Jack London – Gesammelte Werke

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12

Die letz­ten vier­und­zwan­zig Stun­den sind Zeu­gen ei­nes rei­nen Kar­ne­vals von Ro­heit ge­we­sen. Von der Ka­jü­te bis zur Back ver­brei­te­te es sich wie eine an­ste­cken­de Krank­heit. Ich weiß kaum, wo be­gin­nen. Wolf Lar­sen war der ei­gent­li­che Ur­he­ber. Das Ver­hält­nis zwi­schen der Be­sat­zung war ge­spannt und feind­se­lig in­fol­ge von Groll und Strei­tig­kei­ten. Bis jetzt war das Gleich­ge­wicht ge­wahrt wor­den, aber nun flamm­ten die bö­sen Lei­den­schaf­ten auf und lo­der­ten wie ein Prä­rieb­rand.

Tho­mas Mu­gridge ist ein Duck­mäu­ser, ein Spi­on und Hin­ter­trä­ger. Er hat ver­sucht, sich beim Ka­pi­tän wie­der lieb Kind zu ma­chen, in­dem er die Mann­schaft ver­klatsch­te. Ich weiß, dass er Wolf Lar­sen ei­ni­ge vor­ei­li­ge Wor­te John­sons hin­ter­brach­te. John­son soll sich Öl­zeug aus der Schiffs­klei­der­kis­te ge­kauft ha­ben, das von sehr zwei­fel­haf­ter Güte war. Er hielt mit die­ser Tat­sa­che nicht hin­ter dem Ber­ge. Die Schiffs­klei­der­kis­te ist eine Art Mi­nia­tur­wa­ren­la­ger, das ein Rob­ben­scho­ner an Bord hat, und das den An­sprü­chen der Ma­tro­sen ge­mäß zu­sam­men­ge­stellt ist. Was ein Ma­tro­se kauft, wird spä­ter von sei­nem Ver­dienst am Rob­ben­fang ab­ge­zo­gen, denn Pul­ler und Bootss­teu­rer er­hal­ten, eben­so wie die Jä­ger, statt der Heu­er einen An­teil am Ge­winn, näm­lich einen ge­wis­sen Be­trag für je­des von ih­rem Boot er­beu­te­te Fell.

Von John­sons Un­zu­frie­den­heit mit dem Öl­zeug wuss­te ich je­doch nichts, und was ich er­leb­te, kam da­her wie ein Blitz aus hei­te­rem Him­mel für mich. Ich war ge­ra­de mit dem Auf­räu­men der Ka­jü­te fer­tig, als Jo­han­sen, von John­son ge­folgt, die Ka­jüt­strep­pe her­un­ter­kam. John­son nahm nach See­manns­art die Müt­ze ab, stand ehr­er­bie­tig, schwer im Rol­len des Scho­ners schwan­kend, mit­ten in der Ka­jü­te und blick­te dem Ka­pi­tän of­fen in die Au­gen.

»Schlie­ßen Sie die Tür und rie­geln Sie ab«, sag­te Wolf Lar­sen zu mir.

Als ich ge­horch­te, be­merk­te ich einen ängst­li­chen Aus­druck in John­sons Au­gen, aber die Ur­sa­che ließ ich mir nicht träu­men. Ich ahn­te nicht, was kom­men soll­te, bis es ge­sch­ah, er aber wuss­te vom ers­ten Au­gen­blick an, was sei­ner war­te­te, und sah sei­nem Schick­sal tap­fer in die Au­gen. Und sei­ne Hand­lungs­wei­se war für mich die völ­li­ge Wi­der­le­gung von Wolf Lar­sens gan­zem Ma­te­ria­lis­mus. Der Ma­tro­se John­son war im Recht, und er wuss­te das und war furcht­los. Er wür­de im Not­fall für die­ses Recht ge­stor­ben sein. Er blieb sich und sei­ner See­le treu. Und das kenn­zeich­ne­te den Sieg des Geis­tes über das Fleisch, die Un­be­stech­lich­keit und Grö­ße ei­ner See­le, die sich nicht un­ter­jo­chen ließ, son­dern sich über Zeit, Raum und Ma­te­rie er­hob mit ei­ner Si­cher­heit und Un­über­wind­lich­keit, die nichts an­derm ent­springt als Ewig­keit und Uns­terb­lich­keit.

Ich be­merk­te zwar den ängst­li­chen Aus­druck in John­sons Au­gen, hielt ihn je­doch irr­tüm­lich für die an­ge­bo­re­ne Schüch­tern­heit und Ver­le­gen­heit des Man­nes. Jo­han­sen, der Steu­er­mann, stand ei­ni­ge Fuß ent­fernt ne­ben ihm, und gut drei Yards ihm ge­gen­über saß Wolf Lar­sen auf ei­nem Ka­jü­ten­dreh­stuhl. Als ich die Tür ge­schlos­sen und ab­ge­rie­gelt hat­te, trat eine merk­ba­re Pau­se ein, eine Pau­se, die eine gan­ze Mi­nu­te dau­ern moch­te. Sie wur­de von Wolf Lar­sen be­en­det. »Yon­son«, be­gann er.

»Ich hei­ße John­son, Käptn«, ver­bes­ser­te ihn der Ma­tro­se kühn.

»Schön, also John­son, in Teu­fels Na­men! Kannst du er­ra­ten, warum ich dich ru­fen ließ?«

»Ja und nein, Käptn«, ant­wor­te­te er lang­sam. »Mei­ne Ar­beit tue ich gut. Dass weiß der Steu­er­mann, und das wis­sen Sie, Käptn. Es kann also kei­nen Grund zur Kla­ge über mich ge­ben.«

»Und das ist al­les?« frag­te Wolf Lar­sen; sei­ne Stim­me war sanft und lei­se, er schnurr­te fast wie eine Kat­ze. »Ich weiß, dass Sie es auf mich ab­ge­se­hen ha­ben«, fuhr John­son mit un­er­schüt­ter­li­cher, schwer­fäl­li­ger Lang­sam­keit fort. »Sie kön­nen mich nicht lei­den. Sie – Sie –«

»Wei­ter«, trieb ihn Wolf Lar­sen an. »Hab’ nur kei­ne Angst vor mei­nen Ge­füh­len.«

»Ich habe kei­ne Angst«, ent­geg­ne­te der Ma­tro­se rasch, und eine leich­te Zor­nes­rö­te wur­de un­ter sei­ner son­nen­ver­brann­ten Haut sicht­bar. »Wenn ich lang­sam spre­che, so kommt es da­her, dass ich mei­ne Hei­mat noch nicht so lan­ge ver­las­sen habe wie Sie. Sie kön­nen mich nicht lei­den, weil ich zu sehr Mann bin, das ist der Grund, Käptn.«

»Du bist zu sehr Mann, um dich der Schiffs­dis­zi­plin zu fü­gen, wenn du das meinst, und wenn du ver­stehst, was ich mei­ne«, er­wi­der­te Wolf Lar­sen.

»Ich ver­ste­he eng­lisch, und ich weiß, was Sie mei­nen, Käptn«, ant­wor­te­te John­son und er­rö­te­te noch mehr bei der An­spie­lung auf sei­ne Sprach­kennt­nis­se.

»John­son«, sag­te Wolf Lar­sen mit ei­nem Aus­druck, der er­ken­nen ließ, dass er al­les Bis­he­ri­ge nur als Ein­lei­tung an­ge­se­hen hat­te und jetzt auf die Haupt­sa­che kom­men woll­te, »ich höre, dass du nicht zu­frie­den mit dem Öl­zeug bist?«

»Nein, ich bin nicht zu­frie­den. Es taugt nichts, Käptn.« »Und du hast große Töne dar­über ge­re­det.«

»Ich sage, was ich den­ke, Käptn«, ant­wor­te­te der Ma­tro­se mu­tig, ohne die an Bord ei­nes Schif­fes herr­schen­de Eti­ket­te zu ver­ges­sen.

In die­sem Au­gen­blick fie­len mei­ne Au­gen zu­fäl­lig auf Jo­han­sen. Sei­ne großen Fäus­te ball­ten und öff­ne­ten sich wie­der, und sein Ge­sicht hat­te einen ge­ra­de­zu teuf­li­schen Aus­druck, so furcht­bar blick­te er John­son an. Ich sah, dass Jo­han­sen noch ein blau­es Auge hat­te, ein Denk­zet­tel von den ihm von John­son vor ei­ni­gen Näch­ten er­teil­ten Prü­geln. Jetzt erst be­gann ich zu ah­nen, dass sich et­was Schreck­li­ches ab­spie­len soll­te, wenn ich mir auch nicht den­ken konn­te, was.

»Weißt du, was dem ge­schieht, der sagt, was du über mich und mei­ne Wa­ren ge­sagt hast?« frag­te Wolf Lar­sen.

»Ich weiß es, Käptn.«

»Was denn?« frag­te Wolf Lar­sen scharf und ge­bie­te­risch.

»Was Sie und der Steu­er­mann im Be­griff sind, mit mir zu tun, Käptn.«

»Se­hen Sie ihn sich an, Hump«, sag­te Wolf Lar­sen zu mir. »Se­hen Sie sich das biss­chen be­seel­ten Staub an, dies Häuf­chen Ma­te­rie, das sich be­wegt und at­met und mir Trotz zu bie­ten wagt, und das fest da­von über­zeugt ist, aus et­was Gu­tem zu be­ste­hen, das von ge­wis­sen mensch­li­chen Fan­tas­te­rei­en von Ge­rech­tig­keit und Ehr­lich­keit durch­drun­gen ist und an ih­nen fest­hält trotz al­ler per­sön­li­chen Unan­nehm­lich­kei­ten und Dro­hun­gen. Was hal­ten Sie von ihm, Hump? Nun, was hal­ten Sie von ihm?«

»Ich fin­de, er ist ein bes­se­rer Mensch als Sie«, ant­wor­te­te ich, wohl von dem Wun­sche ge­trie­ben, einen Teil des Zor­nes ab­zu­len­ken, der sich, wie ich fühl­te, über das Haupt des Ma­tro­sen ent­la­den muss­te. »Sei­ne mensch­li­chen Fan­tas­te­rei­en, wie Sie es zu nen­nen be­lie­ben, schaf­fen Edel­mut und Männ­lich­keit. Sie ken­nen kei­ne Fan­tas­te­rei­en, kei­ne Träu­me, kei­ne Idea­le. Sie sind ein Bett­ler.«

Er nick­te mit wil­der Lust. »Ganz recht, Hump, ganz recht. Ich ken­ne kei­ne Fan­tas­te­rei­en, die Edel­mut und Männ­lich­keit schaf­fen. Mit dem Pre­di­ger sage ich, dass ein le­ben­der Hund bes­ser ist als ein to­ter Löwe. Ich ken­ne nur eine Leh­re: die der Selbst­sucht und des Le­bens­wil­lens. Dies biss­chen Hefe, das sich John­son nennt, wird, so­bald es nicht län­ger Hefe, son­dern nur noch ein Häuf­chen Staub und Asche ist, nicht mehr Edel­mut be­sit­zen als Staub und Asche im All­ge­mei­nen – wäh­rend ich wei­ter lebe und brül­le. – Wis­sen Sie, was ich tun wer­de?« frag­te er.

Ich schüt­tel­te den Kopf.

»Nun, ich wer­de Ih­nen das Recht des Stär­ke­ren de­mons­trie­ren und Ih­nen zei­gen, wo­hin Edel­mut führt. Pas­sen Sie auf.«

Drei Yards saß er von John­son ent­fernt. Neun Fuß! Und doch mach­te er ge­ra­des­wegs aus sei­ner sit­zen­den Stel­lung einen Satz wie ein Ti­ger, und wie ein Ti­ger durch­schoss er den Raum zwi­schen sich und dem Ma­tro­sen. Es war eine La­wi­ne von Wut, die John­son ver­ge­bens ab­zu­weh­ren ver­such­te. Mit dem einen Arm such­te er sei­nen Bauch, mit dem an­de­ren das Ge­sicht zu be­schüt­zen. Aber Wolf Lar­sens Faust traf zwi­schen bei­de mit ei­nem zer­mal­men­den, wi­der­hal­len­den Stoß. John­son stock­te der Atem, dann ent­wich die Luft pfei­fend sei­ner Lun­ge. Er fiel bei­na­he hin­ten­über und schwank­te von ei­ner Sei­te nach der an­de­ren, um das Gleich­ge­wicht wie­der­zu­er­lan­gen.

Ich bin nicht im­stan­de, alle Ein­zel­hei­ten der grau­en­vol­len Sze­ne, die jetzt folg­te, wie­der­zu­ge­ben. Es war em­pö­rend. Selbst jetzt noch wer­de ich krank, wenn ich dar­an den­ke. John­son leis­te­te tap­fe­ren Wi­der­stand, aber ei­nem Wolf Lar­sen war er nicht ge­wach­sen, und noch we­ni­ger Wolf Lar­sen und dem Steu­er­mann zu­sam­men. Es war furcht­bar. Ich hat­te nie ge­dacht, dass ein mensch­li­ches We­sen so­viel er­tra­gen und da­bei noch le­ben und kämp­fen könn­te. Und John­son kämpf­te. Na­tür­lich hat­te er kei­ne Hoff­nung, nicht die lei­ses­te Hoff­nung, und das wuss­te er eben­so gut wie ich. aber sei­ne Mann­haf­tig­keit er­laub­te ihm nicht, den Kampf auf­zu­ge­ben.

Es wur­de zu viel für mich, ich konn­te es nicht mehr mit an­se­hen. Ich fühl­te, dass ich im Be­griff war, den Ver­stand zu ver­lie­ren, und stürz­te die Ka­jüt­strep­pe hin­auf, um die Tür zu öff­nen und an Deck zu flie­hen. Aber Wolf Lar­sen ließ einen Au­gen­blick von sei­nem Op­fer ab, er­wi­sch­te mich mit ei­nem sei­ner un­ge­heu­ren Sprün­ge und schleu­der­te mich zu­rück in die ferns­te Ecke der Ka­jü­te.

 

»Die Le­ben­sphä­no­me­ne, Hump«, höhn­te er. »Blei­ben Sie ste­hen und be­ob­ach­ten Sie sie. Sie kön­nen Ma­te­ri­al über die Uns­terb­lich­keit der See­le sam­meln. Im üb­ri­gen kön­nen wir John­sons See­le ja gar nicht ver­let­zen. Wir kön­nen höchs­tens ihre ver­gäng­li­che Form zer­stö­ren.«

Jahr­hun­der­te schie­nen ver­gan­gen – wahr­schein­lich wa­ren es nicht mehr als zehn Mi­nu­ten, dass die Miss­hand­lung dau­er­te. Wolf Lar­sen und Jo­han­sen wa­ren ganz von ih­rem Tun in An­spruch ge­nom­men. Sie tra­fen ihn mit ih­ren Fäus­ten, stie­ßen ihn mit ih­ren schwe­ren Schu­hen, schlu­gen ihn zu Bo­den und ris­sen ihn wie­der hoch, um ihn von neu­em hin­zu­schleu­dern. Sei­ne Au­gen wa­ren ge­blen­det, er konn­te nichts se­hen. Das Blut rann ihm aus Ohren, Nase und Mund und ver­wan­del­te die Ka­jü­te in ein Schlacht­haus. Und als er sich nicht mehr er­he­ben konn­te, schlu­gen sie wei­ter auf den am Bo­den Lie­gen­den ein.

»Sach­te, Jo­han­sen, sach­te, es ist ge­nug!« sag­te Wolf Lar­sen end­lich.

Aber die Bes­tie war los in dem Steu­er­mann, und Wolf Lar­sen muss­te ihn mit ei­ner Hand­be­we­gung bei­sei­te­fe­gen – an­schei­nend ganz sanft, aber Jo­han­sen flog wie ein Kork zu­rück, und sein Kopf schlug mit ei­nem Knall ge­gen die Wand. Halb be­täubt fiel er zu Bo­den und blieb einen Au­gen­blick keu­chend und blö­de blin­zelnd lie­gen.

»Tür auf, Hump!« wur­de mir be­foh­len.

Ich ge­horch­te, und die bei­den Bes­ti­en ho­ben den Ohn­mäch­ti­gen wie einen Sack Lum­pen auf und zwäng­ten ihn die Trep­pe hin­auf und durch die enge Tür­öff­nung an Deck. Das Blut schoss aus sei­ner Nase in ei­nem schar­lach­ro­ten Strahl über die Füße des Ru­der­gas­tes, der kein and­rer als Louis, sein Bootss­teu­rer, war. Aber Louis be­dien­te sein Rad und blick­te un­er­schüt­ter­lich ins Kom­paß­haus.

An­ders Ge­or­ge Le­ach, der frü­he­re Ka­jüts­jun­ge. Auf dem gan­zen Schif­fe hät­te mich nichts so über­ra­schen kön­nen wie sein Be­neh­men. Ohne Be­fehl kam er nach der Ruff und schlepp­te John­son nach vorn, wo er sich mit ihm zu schaf­fen mach­te und ihm die Wun­den, so gut er konn­te, ver­band. John­son war nicht mehr als John­son kennt­lich. Und nicht nur das, sei­ne Züge hat­ten über­haupt je­des mensch­li­che Ge­prä­ge ver­lo­ren, so ver­zerrt und ver­schwol­len wa­ren sie in der kur­z­en Zeit, seit er die Ka­jü­te be­tre­ten hat­te.

Wäh­rend ich die Ka­jü­te säu­ber­te, hat­te Le­ach sich John­sons an­ge­nom­men. Ich kam an Deck, um fri­sche Luft zu schöp­fen und zu ver­su­chen, mei­ne er­reg­ten Ner­ven ein we­nig zur Ruhe zu brin­gen. Wolf Lar­sen rauch­te sei­ne Zi­gar­re und un­ter­such­te das Pa­tent­log, das ge­wöhn­lich ach­tern nach­schlepp­te, aber aus ir­gend­ei­nem Grun­de ein­ge­holt war.

Plötz­lich drang Le­achs Stim­me an mein Ohr. Sie war an­ge­strengt und hei­ser vor ver­hal­te­ner Wut. Ich dreh­te mich um und sah ihn ge­ra­de an der Back­bord­sei­te der Kom­bü­se ne­ben der Hüt­te ste­hen. Sein Ge­sicht war weiß und ver­zerrt, sei­ne Au­gen blitz­ten, und er hob die ge­ball­ten Fäus­te ge­gen Wolf Lar­sen.

»Gott ver­dam­me dei­ne See­le in die Höl­le, Wolf Lar­sen! Die Höl­le ist noch zu gut für dich, Feig­ling, Mör­der, Schwei­ne­hund!« Mit die­sem Gruß be­gann er. Ich war wie vom Don­ner ge­rührt. Ich er­war­te­te sei­ne au­gen­blick­li­che Ver­nich­tung. Aber Wolf Lar­sen war nicht in der Lau­ne, ihn zu ver­nich­ten. Er schlen­der­te lang­sam die Ruff hin­ab, stütz­te die Ell­bo­gen auf das Ka­jü­ten­dach und blick­te nach­denk­lich und neu­gie­rig den auf­ge­reg­ten Jun­gen an.

Und der Jun­ge über­schüt­te­te Wolf Lar­sen mit An­kla­gen, wie sie ihm noch nie ge­sagt wor­den wa­ren. Die Ma­tro­sen sam­mel­ten sich furcht­sam vor der Ach­ter­lu­ke, sa­hen zu und lausch­ten. Die Jä­ger dräng­ten sich aus dem ›Zwi­schen­deck‹ her­aus, und als Le­ach auch jetzt noch nicht schwieg, blick­ten sie be­sorgt her­über. Selbst sie wa­ren er­schro­cken, nicht über die furcht­ba­ren Wor­te des Jun­gen, son­dern über sei­nen ent­setz­li­chen Wa­ge­mut. Es er­schi­en ih­nen ganz un­denk­bar, dass ein le­ben­des We­sen Wolf Lar­sen der­art Trotz bie­ten soll­te. Ich selbst war er­schüt­tert, so be­wun­der­te ich den Jun­gen, in dem ich jetzt die herr­li­che see­li­sche Un­über­wind­lich­keit sah, die sich über das Fleisch und die Furcht­sam­keit des Flei­sches er­hob, um, wie die al­ten Pro­phe­ten, die Un­ge­rech­tig­keit zu ver­flu­chen.

Le­ach wü­te­te wie ein Wahn­sin­ni­ger. Auf sei­ne Lip­pen trat sei­fi­ger Schaum, und zu­wei­len ging ihm der Atem aus, dass er nur un­ar­ti­ku­lier­te Lau­te her­vor­brin­gen konn­te.

Wäh­rend die­ser gan­zen Zeit stand Wolf Lar­sen ru­hig und un­tä­tig, auf die Ell­bo­gen ge­stützt, da und bil­de­te, wie in tie­fe Neu­gier ver­sun­ken, hin­un­ter.

Je­den Au­gen­blick er­war­te­te ich – und alle mit mir –, dass er sich auf den Jun­gen stür­zen und ihn ver­nich­ten wür­de. Aber in der Lau­ne war er nicht. Sei­ne Zi­gar­re ging aus, und er blick­te wei­ter, stumm und prü­fend. Le­ach hat­te sich in eine wah­re Ek­sta­se ohn­mäch­ti­ger Wut ver­rannt.

»Schwein, Schwei­ne­hund! Schwei­ne­hund!« wie­der­hol­te er im­mer wie­der mit der vol­len Kraft sei­ner Lun­ge. »Wa­rum kommst du nicht her­un­ter und tö­test mich, Mör­der? Tu es doch! Ich fürch­te mich nicht! Nie­mand hin­dert dich! Ver­dammt, lie­ber tot als le­ben­dig und in dei­nen Klau­en! Komm doch, Feig­ling! Töte mich! Töte mich! Töte mich!«

In die­sem Au­gen­blick be­trat Tho­mas Mu­gridge, von sei­ner ru­he­lo­sen See­le ge­trie­ben, den Schau­platz. Er hat­te an der Kom­bü­sen­tür ge­lauscht, kam aber jetzt her­aus, vor­geb­lich, um Ab­fall über Bord zu wer­fen, in Wirk­lich­keit aber, um zu se­hen, wie Le­ach ge­tö­tet wür­de, was er be­stimmt er­war­te­te. Er schmun­zel­te in sei­ner fet­ti­gen Art Wolf Lar­sen zu, der ihn je­doch nicht zu se­hen schi­en. Aber das stör­te den Cock­ney nicht. Er wand­te sich an Le­ach:

»Wel­che Spra­che! Pfui Teu­fel!«

Le­achs Wut war nicht mehr ohn­mäch­tig. Hier war ein Ge­gen­stand, an dem er sie aus­las­sen konn­te. Und dazu war es das ers­te­mal, dass der Koch ohne sein Mes­ser an Deck er­schi­en, seit er Le­ach an­ge­fal­len hat­te. Kaum hat­te er aus­ge­spro­chen, als Le­ach ihn auch schon zu Bo­den schlug. Drei­mal sprang Mu­gridge auf und ver­such­te, die Kom­bü­se zu er­rei­chen, und je­des Mal wur­de er wie­der nie­der­ge­schmet­tert.

»O Gott!« schrie er. »Hil­fe! Hil­fe! Hal­tet ihn, hört ihr, hal­tet ihn!«

Die Jä­ger lach­ten aus rei­ner Er­leich­te­rung. Die Tra­gö­die war vor­bei, jetzt be­gann der Schwank. Die Ma­tro­sen rot­te­ten sich ach­tern kühn zu­sam­men, grins­ten und scho­ben sich im­mer nä­her, um zu se­hen, wie mit dem ver­hass­ten Cock­ney ab­ge­rech­net wur­de. Und selbst ich fühl­te eine große Freu­de in mir auf­stei­gen. Ich ge­ste­he, dass ich mich über die Prü­gel, die Tho­mas Mu­gridge von Le­ach be­kam, freu­te, ob­gleich sie schreck­lich, fast eben­so schreck­lich wa­ren wie die, die Mu­gridge John­son ver­schafft hat­te. Aber in Wolf Lar­sens Ge­sicht än­der­te sich nicht eine Mie­ne. Er än­der­te nicht ein­mal sei­ne Stel­lung, son­dern blick­te wei­ter mit großer Neu­gier her­ab. Trotz all sei­ner un­fehl­ba­ren Ge­wiss­heit schi­en er Spiel und Be­we­gung des Le­bens in der Hoff­nung zu be­ob­ach­ten, et­was Neu­es zu er­fah­ren, in sei­nen tolls­ten Zu­ckun­gen et­was zu fin­den, das ihm bis­her ent­gan­gen war – viel­leicht den Schlüs­sel zu dem Ge­heim­nis, der al­les of­fen­bar­te. Aber die Prü­ge­lei! Sie war ähn­lich der, der ich in der Ka­jü­te bei­ge­wohnt hat­te. Ver­ge­bens such­te der Koch sich ge­gen den ra­sen­den Jun­gen zu weh­ren. Und ver­ge­bens such­te er die schüt­zen­de Kom­bü­se zu er­rei­chen. Er roll­te, kroch, fiel zu ihr hin, wenn er zu Bo­den ge­schla­gen wur­de. Aber ein Schlag folg­te dem an­de­ren mit ver­wir­ren­der Schnel­lig­keit. Wie ein Fe­der­ball wur­de er hin und her ge­pufft, bis er end­lich, hilf­los auf dem Deck lie­gend, wie John­son ge­schla­gen und ge­sto­ßen wur­de. Und kei­ner leg­te sich da­zwi­schen. Le­ach hät­te ihn tö­ten kön­nen, da aber das Maß sei­ner Ra­che of­fen­bar voll war, zog er sich von sei­nem nie­der­ge­streck­ten Fein­de zu­rück, der win­sel­te und jam­mer­te wie ein Hund, und schritt nach der Back.

Aber die­se bei­den Schar­müt­zel wa­ren nur die ein­lei­ten­den Er­eig­nis­se des Ta­ge­s­pro­gramms. Am Nach­mit­tag fie­len Smo­ke und Hen­der­son über ein­an­der her. Schuss auf Schuss knall­te im Zwi­schen­deck, ge­folgt von ei­ner wil­den Flucht der üb­ri­gen vier Jä­ger an Deck. Eine Säu­le dich­ten, schar­fen Schwarz­pul­ver­rau­ches er­hob sich über der Trep­pe, und hin­un­ter durch sie sprang Wolf Lar­sen. Bei­de Män­ner wa­ren ver­wun­det, und jetzt wur­den sie noch dazu von Wolf Lar­sen ver­prü­gelt, weil sie sein Ver­bot über­tre­ten und sich noch vor Be­ginn der Jagd kampf­un­fä­hig ge­macht hat­ten. Sie wa­ren in der Tat recht er­heb­lich ver­wun­det, und als Wolf Lar­sen sie ver­prü­gelt hat­te, ging er als rau­er Wund­arzt dar­an, sie zu be­han­deln und zu ver­bin­den. Ich diente ihm als As­sis­tent, wäh­rend er die Ku­gel­kanä­le son­dier­te und rei­nig­te, und ich sah, wie die bei­den Män­ner sei­ne rohe Be­hand­lung ohne Be­täu­bungs­mit­tel er­tru­gen und sich nur durch ein Glas rei­nen Whis­kys auf­recht hiel­ten.

In der ers­ten Hun­de­wa­che kam es zu ei­ner Schlä­ge­rei im Vor­der-Kas­tel. Ur­sa­che war die An­ge­be­rei, die die Ver­an­las­sung zu John­sons Schlä­gen ge­wor­den war, und aus dem Lärm, den wir hör­ten, und den ver­prü­gel­ten Leu­ten, die wir am nächs­ten Tage sa­hen, er­kann­ten wir, dass of­fen­bar die eine Hälf­te der Be­sat­zung die an­de­re gründ­lich ver­mö­belt hat­te.

In der zwei­ten Hun­de­wa­che wur­de der Tag mit ei­ner Schlacht zwi­schen Jo­han­sen und dem ma­ge­ren, wie ein Yan­kee aus­se­hen­den Jä­ger La­ti­mer be­en­det. Sie wur­de her­bei­ge­führt durch ei­ni­ge Be­mer­kun­gen La­ti­mers über das Schnar­chen des Steu­er­manns im Schla­fe, und ob­wohl Jo­han­sen Prü­gel be­kam, hielt er doch wie­der die Back für den Rest der Nacht wach, wäh­rend er selbst, se­lig schlum­mernd, im Traum den Kampf im­mer wie­der aus­focht.

Ich selbst wur­de von ei­nem Alp ge­plagt. Der gan­ze Tag hat­te ei­nem schreck­li­chen Traum ge­gli­chen. Eine Ro­heit war der an­de­ren ge­folgt, flam­men­de Lei­den­schaft und kalt­blü­ti­ge Grau­sam­keit hat­ten die Leu­te ge­trie­ben, sie zu Be­lei­di­gung, Mord und Tot­schlag an­ge­facht. Mei­ne Ner­ven wa­ren zer­rüt­tet, ja, mei­ne See­le war er­schüt­tert. Mei­ne Tage wa­ren ver­gan­gen, ohne dass ich et­was von der Bes­tia­li­tät der Men­schen ge­ahnt hat­te. In der Tat: Ich hat­te nur die in­tel­lek­tu­el­len Sei­ten des Le­bens ge­kannt. Zwar hat­te ich Bru­ta­li­tät ge­se­hen, aber nur die Bru­ta­li­tät des Geis­tes – Char­ley Fu­ru­seths bei­ßen­den Sar­kas­mus, die grau­sa­men Epi­gram­me und die ge­le­gent­li­chen ro­hen Wit­ze der Stu­den­ten, wie die bos­haf­ten Be­mer­kun­gen der Pro­fes­so­ren in mei­ner Stu­di­en­zeit.

Das war al­les. Aber dass ein Mensch sei­ne Wut an ei­nem an­de­ren aus­las­sen konn­te, in­dem er ihn zu­schan­den schlug und ihm das Blut ab­zapf­te, das war et­was selt­sam und furcht­bar Neu­es für mich. Und mir schi­en, dass ich kei­ne Ah­nung von dem wirk­li­chen Le­ben ge­habt hat­te. Ich lach­te bit­ter und glaub­te in Wolf Lar­sens un­heil­ver­kün­den­der Phi­lo­so­phie eine viel tref­fen­de­re Er­klä­rung für das Le­ben fin­den zu kön­nen als in mei­ner ei­ge­nen.

Und ich er­schrak, als ich mir der Rich­tung mei­ner Ge­dan­ken be­wusst wur­de. Die an­dau­ern­de Ro­heit in mei­ner Um­ge­bung hat­te eine ver­derb­li­che Wir­kung. Sie war auf dem bes­ten Wege, das Schöns­te und Leuch­tends­te im Le­ben für mich zu ver­nich­ten. Die Ver­nunft sag­te mir, dass die Prü­gel, die Tho­mas Mu­gridge er­hal­ten, et­was Bö­ses wa­ren, und den­noch muss­te ich mich bei dem Ge­dan­ken dar­an freu­en. Und trotz­dem die Un­ge­heu­er­lich­keit mei­ner Sün­de mich be­drück­te – denn eine Sün­de war es –, frohlock­te ich in tol­ler Freu­de. Ich war nicht mehr Hum­phrey van Wey­den. Ich war Hump, der Ka­jüts­jun­ge, auf dem Scho­ner ›Ghost‹. Wolf Lar­sen war mein Ka­pi­tän, Tho­mas Mu­gridge und die üb­ri­gen mei­ne Ka­me­ra­den, und der Stem­pel, der ih­nen al­len auf­ge­prägt war, hat­te auch mich ge­zeich­net.