Tasuta

Koste Es Was Es Wolle

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Autor:
Märgi loetuks
Koste Es Was Es Wolle
Koste Es Was Es Wolle
Tasuta audioraamat
Loeb Mike Nelson
Lisateave
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel 12

„Sie haben kein Recht hier zu sein!“, schrie der Mann. „Raus, raus aus meiner Wohnung!“

Sie standen inmitten eines gigantischen offenen Wohnzimmers. Ein kleiner Flügel stand in einer entfernten Ecke, Fenster, die vom Boden fast bis zur Decke reichten, eröffneten eine Aussicht, welche diejenige des Fahrstuhls zuvor sogar noch übertraf. Morgenlicht strömte hinein. Ein weißes Sofa mit dazu passendem Tisch und Designerstühlen bildeten eine Sitzgruppe, die sich vor einem riesigen an der Wand befestigten Flachbildfernseher gruppierte. Auf der gegenüberliegenden Wand hing ein ebenso großes Ölgemälde, drei Meter hoch, bunte Farbklekse und -tupfer wirbelten wild durcheinander. Luke kannte sich etwas mit Kunst aus. Er tippte auf Jackson Pollock.

„Ja, das gleiche Problem hatten wir draußen mit den Jungs auch“, sagte Luke. „Wir sollen nicht hier sein und… sind es doch.“

Der Mann war nicht besonders groß. Er war dick und untersetzt. Er trug einen weißen Plüschrock. Er hielt ein großes Gewehr in der Hand, mit dem er auf sie zielte. Luke tippte auf ein altes Browning Safarigewehr, das wahrscheinlich mit 270 Winchestern geladen wurde. Das Ding würde einen Elch in vierhundert Meter Entfernung erledigen.

Luke bewegte sich zur rechten Seite des Raums Ed zur Linken. Der Mann zielte abwechselnd auf Beide, unsicher auf wen er sich konzentrieren sollte.

„Ali Nassar?“

„Wer sind Sie?“

„Mein Name ist Luke Stone. Das ist Ed Newsam. Wir sind von der Bundespolizei.“

Luke und Ed keilten den Mann immer mehr ein.

„Ich bin Diplomat bei den Vereinten Nationen. Sie haben hier keine Befugnis.“

„Wir wollen Ihnen lediglich ein paar Fragen stellen.“

„Ich habe die Polizei gerufen. Sie wird in ein paar Minuten hier sein.“

„Wenn das so ist, warum nehmen sie dann das Gewehr nicht runter? Hören Sie zu, das ist ein altes Gewehr. Sie können nur einmal feuern. Sie werden keine Zeit haben eine zweite Runde nachzuladen.“

„Dann werde ich Sie erschießen und den anderen leben lassen.“

Er drehte sich zu Luke um. Luke bewegte sich entlang der Wand. Er hielt seine Hände in die Höhe, um zu zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausging. Im Laufe seines Lebens waren so viele Waffen auf ihn gerichtet worden, dass er es schon vor langer Zeit aufgegeben hatte mitzuzählen. Dennoch fühlte er ein Unbehagen. Ali Nassar sah nicht gerade wie ein geübter Schütze aus, aber sollte es ihm gelingen abzufeuern, würde es ein großes Loch in etwas oder jemandem hinterlassen.

„Wenn ich Sie wäre, würde ich den großen Kerl dort drüben umbringen. Denn wenn Sie mich umbringen, dann wollen Sie gar nicht wissen, was er mit ihnen anstellen wird. Er mag mich.“

Nassar blieb dabei. „Nein. Ich werde dich umbringen.“

Ed war bereits bis auf drei Meter an den Mann herangepirscht. Im Bruchteil einer Sekunde überwand er auch diese Distanz. Er stieß den Gewehrlauf in dem Moment nach oben, als Nassar gerade den Abzug betätigte.

BOOM!

Der Knall war in der Begrenztheit der Wohnung überaus laut. Der Schuss hinterließ ein gewaltiges Loch in der Gipsdecke. Ed brauchte nur eine einzige Bewegung, um Nassar das Gewehr zu entreißen, ihm einen Schlag zu verpassen und ihn auf einem der Designerstühle zu platzieren.

„Okay, hinsetzen. Und aufpassen.“

Nassar war durch den Schlag völlig aus der Bahn geworfen. Seine Augen brauchten mehrere Sekunden um wieder in der Mitte anzugelangen. Mit seiner fleischigen Hand tastete er nach dem Striemen, der sich bereits an seinem Kiefer abzuzeichnen begann.

Ed zeigte Luke das Gewehr. „Wo kommt das her?“ Es war verziert, mit mehreren eingelassenen Perlen und einem polierten Gewehrlauf. Noch vor wenigen Minuten hatte es wahrscheinlich irgendwo an einer Wand gehangen.

Luke wendete seine Aufmerksamkeit dem Mann auf dem Stuhl zu. Er fing noch einmal von vorne an.

„Ali Nassar?“

Der Mann schmollte beleidigt vor sich hin. Gleichzeitig sah er verärgert aus, was Luke an seinen Sohn erinnerte. Mit vier Jahren hatte Gunnar häufig auch so dreingeblickt.

Er nickte. „Offensichtlich.“

Luke und Ed mussten schnell handeln und keine Zeit vergeuden.

„Sie können das nicht mit mir machen“, sagte Nassar.

Luke blickte auf seine Uhr. Es war 7 Uhr. Die Polizei konnte jeden Moment hier sein. Sie brachten ihn in das Büro gleich neben dem Wohnzimmer. Sie nahmen ihm seinen Morgenmantel ab. Sie zogen ihm seine Pantoffeln aus. Er trug enge weiße Unterwäsche und sonst nichts darunter. Sein fetter Bauch ragte hervor. Er war fest wie das Fell einer Wirbeltrommel. Sie setzten ihn in einen Sessel und befestigten seine Handgelenke an den Armlehnen und seine Knöchel an den Stuhlbeinen.

Im Büro standen ein Schreibtisch mit einem altmodischen Computer-Tower und Bildschirm. Die CPU-Karte befand sich in einer dicken Stahlkassette, die in dem Steinboden fest verankert war. Es gab keinen sichtbaren Weg, die Kasse zu öffnen, kein Schloss, keine Klappe, nichts. Um an die Festplatte zu kommen, hätten Sie ein Schweißgerät gebraucht. Dafür gab es jedoch keine Zeit.

Luke und Ed schauten auf Nassar herab.

„Sie besitzen ein Nummernkonto bei der Royal Heritage Bank auf der Grand Cayman Insel“, sagte Luke. „Am dritten März haben Sie 250.000 Dollar an einen Mann namens Ken Byrants überwiesen. Ken Byrants wurde letzte Nacht tot aufgefunden,  erwürgt in seiner Wohnung in Harlem.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Sie sind der Auftraggeber eines Mannes mit Namen Ibrahim Abdulraman, der diesen Morgen im Untergeschoss des Center Medical Center gestorben ist. Er wurde durch einen Kopfschuss getötet, während er versucht hatte radioaktives Material zu entwenden.“

Die Ahnung einer Erinnerung huschte über Nassars Gesicht.

„Ich kenne diesen Mann nicht.“

Luke atmete tief durch. Normalerweise hätten wir Stunden, um jemandem etwas zu entlocken. Heute waren es jedoch nur Minuten. Das hieß, dass er wohl etwas würde mogeln müssen.

„Warum ist Ihr Computer auf diese Weise in den Boden eingelassen?“

Nassar zuckte die Schultern. Er begann sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Luke konnte fast sehen, wie es zurückströmte. Der Mann glaubte an sich. Er hielt sich für eine Steinmauer, die niemand zu durchbrechen vermochte.

„Auf dem Computer sind jede Menge vertrauliche Informationen. Ich habe viele Kunden, die mit geistigem Eigentum zu tun haben. Und wie gesagt ich bin als Diplomat für die Vereinten Nationen tätig. In dieser Funktion erhalte ich gelegentlich Nachrichten, die wie soll ich sagen… geheim sind. Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht für meine Diskretion bekannt wäre.“

„Das kann durchaus sein“, sagte Luke. „Aber Sie geben mir jetzt trotzdem das Passwort, damit ich mir selbst ein Bild machen kann.“

„Ich fürchte, dass das nicht möglich sein wird.“

Ed, der hinter Nassar stand, lachte auf. Es klang wie ein Grunzen.

„Sie werden sich wundern, was alles möglich ist“, sagte Luke. „Tatsache ist, dass wir Zugang zu Ihrem Computer kriegen. Und Sie uns das dafür notwendige Passwort geben werden. Nun gibt es einen angenehmen Weg das zu tun und einen unangenehmen. Sie haben die Wahl.“

„Sie werden mir nichts tun“, sagte Nassar. „Sie stecken schon tief genug im Schlamassel.“

Luke blickte zu Ed. Ed ging zu Nassar und kniete sich neben Nassars rechte Seite. Er nahm Nassars rechte Hand in seine starken Hände.

Luke und Ed hatten sich erst letzte Nacht kennengelernt und doch arbeiteten sie schon so zusammen, dass eine verbale Verständigung nicht mehr unbedingt vonnöten war. Es war als würden sie die Gedanken des anderen lesen können. Luke hatte das zuvor schon mehrfach erlebt, gewöhnlich mit Leuten, mit denen er in Einheiten wie Delta zusammengearbeitet hatte. Normalerweise brauchte es mehr Zeit, eine solche Beziehung zu entwickeln.

„Sie spielen doch Klavier, oder?“ fragte Luke.

Nassar nickte. „Vor allem Klassik. Als ich jung war, war ich Konzertpianist. Jetzt spiele ich nur noch für mich selbst zum Spaß.“

Luke beugte sich so weit hinab, dass er mit Nassar auf Augenhöhe war.

„Gleich wird Ed anfangen Ihnen Ihre Finger zu brechen. Klavierspielen wird dann nicht mehr so viel Spaß machen. Und es wird ziemlich weh tun. Ich bin nicht sicher, ob Sie zuvor jemals solche Schmerzen empfunden haben, ich bezweifle es.“

„Das wagen Sie nicht.“

„Ich werde gleich bis drei zählen. Das wird Ihnen ein paar letzte Sekunden geben, um zu entscheiden. Im Gegensatz zu Ihnen warnen wir Leute, bevor wir ihnen wehtun. Wir stehlen kein radioaktives Material, mit dem wir dann versuchen Millionen von Menschen umzubringen. Sie werden dabei noch ganz gut wegkommen im Vergleich zu dem, was Sie vorhaben anderen anzutun. Nach dem ersten Finger werde ich Sie nicht mehr warnen. Ich werde Ed lediglich einen Blick zuwerfen und er wird einen weiteren Finger brechen. Haben Sie das verstanden?“

„Das wird Sie Ihren Job kosten“, sagte Nassar.

„Eins.“

„Sie sind ein kleiner Beamter, der nach Macht lechzt. Sie werden es schwer bereuen, jemals hier hergekommen zu sein.“

„Zwei.“

„Wehe Ihnen.“

„Drei.“

Ed brach den zweiten Knochen von Nassars kleinem Finger. Schnell und ohne große Mühe. Luke hörte es knacken, kurz bevor Nassar einen Schrei ausstieß. Der kleine Finger stand zur Seite ab. Der Winkel, in dem der Finger abstand, wirkte geradezu obszön.

Luke schob seine Hand unter Nassars Kinn und hob einen Kopf nach oben. Nassar biss die Zähne zusammen. Sein Gesicht hatte Flecken und er atmete stoßweise. Aber der Wille in seinem Blick war ungebrochen.

„Das war nur der kleine Finger“, sagte Luke. „Als nächstes käme dann der Daumen. Daumen tun sehr viel mehr weh als kleine Finger. Daumen sind auch wichtiger.“

„Sie sind Barbaren. Ich werde Ihnen gar nichts sagen.“

 

Luke blickte zu Ed. Eds Gesicht war undurchdringlich. Er zuckte die Schultern und brach den Daumen. Dieses Mal war ein lautes Knacken zu hören.

Luke erhob sich und ließ den Mann eine Weile schreien. Das Geschrei war ohrenbetäubend. Er hörte es in der Wohnung widerhallen, wie in einem Horrorfilm. Vielleicht sollten sie in der Küche nach einem Handtuch suchen, aus dem sie ihm einen Knebel drehen konnten.

Er durchsuchte den Raum. Er mochte diese Situationen nicht. Er wusste, dass es Folter war. Aber die Finger des Mannes würden wieder zusammenwachsen. Wenn die Bombe in einer U-Bahn-Station hochginge, würden viele Menschen sterben. Die Überlebenden würden krank. Keiner von ihnen würde wieder gesund werden. Die Finger des Mannes zu brechen oder unzählige Tote in der U-Bahn, diese zwei Möglichkeiten in die Waagschale zu werfen und abzuwägen, erleichterte die Entscheidung.

Nassar kamen die Tränen. Rotz lief ihm aus der Nase. Er atmete wie wild. Es klang wie huh-huh-huh-huh.

„Schau mich an“, sagte Luke.

Der Mann gehorchte ihm. Sein Blick war weicher geworden.

„Wie ich sehe, hat der Daumen Ihre Aufmerksamkeit geweckt. Als nächstes wäre dann der linke Daumen dran. Danach machen wir mit den Zähnen weiter. Ed?“

Ed bewegte sich auf die linke Seite des Mannes.

„Kahlil Gibran“, keuchte Nassar.

„Was sagen Sie? Ich konnte Sie nicht hören.“

„Kahlil Unterstrich Gibran. Das ist das Passwort.“

„Wie der Autor?“, fragte Luke.

„Ja.“

Und was heißt es, mit Liebe zu arbeiten?“, sagte Ed und zitierte Gibran.

Luke grinste. „Es heißt die Kleidung aus den Fasern deines eigenen Herzens zu weben, als wäre es das Kleid deiner Geliebten. Das steht auf unserer Küchenwand zu Hause. Ich liebe diesen Autor. Ich würde sagen, wir sind alle drei hier unheilbare Romantiker.“

Luke ging zum Computer und betätigte mit seinem Finger das Touchpad. Das Passwort-Fenster erschien. Er gab die Worte ein.

Kahlil_Gibran

Der Desktopbildschirm erschien. Das Desktopbild zeigte schneebedeckte Berge hinter gelbgrünen Wiesen.

„Das scheint zu klappen. Danke, Ali.“

Luke zog eine externe Festplatte, die er zuvor von Swann bekommen hatte, aus seiner Hosentasche. Er verband sie mit dem USB Stecker. Die externe Festplatte hatte einen riesigen Speicher. Sie sollte ohne Probleme die Daten des gesamten Computers fassen können. Über die Entschlüsselung konnten sie sich später Sorgen machen.

Der Datentransfer startete. Der Bildschirm zeigte einen leeren horizontalen Balken. Auf der linken Seite begann der Balken sich grün zu färben. Drei Prozent waren grün, vier Prozent, fünf. Unter dem Balken wirbelte ein Sturm aus Dateinamen, der von der Festplatte verschluckt wurde.

Acht Prozent. Neun Prozent.

Im Hauptraum kam plötzlich etwas in Bewegung. Die Eingangstür würde aufgestoßen. „Polizei!“ schrie jemand. „Waffen fallenlassen! Auf den Boden!“

Sie bewegten sich durch die Wohnung, stießen Gegenstände um, stürmten durch Türen. Es klang als wären es viele. Sie würden jede Sekunde hier sein.

„Polizei! Auf den Boden! Auf den Boden! Runter!“

Luke blickte auf den Ladebalken. Er schien bei zwölf Prozent stecken geblieben zu sein.

Nassar schaute zu Luke hinauf. Seine Lider drückten auf seine Augen. Tränen traten aus ihnen. Seine Lippen bebten. Sein Gesicht war rot und sein sonst fast nackter Körper war schweißnass. Sein Blick war weder siegessicher noch triumphierend.

Kapitel 13

7.05 Uhr

Baltimore, Maryland – Südlich vom Fort McHenry Tunnel

Eldrick Thomas schreckte aus einem Traum hoch.

In dem Traum befand er sich in einer Hütte hoch in den Bergen. Die Luft war sauber und kühl. Er wusste, dass er träumte, denn er war zuvor noch nie in einer Berghütte gewesen. Es gab eine Feuerstelle, in der auch ein Feuer brannte. Das Feuer war warm und er hielt  seine Hände über die wärmenden Flammen. Im Raum nebenan konnte er die Stimme seiner Großmutter hören. Sie sang ein altes Kirchenlied. Sie hatte eine schöne Stimme.

Er öffnete seine Augen, es war Tag.

Ihm tat alles weh. Er berührte seine Brust. Sie war klebrig vom Blut jedoch hatten die Gewehrschüsse ihn nicht umgebracht. Die Strahlung machte sich bemerkbar. Er erinnerte sich daran. Er blickte sich um. Er lag im Matsch und war umgeben von dicken Büschen. Auf seiner Linken war eine große Wasserstelle, ein Fluss oder Hafen. Er konnte einen Highway in der Nähe hören.

Ezatullah war hinter ihm her gewesen. Aber das… war lange her. Ezatullah war wahrscheinlich längst weg.

„Komm schon, Mann“, krächzte er. „Du musst dich aufraffen.“

Es wäre leicht gewesen, einfach hier zu bleiben. Aber dann würde er sterben. Er wollte nicht sterben. Er wollte kein Dschihadist mehr sein. Er wollte einfach leben. Auch wenn er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen würde, hätte er das gewollt. Gefängnis war okay. Er hatte dort viel Lebenszeit verbracht. Es war gar nicht so schlimm, wie die Leute immer meinten.

Er versuchte aufzustehen, aber er konnte seine Beine nicht fühlen. Das Gefühl war weg. Er rollte sich auf seinen Bauch. Der Schmerz traf ihn wie ein Stromschlag. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Zeit verging. Nach einer Weile wachte er wieder auf. Er war noch immer hier.

Er begann auf dem Boden entlang zu robben, seine Hände zogen ihn durch Dreck und Schmutz nach vorne. Er schleppte sich den Hügel hinauf, der Hügel, von dem er letzte Nacht gerollt war, der ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Er weinte vor Schmerzen, aber er machte weiter. Er scherte sich nicht um den Schmerz, er versuchte einfach nur den Berg hochzukommen.

Eine ganze Weile verstrich. Er lang mit dem Gesicht nach unten im Matsch. Das Gebüsch hier war ein wenig dichter. Er schaute sich um. Er war jetzt oberhalb des Flusses. Das Loch im Zaun war genau vor ihm. Er kroch darauf zu.

Er blieb am unteren Rand des Zauns hängen, während er versuchte sich durch das Loch zu ziehen. Er schrie auf.

Zwei alte schwarze Männer saßen auf weißen Eimern nicht weit von ihm entfernt. Eldrick sah sie ganz klar. Er hatte noch nie zuvor so klar gesehen. Sie hatten Angelruten, Angelkisten und einen großen weißen Eimer. Sie hatten einen großen blauen Kühlwagen auf Rädern. Sie hatten weiße Papiertüten mit McDonald’s Frühstück in Styropor-Boxen. Hinter ihnen stand ein altes verrostetes Oldsmobile.

Ihr Leben wirkte wie das Paradies.

Gott, bitte lass mich sie sein.

Er schrie und die Männer eilten zu ihm herüber.

„Fassen Sie mich nicht an!“ sagte er. „Ich bin kontaminiert.“

Kapitel 14

7.09 Uhr

Weißes Haus – Washington, DC

Thomas Hayes, Präsident der Vereinigten Staaten, stand in langer Hose und langem Hemd in der Familienküche des Weißen Hauses. Er schälte eine Banane und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief. Wenn er alleine war, genoss er es hierherzukommen und sich selbst das Frühstück zu machen. Er hatte sich noch nicht einmal seine Krawatte umgebunden. Er war barfuß. Dunkle Gedanken quälten ihn.

Diese Leute verschlingen mich bei lebendigem Leibe.

Er versuchte solche Gedankengänge zu vermeiden, doch drängten sie sich in letzter Zeit immer mehr auf. Früher war er einmal der größte Optimist gewesen, den er kannte. Er war immer und überall der Beste unter den Besten gewesen. Er hatte die Ansprache bei der Zeugnisvergabe auf der High School gehalten, er war Kapitän des Ruderclubs gewesen, Präsident der Schülervertretung. Er hatte mit summa cum laude sein Studium in Yale abgeschlossen, mit summa cum laude in Stanford. Er war Fulbright Stipendiat gewesen. Präsident des Senats von Pennsylvania. Gouverneur von Pennsylvania.

Er hatte geglaubt, für jedes Problem eine Lösung finden zu können. Er hatte immer an die Wirkungsmacht seiner Führung geglaubt. Er hatte zudem immer an das Gute im Menschen geglaubt. Alle diese Glaubenssätze waren zerbrochen. Fünf Jahre im Amt hatten ihn den letzten Optimismus gekostet.

Er hatte kein Problem mit den langen Arbeitsstunden. Die Verschiedenheit der Abteilungen war kein Problem für ihn, genauso wenig wie die ausschweifende Bürokratie. Bis vor kurzem hatte es keinerlei größere Verstimmungen zwischen ihm und dem Pentagon gegeben. Er konnte mit dem Geheimdienst, der ihn vierundzwanzig Stunden umgab und jeden Bereich seines Alltags begleitete, leben.

Er konnte auch mit den Medien und ihren scharfzüngigen Angriffen auf ihn umgehen. Er ertrug ihre Lästereien über sein Aufwachsen in der Oberschicht und den Ruf eines Salonkommunisten, der angeblich jeden Draht zum gemeinen Bürger vermissen ließ. Das Problem waren nicht die Medien.

Das Problem war das Repräsentantenhaus. Sie verhielten sich wie ein Kindergarten. Sie waren ein Haufen Schwachsinniger. Sie waren Sadisten. Sie waren ein Mob aus Vandalen, der es darauf anlegte, ihn auseinanderzunehmen und ihn Stück um Stück seiner Macht zu berauben. Das Haus war wie eine Schülerversammlung der Realschule, aber eine in der die straffälligsten Schüler der Schule den Vorsitz hatten.

Die durchschnittlichen Republikaner waren eine randalierende Horde mittelalterlicher Barbaren und die Mitglieder der Tea Party bombenwerfende Anarchisten. Unterdessen machte der Sprecher der Minderheitenfraktion des Hauses keinen Hehl daraus, dass er ein Auge auf das Amt des Präsidenten geworfen hatte und er dafür bereit war, den derzeitigen Präsidenten ohne mit der Wimper zu zucken, abzusägen. Der konservative Flügel der Demokraten war ein Bündel heuchlerischer Verräter – in der einen Sekunde händeschüttelnde Eidesgenossen, in der nächsten wütende weiße Männer, die gegen Araber und Migranten und innerstädtische Kriminalität wetterten. Thomas Hayes wachte jeden Morgen auf, wissend, dass der Kreis seiner Freunde und Verbündeten mit jeder Stunde kleiner und kleiner wurde.

„Hörst du mir zu, Thomas?“

Hayes schaute hoch.

David Halstram, sein Stabschef, stand vor ihm in voller Montur und blickte ihn auf gewohnte Art und Weise an – aufnahmebereit, energetisch, wach, mit Kampfansage und bereit zu allem. David war vierunddreißig und er arbeitete erst seit neun Monaten in seinem Job. Gib ihm Zeit.

„Wann kam das raus?“ fragte Hayes.

„Vor etwa zwanzig Minuten,“ sagte David. „Es läuft schon auf allen Social Media hoch und runter, die Fernsehkanäle schlagen sich um die besten Kommentatoren für ihre 8 Uhr Nachrichten. Es ist ein Selbstläufer. Wir befinden uns gerade nicht in der besten Position zwischen dem Sprecher des Repräsentantenhauses Ryan, dem Irandebakel und den Terroristen in New York.“

Hayes ballte seine Hand zur Faust. Er hatte genau zwei Personen in seinem Leben eine verpasst. Beides war lange her, als er noch zur Schule ging. Gerade hatte er das Bedürfnis diesem erlesenen Club eine dritte Person namentlich Bill Ryan hinzuzufügen.

„Wir hatten uns für morgen zum Mittagessen verabredet,“ sagte er. „Ich dachte, das könnte eine Annäherung bedeuten. Nicht, dass wir alles bei einem Treffen hätten aushandeln können, aber....“

David tat die Idee mit einer Handbewegung ab. „Er hat uns auf dem linken Fuß erwischt. Du musst zugeben, dass das ein sehr gewiefter Zug war. Im Prinzip versucht er ein Amtsenthebungsverfahren in die Gänge zu bringen, denn du wirst es ablehnen, einen Dritten Weltkrieg anzufangen. Und er trifft sich mit einem netten Journalisten von einer Plattform wie Newsmax, wo es keinen kritischen Kommentar geben wird, keinerlei Kritik in dem Artikel selbst und die ganze konservative Propagandamaschine läuft im Internet wie von selbst, ohne dass nur ein Wort hinzugesetzt wird. Sie entwickelt jetzt schon ein Eigenleben. Wir müssen uns hingegen wie Erwachsene verhalten. Wir müssen eine Pressekonferenz geben, um uns zu den drohenden Terrorattacken und eventuellen Verstrickungen des Iran zu äußern. Wir müssen uns Fragen gefallen lassen, ob es einen Zuwachs an Stimmen für deine Amtsenthebung gibt und was wir unternehmen werden, um die Sicherung von radioaktivem Material im gesamten Land zu gewährleisten.“

„Was sollen wir tun?“

„Wegen des radioaktiven Materials?“

„Ja.“

David zuckte die Schultern. „Das hängt davon ab. Die Richtlinien besagen, dass radioaktiver Abfall sicher gelagert werden muss, das jedoch ist nicht immer der Fall. Für die meisten Fälle wahrscheinlich schon. Einrichtungen wie das Center Medical Center wissen im Übrigen wie man damit umgeht und wo es ein sicheres Endlager findet. Aber sogar sie transportieren das Zeug auf öffentlichen Straßen in unbewachten Trucks. Dann gibt es da noch Krankenhäuser, die ihren radioaktiven Müll zusammen mit anderen biologisch bedenklichen Stoffen lagern. Andere Krankenhäuser vor allem im Süden entsorgen ihn sogar zusammen mit dem Normalmüll. Ich mache keine Witze. Und fang gar nicht erst mit den Atomkraftwerken an. Ursprünglich sollten alle ausgedienten Kernbrennstäbe zu speziellen Lagern überführt werden, das war jedoch nie der Fall. Diese Lager sind nie gebaut worden. Der Großteil dieser Stäbe wird seit den Siebzigern vor Ort bei den Reaktoren, für die sie in Benutzung waren, gelagert. Und es gibt Belege, dass fast neunzig Prozent der Reaktoren des Landes undicht sind und das benachbarte Grundwasser verseuchen.“

 

Präsident Hayes blickte zu seinem Stabschef. „Warum weiß ich davon nichts?“

„Theoretisch weißt du davon. Du wurdest davon unterrichtet, aber das hatte nie besondere Priorität.“

„Wann wurde ich davon unterrichtet?“

„Willst du ein genaues Datum haben?“

„Ich will das Datum, Personal und Inhalt dieser Unterrichtung. Ja.“

David ließ resigniert die Schultern sinken. Er überlegte kurz. „Thomas, das kann ich machen. Aber dann was? Wirst du das Briefing der Aufsichtsbehörde für Kernenergie von vor drei Jahren noch einmal lesen? Ich glaube, wir haben uns um Wichtigeres zu kümmern. Wir haben hier eine sich abzeichnende Krise im Nahen Osten und die Kriegshetze in den Medien und im Kongress. Wir haben uns um das gestohlene radioaktive Material zu kümmern und um eine potentielle Terrorattacke in New York City. Wir verlieren Boden in unserer eigenen Partei. Sie könnten heute Nachmittag im großen Stil zur anderen Seite überlaufen. Und der zweitmächtigste Mann in Washington hat gerade deine Amtsenthebung angeraten. Wir befinden uns auf einer Insel und das Wasser steigt. Wir müssen handeln und zwar jetzt.“

Hayes hatte sich noch nie so verloren gefühlt. Es war ihm alles zu viel. Seine Frau und seine Tochter waren im Urlaub auf Hawaii. Die hatten es gut. Er wünschte sich auch dort zu sein.

Was wäre er nur ohne den Lebensretter in Seenot David Halstram.

„Was sollen wir tun?“

„Wir werden uns verteidigen“, sagte David. „Noch steht dein Kabinett hinter dir. Ich habe mir erlaubt, ein Meeting für heute Morgen einzuberufen. Wir werden alle klugen Köpfe zusammentrommeln und geschlossene Front demonstrieren. Kate Hoelscher vom Finanzministerium. Marcus Jones vom Außenministerium. Dave Delliger vom Verteidigungsministerium kann aus offensichtlichen Gründen nicht dabei sein, wird aber auf einer sicheren Leitung dazugeschaltet. Und Susan Hopkins ist auf dem Weg von der Westküste.“

„Susan“, begann Hayes.

Der Name kam ihm nur schwer über die Lippen. Seit mehr als fünf Jahren versuchte er alles in seiner Macht Stehende, um sich von seiner Vizekandidatin und Vizepräsidentin fernzuhalten. Die ganze Situation war zu unangenehm. Sie hatte ihre Karriere als Model gestartet. Als sie ihre Karriere mit vierundzwanzig beendet hatte, hatte sie einen Milliardär aus der Technologiebranche geheiratet. Als ihre Kinder das Schulalter erreicht hatten, hatte sie sich mit dem Geld ihres Mannes in die Politik geworfen.

Die Leute mochten sie, weil sie gut aussah. Sie war für eine Frau mittleren Alters gesund und in Form geblieben, war enthusiastisch. Ein Frauenmagazin hatte sie kürzlich beim Joggen in knall orangener Yogahose und Tank Top fotografiert. Sie war eine passable Rednerin. Unaufhaltsam nahm sie an Kochwettbewerben und Eröffnungsfeiern teil. Ihr war viel daran gelegen das Bewusstsein für Übergewicht in der Kindheit und das für Brustkrebs zu stärken (als ob das den Leuten nicht schon bewusst genug wäre). Darüber hinaus engagierte sie sich für Programme, die sich die Ideologie lebenslanger Fitness auf die Fahne geschrieben hatten.

Eine Möchtegern Eleanor Roosevelt.

David hob die Hand. „Ich weiß, ich weiß. Du denkst, dass Susan nichts taugt, aber du hast ihr nie eine wirkliche Chance gegeben. Sie war zwei Amtszeiten Senatorin von Kalifornien, Thomas. Sie ist die erste weibliche Vize-Präsidentin in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Das sind keine kleinen Errungenschaften. Sie ist klug und kann gut mit Menschen. Und das Wichtigste, sie ist auf deiner Seite. Du kannst momentan jeden gebrauchen und ich glaube, sie kann dir dabei helfen.“

„Was könnte sie schon ausrichten? Das hier ist kein Schönheitswettbewerb.“

David zuckte mit den Schultern. „Deine letzten Umfragewerte lagen bei 12%. Das war vor drei Tagen, noch vor dem letzten Desaster. Nächste Woche könnte es einstellig sein. Deinem Lieblingsfeind Bill Ryan ergeht es nicht viel besser. Er liegt bei 17%, vor allem, weil er es nicht geschafft hat die Kriegserklärung durchzubringen. Er wird wahrscheinlich vorübergehenden Zuwachs verzeichnen, weil er dir mit Amtsenthebung gedroht hat.“

„Okay, die Leute sind mit der Regierung unzufrieden.“

David hob den Finger. „Das trifft größtenteils zu. Mit Ausnahme von Susan. Die Irangeschichte hat ihr nicht geschadet. Ihr Wert liegt bei 62% und sie hat die breite Zustimmung aller Frauen, die religiöse Rechte ausgenommen. Männer aus dem liberalen und unabhängigen Lager lieben sie. Sie ist die beliebteste Politikerin Amerikas und es ist durchaus möglich, dass das auf dich abstrahlen könnte.“

„Wie soll das gehen?“

„Indem sie hier mit dir im Weißen Haus in wichtigen Themen, die das Land betreffen zusammenarbeitet und mit dir fotografiert wird. Indem sie sich mit dir in der Öffentlichkeit zeigt und dabei zu dir als Führungsfigur wie zu einem Helden aufsieht.“

„Um Himmels willen, David.“

„Es wäre ein Fehler, es nicht so zu machen, Thomas. Hier stehen wir nun einmal. Ich habe mit ihr am Telefon gesprochen, kurz bevor ich reinkam. Sie weiß, was auf dem Spiel steht, und sie ist zu genau diesen Dingen bereit. Sie wird das, was sie öffentlich sagt, an uns anpassen und in den Talkshows und auf dem Land damit überzeugen.“

Hayes strich sich über das Kinn. „Ich muss mir noch überlegen, ob ich das wirklich will.“

David schüttelte den Kopf. „Dafür ist es zu spät. Wir brauchen Susan und wenn ich ehrlich sein soll, dann hast du sie bisher nicht besonders gut behandelt. Ernsthaft, du solltest froh sein, dass sie überhaupt noch gewillt ist mit dir zu sprechen.“