ha­ben, zahl­rei­che Elen­de ret­ten kön­nen, die sie er­zeu­gen, aber nicht es­sen konn­ten. Wel­chem un­s­terb­li­chen Ziel ha­ben Sie ge­dient? Oder die an­de­ren? Se­hen Sie uns bei­de. Was nützt Ih­nen Ihre ge­prie­se­ne Uns­terb­lich­keit, wenn Ihr Le­ben mit dem mei­nen zu­sam­men­stößt? Sie möch­ten gern an Land zu­rück, um Ihren Ge­mein­hei­ten zu frö­nen. Ich habe den scherz­haf­ten Ein­fall, Sie hier an Bord mei­nes Schif­fes zu be­hal­ten, wo mei­ne Ge­mein­heit blüht. Und ich will Sie be­hal­ten. Ich will et­was aus Ih­nen ma­chen oder Sie zum Teu­fel ge­hen las­sen. Sie könn­ten heu­te noch ster­ben, die­se Wo­che, nächs­ten Mo­nat. Ich könn­te Sie auf der Stel­le mit ei­nem Faust­schlag tö­ten, denn Sie sind ein elen­der Schwäch­ling. Sind wir aber un­s­terb­lich, wozu dann das al­les? Ge­mein zu sein, wie Sie und ich un­ser gan­zes Le­ben, scheint mir nicht recht zur Uns­terb­lich­keit zu pas­sen. Also sa­gen Sie: Wozu das al­les? Wa­rum habe ich Sie hier­be­hal­ten?« »Weil Sie stär­ker sind«, ver­moch­te ich ein­zu­schie­ben. »Aber warum stär­ker?« frag­te er wei­ter. »Weil ich ein grö­ße­res Stück Fer­ment bin als Sie. Sa­gen Sie? Ver­ste­hen Sie das nicht?«

»Aber das wäre hoff­nungs­los«, pro­tes­tier­te ich.

»Da stim­me ich Ih­nen zu«, er­wi­der­te er. »Wa­rum sich über­haupt be­we­gen, wenn Be­we­gung Le­ben ist? Be­weg­te man sich nicht, wäre man nicht ein Teil der Hefe, so gäbe es kei­ne Hoff­nungs­lo­sig­keit. Aber wir wol­len eben le­ben und uns be­we­gen, weil Le­ben und Sich­be­we­gen zu­fäl­lig das We­sen des Le­bens aus­macht. Wäre dem nicht so, wür­de Le­ben Tod sein. Und die­ses Le­ben in Ih­nen gibt Ih­nen den Traum von der Uns­terb­lich­keit ein. Das Le­ben in Ih­nen ist le­ben­dig und wünscht in alle Ewig­keit wei­ter­zu­le­ben. Pah! Die ver­ewig­te Ge­mein­heit!«

Er dreh­te sich kurz um und ent­fern­te sich. Bei der Ka­jüt­strep­pe blieb er ste­hen und rief mich zu sich.

»Wie viel hat Köch­lein Ih­nen ge­mopst?« frag­te er.

»Hun­dert­fünf­un­dacht­zig Dol­lar, Käptn«, er­wi­der­te ich. Er nick­te. Als ich einen Au­gen­blick spä­ter hin­un­ter­ging, um zum Mit­ta­ges­sen zu de­cken, hör­te ich ihn mitt­schiffs ein paar Leu­te laut aus­schel­ten.

6

Am nächs­ten Mor­gen hat­te sich der Sturm ge­legt, und die ›Ghost‹ wieg­te sich leicht ohne Wind auf ei­ner ru­hi­gen See. Nur hin und wie­der war ein leich­ter Hauch zu spü­ren, und Wolf Lar­sen mach­te an­dau­ernd die Run­de auf dem Ach­ter­deck, wäh­rend sei­ne Au­gen un­aus­ge­setzt das Meer in Nord­ost ab­such­ten, von wo der Pas­sat we­hen muss­te.

Alle Mann sind auf Deck be­schäf­tigt, die ver­schie­de­nen Boo­te für die Jagd in­stand zu set­zen. Sie­ben Boo­te be­fin­den sich an Bord, die klei­ne Jol­le des Ka­pi­täns und die sechs für die Jä­ger. Je drei Mann, ein Jä­ger, ein Ru­de­rer und ein Steu­er­mann bil­den eine Boots­mann­schaft. An Bord des Scho­ners ge­hö­ren Ru­de­rer und Steu­er­män­ner zur Be­sat­zung. Auch die Jä­ger müs­sen sich an den Wa­chen be­tei­li­gen und un­ter­ste­hen im üb­ri­gen im­mer den Be­feh­len Wolf Lar­sens. Al­les dies und noch mehr habe ich ge­lernt. Die ›Ghost‹ gilt als der schnells­te Scho­ner der Flot­ten von San Fran­cis­co und Vic­to­ria. Sie war ur­sprüng­lich eine Pri­vat­jacht und be­son­ders als Schnell­seg­ler ge­baut. Ihre Li­ni­en und die gan­ze Ein­rich­tung – wenn ich auch nichts da­von ver­ste­he–­spre­chen für sich sel­ber. John­son er­zähl­te mir da­von in ei­ner kur­z­en Un­ter­hal­tung, die ich ges­tern wäh­rend der zwei­ten Hun­de­wa­che mit ihm hat­te. Er sprach von dem schö­nen Fahr­zeug mit der­sel­ben Lie­be und Be­geis­te­rung, wie man­che Men­schen sie für Pfer­de ha­ben. Er sieht sehr schwarz in die Zu­kunft und gibt mir zu ver­ste­hen, dass Wolf Lar­sen einen sehr schlech­ten Ruf un­ter den Rob­ben­fän­ger­ka­pi­tä­nen hat. Es war die ›Ghost‹, die John­son ver­führ­te, sich für die Fahrt an­heu­ern zu las­sen, aber er fängt schon an, es zu be­reu­en.

Wie er mir er­zähl­te, ist die ›Ghost‹ ein Acht­zig­ton­nen­scho­ner von ei­nem be­son­ders fei­nen Typ. Ihre größ­te Brei­te be­trägt 23, ihre Län­ge et­was über 90 Fuß. Ein Blei­kiel von un­be­kann­tem, aber be­deu­ten­dem Ge­wicht macht sie sehr sta­bil, und sie trägt eine un­ge­heu­re Se­gel­flä­che. Von Deck bis zum Groß­mast­topp misst sie reich­lich 100 Fuß, wäh­rend der Fock­mast mit sei­ner Mar­s­stan­ge acht bis zehn Fuß kür­zer ist. Ich be­rich­te die­se Ein­zel­hei­ten, um einen Be­griff von der Grö­ße die­ser klei­nen schwim­men­den Welt mit ih­ren 22 See­len zu ge­ben. Es ist eine Mi­nia­tur­welt, ein Sp­lit­ter­chen, ein Punkt, und im­mer wie­der wun­de­re ich mich, dass die Men­schen es ge­wagt ha­ben, die See mit ei­nem so ge­brech­li­chen klei­nen Ding zu ver­su­chen. Wolf Lar­sen gilt auch als ein ver­we­ge­ner See­mann. Ich hör­te Hen­der­son und Stan­dish, einen ka­li­for­ni­schen Jä­ger, dar­über re­den. Vor zwei Jah­ren hat­te er in ei­nem Or­kan in der Be­ringsee die Mas­ten der ›Ghost‹ kap­pen las­sen, wor­auf die jet­zi­gen ein­ge­setzt wur­den, die in je­der Be­zie­hung stär­ker und schwe­rer sind. Da­mals soll er ge­sagt ha­ben, er wol­le lie­ber ken­tern, als die neu­en Höl­zer ver­lie­ren.

Je­der­mann an Bord, mit Aus­nah­me Jo­han­sens, dem sei­ne Be­för­de­rung zu Kop­fe ge­stie­gen ist, scheint eine Ent­schul­di­gung da­für zu ha­ben, dass er sich an Bord der ›Ghost‹ be­fin­det. Fast die Hälf­te der Leu­te im Vor­schiff sind Hoch­see­ma­tro­sen, und sie ent­schul­di­gen sich da­mit, nichts von dem Schiff und sei­nem Ka­pi­tän ge­wusst zu ha­ben. Von den Jä­gern wird ge­mun­kelt, dass sie, so aus­ge­zeich­ne­te Schüt­zen sie sei­en, we­gen ih­rer Streit­sucht und ver­bre­che­ri­schen Nei­gun­gen kei­ne Heu­er auf ei­nem an­stän­di­gen Fahr­zeug hät­ten fin­den kön­nen.

Ich habe die Be­kannt­schaft ei­nes an­de­ren Man­nes von der Be­sat­zung ge­macht – Louis’, ei­nes Iren aus Neu­schott­land, ei­nes freund­li­chen, gut­mü­ti­gen und sehr ver­träg­li­chen Bur­schen, der stets zu ei­ner Un­ter­hal­tung be­reit ist, so­bald er nur einen Zu­hö­rer fin­den kann. Am Nach­mit­tag, wenn der Koch un­ten sein Mit­tags­schläf­chen hält und ich mei­ne ewi­gen Kar­tof­feln schä­le, kommt Louis zu ei­nem lan­gen Plausch in die Kom­bü­se. Er ent­schul­digt sei­ne An­we­sen­heit an Bord da­mit, dass er be­trun­ken war, als er sich an­heu­ern ließ. Im­mer wie­der ver­si­chert er mir, dass er es nicht im Traum ge­tan hät­te, wenn er nüch­tern ge­we­sen wäre. Er scheint seit ei­nem Dut­zend Jah­ren re­gel­mä­ßig mit auf die Rob­ben­jagd zu ge­hen und gilt als bes­ter oder zweit­bes­ter Boots­steu­er­mann in bei­den Flot­ten.

»Ach, mein Jun­ge«, er schüt­tel­te un­heil­ver­kün­dend den Kopf, »du hast dir ge­ra­de den schlimms­ten Scho­ner aus­ge­sucht, und da­bei warst du nicht ein­mal be­sof­fen wie ich. Auf je­dem Schiff ist die Rob­ben­jagd ein Fest für die Ma­tro­sen. Der Steu­er­mann war der ers­te, aber denk’ an mich: es wird noch mehr Tote ge­ben, ehe die Fahrt zu Ende ist. Es bleibt zwi­schen uns: die­ser Wolf Lar­sen ist der Teu­fel sel­ber, und seit er die ›Ghost‹ be­kom­men hat, ist sie ein Höl­len­schiff. Das soll­te ich nicht wis­sen? Ich? Ich weiß noch gut, wie er vor zwei Jah­ren in Ha­ko­da­te einen An­fall krieg­te und vier von sei­nen Leu­ten nie­der­schoss. Ich war ja kei­ne 300 Yards da­von auf der ›Em­ma‹. Und im sel­ben Jah­re er­schlug er einen Mann mit der blo­ßen Faust. Ja, schlug ihn tot, zer­quetsch­te ihm den Kopf wie eine Eier­scha­le. Und ka­men nicht der In­ge­nieur der In­sel Kura und der Po­li­zei­haupt­mann, ja­pa­ni­sche Her­ren, Freund­chen, als sei­ne Gäs­te an Bord der ›Ghost‹ mit ih­ren Frau­en – so zar­ten klei­nen Din­ger­chen, wie sie auf Fä­chern ge­malt sind –, und wur­den nicht die bei­den Ehe­män­ner bei der Ab­fahrt, wie aus Ver­se­hen, in ih­rem Sam­pan zu­rück­ge­las­sen? Und wur­den die ar­men klei­nen Da­men nicht eine Wo­che spä­ter auf der an­de­ren Sei­te der In­sel an Land ge­setzt und muss­ten in ih­ren Stroh­san­da­len, die kei­ne Mei­le hal­ten konn­ten, über die Ber­ge wan­dern? Als ob ich das nicht wüss­te! So ein Tier ist die­ser Wolf Lar­sen–­die große Bes­tie in der Of­fen­ba­rung Jo­han­nis! Es wird ein Ende mit Schre­cken neh­men! Aber ich habe nichts ge­sagt, denk’ dar­an. Nicht einen Ton hab’ ich ge­flüs­tert, denn der alte di­cke Louis möch­te gern die Rei­se über­le­ben, und wenn der letz­te von euch zu den Fi­schen geht. – Wolf Lar­sen«, spru­del­te er einen Au­gen­blick spä­ter her­aus. »Be­ach­te das Wort, hörst du: – Wolf – ein Wolf ist er. Er hat nicht ein schwar­zes Herz wie man­che Men­schen. Er hat über­haupt kein Herz. Ein rich­ti­ger Wolf ist er. Er trägt sei­nen Na­men mit Recht!«

»Aber wenn er so be­rüch­tigt ist«, frag­te ich, »wie ist es dann mög­lich, dass er im­mer noch Leu­te be­kommt!« »Wie ist es mög­lich, dass man über­haupt Leu­te be­kommt, um ir­gend et­was auf Got­tes Welt zu tun?« frag­te Louis mit kel­ti­schem Feu­er. »Wür­de ich an Bord sein, wenn ich nicht vie­hisch be­sof­fen ge­we­sen wäre, als ich un­ter­schrieb. Man­che, wie die Jä­ger, kön­nen kei­nen bes­sern Schif­fer fin­den, und man­che, wie die ar­men Teu­fel vorn, wuss­ten es nicht bes­ser. Aber sie wer­den schon dar­auf kom­men und wer­den den Tag ver­flu­chen, an dem sie ge­bo­ren sind. Ich könn­te wei­nen über die ar­men Men­schen, hät­te ich nicht ge­nug an den ar­men al­ten Louis und die Unan­nehm­lich­kei­ten zu den­ken, die sei­ner noch war­ten. Aber ich habe kei­nen Ton ge­sagt, denk’ dar­an, kei­nen Ton! – Die Jä­ger sind schlech­te Ker­le«, brach er wie­der los, denn wenn er ein­mal im Re­den war, konn­te er so bald nicht auf­hö­ren. »Aber war­t’s nur ab! Wenn sie be­trun­ken sind und aus rei­nem Ver­gnü­gen zu strei­ten an­fan­gen – er wird mit ih­nen fer­tig. Er wird sie schon Got­tes­furcht leh­ren! Sieh mal mei­nen Jä­ger, Hor­ner. ›Jock‹ Hor­ner nen­nen sie ihn, und er sieht so ru­hig und um­gäng­lich aus und spricht so sanft wie ein Mäd­chen, dass man glaubt, die But­ter kön­ne ihm nicht im Mun­de schmel­zen. Und hat er nicht letz­tes Jahr sei­nen Boots­steu­er­mann ge­tö­tet? Un­glücks­fall, sag­te man, aber ich traf den Bootspul­ler in Jo­ko­ha­ma, und der hat mir die Wahr­heit er­zählt. Und ›S­mo­ke‹, der schwar­ze klei­ne Kerl – steck­ten ihn die Rus­sen nicht drei Jah­re in die si­bi­ri­schen Salz­mi­nen, weil er auf Cop­per Is­land Fi­sche ge­sto­chen hat­te – ein Pri­vi­leg der Rus­sen? Mit Hän­den und Fü­ßen war er an sei­nen Ka­me­ra­den ge­fes­selt. Und ka­men sie nicht doch ins Rau­fen? Und kam der an­de­re nicht stück­wei­se im Ei­mer oder zur Mine her­aus: heu­te ein Bein, mor­gen ein Arm, am nächs­ten Tage der Kopf und so wei­ter?« »Aber das ist doch nicht mög­lich!« schrie ich, von Ent­set­zen über­wäl­tigt.

 

»Nicht mög­lich?« fuhr er blitz­schnell fort. »Ich habe nichts ge­sagt. Ich bin taub und stumm, und wenn du dei­ne Mut­ter lieb hast, bist du’s auch. Nie hab’ ich den Mund auf­ge­macht, um et­was an­de­res als Gu­tes und Schö­nes über ihn und die an­de­ren zu sa­gen. Gott ver­dam­m’ sei­ne See­le! Möge er zehn­tau­send Jah­re im Fe­ge­feu­er schmo­ren und dann in die al­ler­tiefs­te Höl­le kom­men.«

John­son, der Mann, der mir die Haut ab­ge­rie­ben hat­te, als ich an Bord kam, schi­en mir von al­len Leu­ten, vorn und ach­tern, der am we­nigs­ten zwei­fel­haf­te. Es war tat­säch­lich gar nichts Zwei­fel­haf­tes an ihm. Sei­ne Of­fen­heit und Männ­lich­keit war auf den ers­ten Blick über­zeu­gend, und dazu kam eine Be­schei­den­heit, die man leicht für Schüch­tern­heit hal­ten konn­te. Aber schüch­tern war er nicht. Er hat­te viel­mehr den Mut der Über­zeu­gung, die Si­cher­heit sei­ner Männ­lich­keit. Das war es, was ihn gleich zu Be­ginn un­se­rer Be­kannt­schaft ge­gen die falsche Auss­pra­che sei­nes Na­mens hat­te pro­tes­tie­ren las­sen. Louis sprach über ihn und pro­phe­zei­te.

»Das ist ein Pracht­kerl, die­ser John­son«, sag­te er. »Un­ser bes­ter See­mann und mein Pul­ler. Aber er und Wolf Lar­sen wer­den an­ein­an­der­ge­ra­ten, so si­cher wie zwei mal zwei vier ist. Das weiß ich. Ich kann den Sturm schon auf­zie­hen se­hen. Ich habe mit ihm ge­re­det wie mit mei­nem ei­ge­nen Bru­der, aber er will kein falsches Si­gnal zei­gen. Er murrt, wenn nicht al­les nach sei­nem Kop­fe geht, und es gibt im­mer ein Klatschmaul, das es Wolf Lar­sen hin­ter­bringt. Der Wolf ist stark, und es ist die Art des Wol­fes, Stär­ke bei an­de­ren zu has­sen. Und Stär­ke fin­det er bei John­son – kein Krie­chen, kein ›Ja­wohl, Käptn, er­ge­bens­ten Dank, Käpt­n‹ für ein Schimpf­wort oder einen Faust­schlag. – Ja, es kommt, es kommt! Und Gott weiß, wo ich einen an­de­ren Pul­ler her­neh­men soll! Was tut der Narr, als der ›Al­te‹ ihn Yon­son nennt? ›Ich hei­ße John­son, Käpt­n‹, und buch­sta­biert ihm den Na­men vor. Du hät­test das Ge­sicht des ›Al­ten‹ se­hen sol­len! Ich dach­te schon, er wür­de auf der Stel­le über ihn her­fal­len. Er tat es nicht, aber er wird es tun, und er wird die­sem Hart­schä­del das Licht aus­bla­sen, oder ich ken­ne mei­ne Leu­te nicht.« –

Tho­mas Mu­gridge wird un­er­träg­lich. Bei je­der An­re­de muss ich ›Herr‹ zu ihm sa­gen. Es dürf­te mit­spre­chen, dass Wolf Lar­sen eine Vor­lie­be für ihn ge­fasst hat. Es ist wohl un­er­hört, dass ein Ka­pi­tän auf ver­trau­tem Fuße mit sei­nem Koch steht, aber Wolf Lar­sen tut es. Zwei- oder drei­mal hat er schon den Kopf zur Kom­bü­se her­ein­ge­steckt und Mu­gridge gut­mü­tig gen­eckt, und heu­te Nach­mit­tag stan­den sie eine vol­le Vier­tel­stun­de auf dem Ach­ter­deck und un­ter­hiel­ten sich. Als der Koch wie­der in die Kom­bü­se trat, glänz­te sein Ge­sicht, als wäre es mit Fett ein­ge­schmiert, und er sang zu sei­ner Ar­beit so falsch, dass es herz­zer­rei­ßend war.

»Ich ver­keh­re im­mer mit den Of­fi­zie­ren«, be­merk­te er ver­trau­lich zu mir. »Ich weiß mich be­liebt zu ma­chen. Mein frü­he­rer Ka­pi­tän – ei, das ging nicht an­ders, ich muss­te zu ihm in die Ka­jü­te kom­men und ein Gläs­chen mit ihm trin­ken. ›Mu­gridge‹, sag­te er, ›Mu­gridge, du hast dei­nen Be­ruf ver­fehlt.‹ ›Und wie­so?‹ ›Du hät­test Gent­le­man wer­den müs­sen und nie für Geld ar­bei­ten dür­fen.‹ Gott straf’ mich, Hump, wenn er das nicht ge­sagt hat, und ich saß ge­müt­lich mit ihm in sei­ner Ka­jü­te, rauch­te sei­ne Zi­gar­ren und trank sei­nen Rum.«

Dies Ge­spräch trieb mich zur Verzweif­lung. Ich habe nie eine Stim­me ge­hört, die mir so ver­hasst war. Sei­ne öli­ge, ge­wun­de­ne Sprech­wei­se, sein fet­ti­ges Lä­cheln und sein un­ge­heu­res Selbst­be­wusst­sein zerr­ten an mei­nen Ner­ven, bis ich manch­mal am gan­zen Lei­be zit­ter­te. Er war tat­säch­lich der ekel­haf­tes­te, wi­der­wär­tigs­te Mensch, den ich je ge­trof­fen habe. Sei­ne Ko­che­rei war eine un­be­schreib­li­che Schwei­ne­rei, und da er al­les koch­te, was an Bord ge­ges­sen wur­de, muss­te ich mir mit aller­größ­ter Vor­sicht das am we­nigs­ten Schmut­zi­ge aus dem Fraß her­aus­su­chen.

Ich war nicht ge­wohnt, zu ar­bei­ten, und mei­ne Hän­de schmerz­ten mich sehr. Die Nä­gel wur­den schwarz und die Haut so schmut­zig, dass selbst eine Scheu­er­bürs­te sie nicht mehr rei­ni­gen konn­te. Im­mer neue Bla­sen schmerz­ten, und dazu hat­te ich eine große Brand­wun­de am Un­ter­arm, die ich mir zu­ge­zo­gen hat­te, als ich ein­mal beim Rol­len des Schif­fes das Gleich­ge­wicht ver­lor und ge­gen den Herd ge­schleu­dert wur­de. Mein Knie hat­te sich noch nicht ge­bes­sert. Es war im­mer noch ge­schwol­len. Das He­rum­hum­peln von früh bis in die Nacht war nicht dazu an­ge­tan, es zu hei­len. Wenn es über­haupt bes­ser wer­den soll­te, muss­te ich Ruhe ha­ben.

Ruhe! Nie zu­vor hat­te ich den Sinn die­ses Wor­tes ver­stan­den. Ohne es zu wis­sen, hat­te ich mein gan­zes Le­ben ge­ruht. Aber jetzt! Hät­te ich nur eine hal­be Stun­de still­sit­zen kön­nen, ohne et­was zu tun, ja, ohne zu den­ken – es wäre das Schöns­te von der Welt für mich ge­we­sen. Aber es war doch eine Of­fen­ba­rung für mich. Jetzt war ich bes­ser im­stan­de, das Le­ben ei­nes Ar­bei­ters zu wür­di­gen. Nie hät­te ich mir träu­men las­sen, dass Ar­beit et­was so Furcht­ba­res wäre. Von halb fünf mor­gens bis zehn Uhr nachts bin ich der Skla­ve al­ler und habe nicht eine Mi­nu­te für mich, au­ßer dem win­zi­gen Au­gen­blick, den ich mir ge­gen Ende der zwei­ten Hun­de­wa­che steh­len kann. Hal­te ich eine Se­kun­de inne, um über die See zu bli­cken, die in der Son­ne fun­kelt, oder zu­zu­schau­en, wenn ein Ma­tro­se nach oben ins Gaf­fel­topp­se­gel geht oder aufs Bugs­priet hin­aus­läuft – gleich höre ich die ver­hass­te Stim­me: »Hal­lo, Hump, nicht fau­len­zen! Ich pas­se auf.« Es gibt An­zei­chen von zu­neh­men­der Miss­s­tim­mung im ›Zwi­schen­deck‹, und es heißt, dass schon eine Prü­ge­lei zwi­schen ›S­mo­ke‹ und Hen­der­son statt­ge­fun­den habe. Hen­der­son scheint der bes­te von den Jä­gern zu sein, ein be­son­ne­ner Bur­sche, der schwer aus sei­ner Ruhe kommt Dies­mal muss er aber sehr er­bost ge­we­sen sein, denn als ›S­mo­ke‹ zum Abend­brot in die Ka­jü­te kam, hat­te er ein blau­es Auge und sah bös aus.

Gera­de vor dem Abend­brot hat­te sich auf Deck et­was er­eig­net, das für die Ge­fühl­lo­sig­keit und Ro­heit die­ser Män­ner be­zeich­nend ist. Un­ter der Mann­schaft be­fin­det sich ein jun­ger Mensch na­mens Har­ri­son, ein plump aus­se­hen­der Bau­ern­bur­sche, der, ver­mut­lich von Aben­teu­er­lust ge­trie­ben, sei­ne ers­te See­rei­se macht. In dem leich­ten, ver­än­der­li­chen Wind la­viert der Scho­ner ziem­lich viel, und dann muss je­des Mal ein Mann nach oben ge­hen, um das vor­de­re Gaf­fel­topp­se­gel um­zu­le­gen. Ir­gend­wie hat­te sich nun, als Har­ri­son oben war, die Schoot im Block am Ende der Gaf­fel fest­ge­klemmt. So­viel ich ver­stand, gab es zwei Mög­lich­kei­ten, sie los­zu­be­kom­men – ers­tens, das Se­gel her­un­ter­zu­fie­ren, was ver­hält­nis­mä­ßig leicht und ge­fahr­los war, zwei­tens auf der Piek bis zum Ende der Gaf­fel hin­aus­zu­klet­tern, ein ge­wag­tes Un­ter­neh­men. Jo­han­sen rief Har­ri­son zu, er sol­le hin­aus­klet­tern. Alle sa­hen, dass der Jun­ge Angst hat­te, und dazu hat­te er alle Ur­sa­che: acht­zig Fuß über dem Deck und nichts, um sich fest­zu­hal­ten, als dies dün­ne, ruck­wei­se hin und her ge­schleu­der­te Tau! Hät­te ein ste­ti­ger Wind ge­weht, so wür­de es nicht so schlimm ge­we­sen sein, aber die ›Ghost‹ roll­te ohne La­dung in der Dü­nung, und bei je­dem Über­ho­len ge­rie­ten die Se­gel in schwin­gen­de Be­we­gung und schlu­gen, und die Fal­le wur­den schlaff und dann mit ei­nem Ruck wie­der straff. Sie ver­moch­ten einen Mann hin­un­ter­zu­fe­gen wie ein Peit­schen­schmitz eine Flie­ge.

Har­ri­son hör­te den Be­fehl und ver­stand, was man von ihm ver­lang­te, zö­ger­te je­doch. Ver­mut­lich war er das ers­te­mal in sei­nem Le­ben in der Ta­ke­lung. Jo­han­sen, von Wolf Lar­sens Herrsch­sucht an­ge­steckt, brach in einen Strom von Flü­chen aus.

»Ge­nug, Jo­han­sen«, sag­te der Ka­pi­tän schroff, »das Flu­chen auf dem Schiff be­sor­ge ich selbst, dass Sie und alle es wis­sen. Wenn ich Ihre Hil­fe brau­che, wer­de ich Sie ru­fen.«

»Ja­wohl, Käptn«, ant­wor­te­te der Steu­er­mann un­ter­wür­fig.

Un­ter­des­sen war Har­ri­son auf das Fall hin­aus­ge­klet­tert. Ich blick­te durch die Kom­bü­sen­tür hin­auf und konn­te se­hen, wie er zit­ter­te, als wä­ren ihm alle Glie­der vom Schüt­tel­frost ge­packt. Er kroch ganz lang­sam und vor­sich­tig, Zoll für Zoll. Von dem kla­ren Blau des Him­mels hob er sich ab wie eine Rie­sen­spin­ne, die an ih­rem Netz­werk ent­lang kriecht.

Er muss­te leicht auf­wärts klet­tern, denn das Se­gel stand nach oben. Das Fall, das durch ver­schie­de­ne Blö­cke am Gaf­fel und Mast lief, gab ihm ei­ni­ge Stütz­punk­te für Hän­de und Füße. Aber das schlimms­te war, dass der Wind nicht kräf­tig und ste­tig ge­nug weh­te, um das Se­gel zu blä­hen. Als er sich etwa in der Mit­te be­fand, mach­te die ›Ghost‹ eine Sch­lin­ger­be­we­gung nach Luv und wie­der zu­rück in ein Wel­len­tal. Har­ri­son hielt inne und klam­mer­te sich fest. Acht­zig Fuß un­ter ihm konn­te ich sei­ne krampf­haf­ten Mus­kel­be­we­gun­gen se­hen: er kämpf­te um sein Le­ben. Das Se­gel wur­de schlaff und schwang mitt­schiffs. Das Fall gab nach, und ob­gleich sich das al­les mit großer Schnel­lig­keit ab­spiel­te, konn­te ich doch se­hen, wie es durch sein Kör­per­ge­wicht sack­te. Dann schwang die Gaf­fel mit ei­nem Ruck zur Sei­te, das große Se­gel schwoll wie aus der Ka­no­ne ge­schos­sen, und die drei­fa­che Rei­he von Reff­sei­sin­gen klatsch­te wie eine Ge­wehr­sal­ve ge­gen die Lein­wand. Har­ri­son saus­te, im­mer noch fest­ge­klam­mert, durch die Luft, aber das Fall straff­te sich wie­der mit ei­nem schar­fen Ruck. Es war wie ein Peit­schen­hieb. Da ver­lor er den Halt. Die eine Hand wur­de los­ge­ris­sen, die an­de­re krampf­te sich einen Au­gen­blick ver­zwei­felt fest, dann folg­te auch sie. Der Kör­per saus­te hin­un­ter, aber glück­li­cher­wei­se blieb er mit den Fü­ßen hän­gen. Durch eine schnel­le Be­we­gung ge­lang es ihm, das Fall zu pa­cken, aber es dau­er­te nicht lan­ge, bis er sich wie­der hoch­ge­schwun­gen hat­te. Da hing er – ein kläg­li­cher An­blick.

»Wet­ten, dass ihm heu­te das Abend­brot nicht schme­cken wird«, hör­te ich Wolf Lar­sen sa­gen, des­sen Stim­me um die Ecke der Kom­bü­se zu mir drang. »Jo­han­sen, ab­hal­ten! Pas­sen Sie auf! Jetzt kommt die Bö!«

Har­ri­son muss­te sich sehr elend füh­len. Lan­ge klam­mer­te er sich an sei­nen schwan­ken­den Halt, ohne auch nur einen Ver­such zu ma­chen, sich zu be­we­gen. Aber Jo­han­sen trieb ihn an, sei­ne Auf­ga­be zu vollen­den.

»Es ist eine Schan­de!« hör­te ich John­son in lang­sa­mem, aber kor­rek­tem Eng­lisch knur­ren. Er stand beim Groß­mast, ganz nahe bei mir. »Der Jun­ge hat gu­ten Wil­len. Mit der Zeit wird er es schon ler­nen. Aber das ist …« Er mach­te eine Atem­pau­se und be­en­de­te dann sein Ur­teil: »Mord!«

»Willst du still sein!« flüs­ter­te Louis ihm zu. »Wenn dir dein Le­ben lieb ist, so halt den Mund.«

Aber John­son knurr­te wei­ter.

Der Jä­ger Stan­dish sag­te zu Wolf Lar­sen: »Er ist mein Pul­ler, und ich möch­te ihn nicht ver­lie­ren.«

 

»Stimmt, Stan­dish«, lau­te­te die Ant­wort. »Wenn du ihn im Boot hast, ist er dein Pul­ler, so­lan­ge ich ihn aber hier an Bord habe, ist er mein Ma­tro­se, und da ma­che ich mit ihm, was mir ge­fällt.«

»Aber das ist doch kein Grund …« be­gann Stan­dish er­regt.

»Es ist gut«, un­ter­brach ihn Wolf Lar­sen. »Ich habe mei­ne Mei­nung ge­sagt, und da­mit ge­nug. Der Mann ge­hört mir, und wenn es mir passt, kann ich Sup­pe aus ihm ko­chen und sie es­sen.«

Die Au­gen des Jä­gers fun­kel­ten zor­nig, aber er dreh­te sich um und ging die Trep­pe zum Zwi­schen­deck hin­ab, wo er ste­hen­blieb und hin­aufsah. Alle Mann be­fan­den sich an Deck, und alle Au­gen wa­ren nach oben ge­rich­tet, wo ein mensch­li­ches We­sen mit dem Tode rang. Die Ge­fühl­lo­sig­keit die­ser Men­schen war ent­set­zen­er­re­gend. Ich, der ich ab­seits vom Tru­bel der Welt ge­lebt hat­te, hät­te mir nie träu­men las­sen, dass es drau­ßen so zu­ging. Das Le­ben war mir stets als et­was be­son­ders Hei­li­ges er­schie­nen, und hier galt es nichts, war nur eine Zif­fer in ei­ner ge­schäft­li­chen Be­rech­nung. Ich muss ge­ste­hen, dass man­che der Ma­tro­sen doch Mit­ge­fühl emp­fan­den, wie John­son zum Bei­spiel, aber die Vor­ge­setz­ten – die Jä­ger und der Ka­pi­tän – wa­ren ganz herz­los. Selbst der Ein­spruch Stan­dis­hs war nur dem Wun­sche ent­sprun­gen, sei­nen Bootspul­ler nicht zu ver­lie­ren. Hät­te es sich um den Ru­de­rer ei­nes an­de­ren Jä­gers ge­han­delt, so wür­de er sich wie sie dar­über be­lus­tigt ha­ben.

Doch zu­rück zu Har­ri­son! Jo­han­sen schmäh­te und be­lei­dig­te den ar­men Kerl, aber es dau­er­te vol­le zehn Mi­nu­ten, bis er ihn wie­der in Be­we­gung ge­bracht hat­te. Kurz dar­auf hat­te er das Ende der Gaf­fel er­reicht, wo er sich, auf der Spie­re rei­tend, bes­ser fest­hal­ten konn­te. Er mach­te das Schoot klar und hät­te nun am Fall ent­lang zum Mast zu­rück­klet­tern kön­nen. Aber er hat­te den Kopf ver­lo­ren. So un­si­cher sei­ne jet­zi­ge Lage war, woll­te er sie doch nicht mit der noch un­si­che­ren auf dem Fall ver­tau­schen.

Er blick­te auf den luf­ti­gen Weg, den er pas­sie­ren soll­te, und dann hin­un­ter aufs Deck. Noch nie hat­te ich so­viel Furcht auf dem Ge­sicht ei­nes Men­schen aus­ge­prägt ge­se­hen. Ver­ge­bens rief Jo­han­sen, dass er her­un­ter­kom­men sol­le. Je­den Au­gen­blick konn­te er von der Gaf­fel ge­schleu­dert wer­den, aber er war hilf­los vor Angst. Wolf Lar­sen, der, in eine Un­ter­hal­tung mit Smo­ke ver­tieft, auf und nie­der schritt, nahm kei­ne No­tiz von ihm, nur rief er dem Mann am Rad ein­mal scharf zu: »Du bist aus dem Kurs, Mann! Pass auf, dass du dir kei­ne Unan­nehm­lich­kei­ten zu­ziehst!«

»Ja­wohl, Käptn«, er­wi­der­te der Ru­der­gast und dreh­te das Rad.

Er hat­te die ›Ghost‹ ein paar Strich aus dem Kurs ge­bracht, da­mit das biss­chen Wind das Vor­se­gel fül­len und prall hal­ten konn­te. Er hat­te dem un­glück­se­li­gen Har­ri­son hel­fen wol­len, auf die Ge­fahr hin, Wolf Lar­sens Zorn her­auf­zu­be­schwö­ren.

Die Zeit ver­ging, und mei­ne Span­nung war furcht­bar. Tho­mas Mu­gridge hin­ge­gen fand die Ge­schich­te au­ßer­or­dent­lich lus­tig, er steck­te fort­wäh­rend den Kopf zur Kom­bü­se her­aus, um scherz­haf­te Be­mer­kun­gen zu ma­chen. Wie ich ihn hass­te! Und wie mein Hass in die­sen ban­gen Mi­nu­ten ins Rie­sen­haf­te wuchs! Zum ers­ten Mal in mei­nem Le­ben ver­spür­te ich die Lust, zu mor­den. Moch­te Le­ben im All­ge­mei­nen et­was Hei­li­ges sein – für Tho­mas Mu­gridge galt mir dies nicht mehr. Ich war ent­setzt, als ich mir dar­über klar wur­de, und durch mein Hirn fuhr der Ge­dan­ke: War auch ich von der Ro­heit mei­ner Um­ge­bung an­ge­steckt? Ich, der ich selbst für die ab­scheu­lichs­ten Ver­bre­chen die Be­rech­ti­gung der To­dess­tra­fe ge­leug­net hat­te?

Wohl eine hal­be Stun­de ver­ging. Da sah ich John­son in ei­nem Wort­wech­sel mit Louis. Er en­de­te da­mit, dass John­son den Arm des an­de­ren, der ihn hal­ten woll­te, bei­sei­te schob und nach vorn ging. Er über­quer­te das Deck, sprang in die Ta­ke­lung und be­gann zu klet­tern. Aber das schnel­le Auge Wolf Lar­sens hat­te ihn er­fasst. »Hal­lo, Mann, wo­hin?« rief er.

John­son hielt im Klet­tern inne. Er blick­te sei­nem Ka­pi­tän in die Au­gen und sag­te lang­sam:

»Ich will den Jun­gen her­un­ter­ho­len.«

»Du wirst her­un­ter­kom­men, und das ein biss­chen plötz­lich. Ver­stan­den? Run­ter!«

John­son zö­ger­te, aber der lang­jäh­ri­ge un­be­ding­te Ge­hor­sam ge­gen den Herrn des Schif­fes über­mann­te ihn, er glitt aufs Deck her­ab und ging nach vorn.

Um halb sechs ging ich hin­un­ter, um den Ka­jü­ten­tisch zu de­cken, aber ich wuss­te kaum, was ich tat, denn im­mer sah ich den to­ten­blei­chen, zit­tern­den Men­schen vor mir, der sich wie ein Kä­fer an die Gaf­fel klam­mer­te. Als ich um sechs Uhr an Deck kam, um das Abend­brot auf­zu­tra­gen, sah ich Har­ri­son im­mer noch in der­sel­ben Lage. Die Un­ter­hal­tung bei Tisch dreh­te sich um an­de­re Din­ge. Kein ein­zi­ger schi­en sich für das so grund­los ge­fähr­de­te Le­ben zu in­ter­es­sie­ren. Als ich aber noch ein­mal nach der Kom­bü­se muss­te, sah ich zu mei­ner Freu­de Har­ri­son nach der Back wan­ken. Er hat­te end­lich den Mut zum Her­un­ter­klet­tern ge­fun­den.

Ehe ich die­sen Ge­gen­stand ver­las­se, muss ich eine Un­ter­hal­tung be­rich­ten, die ich mit Wolf Lar­sen in der Ka­jü­te hat­te, als ich das Ge­schirr auf­wusch.

»Sie sa­hen sehr schlecht aus heu­te Nach­mit­tag«, be­gann er. »Was fehl­te Ih­nen?«

Er wuss­te na­tür­lich gut, was mich bei­na­he so elend wie Har­ri­son ge­macht hat­te, er woll­te mich nur rei­zen. Ich ant­wor­te­te: »Es war die rohe Be­hand­lung des Jun­gen.«

Er lach­te kurz: »Wohl eher See­krank­heit. Man­cher kriegt sie, man­cher nicht.«

»Nein, das war es nicht«, ant­wor­te­te ich.

»Doch ge­wiss«, fuhr er fort. »Die Erde ist so vol­ler Ro­heit wie das Meer vol­ler Be­we­gung. Man­chen macht dies krank, man­chen je­nes. Das ist al­les.«

»Aber Sie, der Sie Spott mit Men­schen­le­ben trei­ben, le­gen Sie dem Le­ben gar kei­nen Wert bei?« frag­te ich. »Wert? Was für Wert?« Er sah mich an, und ob­wohl sei­ne Au­gen ru­hig und un­be­weg­lich wa­ren, er­schi­en doch ein zy­ni­sches Lä­cheln in ih­nen. »Was für einen Wert? Wie er­mes­sen Sie es? Wer schätzt es?«

»Ich selbst«, gab ich zur Ant­wort.

»Wie viel ist es Ih­nen denn wert? Das Le­ben ei­nes an­de­ren, mei­ne ich. Nun, her­aus da­mit! Was ist es wert?«

Der Wert des Le­bens? Wie konn­te ich dem Le­ben einen greif­ba­ren Wert bei­le­gen? Merk­wür­dig: Ir­gend­wie fehl­te mir, der ich sonst nie um Wor­te ver­le­gen war, der Aus­druck, wenn ich mit Wolf Lar­sen ver­han­del­te. Ich bin spä­ter zu der Er­kennt­nis ge­langt, dass teil­wei­se die Per­sön­lich­keit des Man­nes, zum größ­ten Teil aber sei­ne völ­lig an­de­re Ein­stel­lung schuld dar­an war. Im Ge­gen­satz zu an­de­ren Ma­te­ria­lis­ten, die ich ge­trof­fen habe und mit de­nen ich doch den­sel­ben Aus­gangs­punkt tei­len konn­te, hat­te ich mit ihm nichts ge­mein. Vi­el­leicht war es auch die ele­men­ta­re Ein­fach­heit sei­nes Den­kens, die mich ver­wirr­te. So di­rekt ging er stets auf den Kern ei­ner Sa­che los, ent­blö­ßte eine Fra­ge von al­lem über­flüs­si­gen Bei­werk, und das mit sol­cher Ent­schie­den­heit, dass ich mir vor­kam, als kämpf­te ich in tie­fem Was­ser, ohne Grund un­ter den Fü­ßen. Der Wert des Le­bens? Wie soll­te ich eine sol­che Fra­ge ste­hen­den Fu­ßes be­ant­wor­ten? Die Hei­lig­keit des Le­bens war für mich im­mer et­was Ge­ge­be­nes ge­we­sen. Dass es einen Wert be­saß, war eine Wahr­heit, die ich nie be­zwei­felt hat­te. Und als er die­se of­fen­ba­re Wahr­heit jetzt an­focht, war ich rat­los.