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KAPITEL ZWEI

Reid hob seinen Arm in die Luft, wie ein Lotse, der den Verkehr anhielt.

„Alles in Ordnung, Mr. Thompson“, rief er. „Es ist nur Pizza.“

Der ältere Mann mit gräulichem Kurzhaarschnitt und rundem Bauch, der sich in seinem Vorgarten befand, blieb plötzlich stehen. Der Pizzalieferant schaute über seine Schulter und zeigte zum ersten Mal eine Emotion – seine Augen weiteten sich vor Schock, als er die Waffe und die Hand, die darauf ruhte, sah.

„Sind Sie sich sicher, Reid?“ Mr. Thompson musterte den Pizzalieferanten misstrauisch.

„Ich bin mir sicher.“

Der Lieferant zog langsam eine Quittung aus seiner Hosentasche. „Ähm, das macht achtzehn Dollar“, sagte er verwirrt.

Reid gab ihm einen Zwanziger und noch einen Zehner und nahm ihm die Pizzakartons ab. „Behalten Sie das Wechselgeld.“

Das musste er dem Pizzamann nicht zweimal sagen. Er rannte zurück zu seinem wartenden Auto, sprang hinein und düste davon. Mr. Thompson sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach.

„Danke, Mr. Thompson“, sagte Reid. „Aber es ist bloß Pizza.“

„Ich mochte den Kerl nicht“, knurrte sein Nachbar. Reid konnte den älteren Mann gut leiden – obwohl er der Meinung war, dass Thompson seine Rolle, ein wachsames Auge auf die Lawson-Familie zu haben, etwas zu ernst nahm. Trotzdem hatte Reid lieber jemanden in der Nähe, der etwas übereifrig war, als jemanden, der seine Pflichten vernachlässigte.

„Man kann nie vorsichtig genug sein“, fügte Thompson hinzu. „Wie geht es den Mädchen?“

„Es geht ihnen gut.“ Reid lächelte freundlich. „Aber, ähm … müssen Sie die immer so offensichtlich mit sich herumtragen?“ Er deutete auf die Smith & Wesson an Thompsons Hüfte.

Der ältere Mann sah ihn verwirrt an. „Nun, ja … ja. Meine KWK ist abgelaufen und Virginia ist ein legaler Open-Carry-Staat.“

„… richtig.“ Reid zwang sich zu einem weiteren Lächeln. „Sicher. Nochmals vielen Dank Mr. Thompson. Ich werde Sie wissen lassen, wenn wir etwas brauchen.“

Thompson nickte und trottete dann zurück über den Rasen zu seinem eigenen Haus. Deputy Director Cartwright hatte Reid versichert, dass der ältere Mann durchaus kompetent sei; Thompson war ein pensionierter CIA-Agent, und obwohl er seit mehr als zwei Jahrzehnte nicht mehr im Dienst war, war er offensichtlich froh – wenn nicht sogar begierig darauf – wieder nützlich sein zu können.

Reid seufzte und zog die Tür hinter sich zu. Er schloss sie ab und schaltete den Alarm wieder an (was zu einem Ritual geworden war, jedes Mal, wenn er die Tür öffnete und wieder schloss) und wandte sich dann an Maya, die hinter ihm im Flur stand.

„Worum ging es denn da gerade?“, fragte sie.

„Oh nichts. Mr. Thompson wollte nur ‚Hallo’ sagen.“

Maya verschränkte ihre Arme. „Und ich dachte, wir hätten so gute Fortschritte gemacht.“

„Sei nicht albern“, spottete Reid. „Mr. Thompson ist bloß ein harmloser alter Mann –“

„Harmlos? Er trägt stets eine Waffe mit sich herum“, protestierte Maya. „Und glaube ja nicht, dass ich nicht sehe, wie er uns von seinem Fenster aus beobachtet. Es ist so, als würde er uns ausspionieren –“ Ihr Mund öffnete sich ein wenig. „Oh mein Gott, weiß er über uns Bescheid? Ist Mr. Thompson auch ein Spion?“

„Meine Güte Maya, ich bin kein Spion …“

Eigentlich, dachte er zu sich, ist das genau, was du bist …

„Ich glaube es nicht!“, rief sie. „Ist das der Grund dafür, warum er auf uns aufpasst, wenn du unterwegs bist?“

„Ja“, gab er leise zu. Er musste ihr nichts von den Wahrheiten erzählen, nach denen sie nicht fragte, aber es machte auch keinen Sinn, Dinge vor ihr zu verbergen, die sie schon richtig vermutete.

Er erwartete, dass sie wütend wurde und wieder mit Anschuldigungen um sich schlagen würde, doch stattdessen schüttelte sie den Kopf und murmelte: „Unglaublich. Mein Dad ist ein Spion und unser verrückter Nachbar ist ein Bodyguard.“ Dann fiel sie ihm, zu seiner Überraschung, um den Hals und schlug ihm dabei fast die Pizzakartons aus dem Arm. „Ich weiß, du kannst mir nicht alles sagen. Alles, was ich wollte, war ein kleines Stück Wahrheit.“

„Ja, ja“, murmelte er. „Ich riskiere schließlich nur die internationale Sicherheit, um ein guter Vater zu sein. Jetzt geh und wecke deine Schwester auf, bevor die Pizza kalt wird. Und Maya? Kein Wort davon zu Sara.“

Er ging in die Küche, holte ein paar Teller und Servietten, und schenkte drei Gläser Limonade ein. Ein paar Augenblicke später schlurfte Sara in die Küche und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Hi, Daddy“, murmelte sie.

„Hallo Liebling. Setz dich. Schläfst du okay?“

„Hmm“, murmelte sie vage. Sara nahm ein Stück Pizza, biss die Spitze ab und kaute langsam und träge.

Er machte sich Sorgen um sie, aber er versuchte, es nicht zu zeigen. Stattdessen schnappte er sich ein Stück Schinken-Paprika-Pizza. Es war auf halbem Weg zu seinem Mund, als Maya dazwischen ging und es ihm aus der Hand nahm.

„Was glaubst du, was du da machst?“, fragte sie.

„… essen? Oder zumindest versuche ich das.“

„Ähm nein. Du hast ein Date, erinnerst du dich?

„Was? Nein, das ist morgen …“ Er verstummte verunsichert. „Oh Gott, das ist heute, nicht wahr?“ Er schlug sich beinahe gegen die Stirn.

„Stimmt genau“, sagte Maya mit einem vollen Mund Pizza.

„Es ist außerdem kein Date, sondern ein Abendessen mit einer Freundin.“

Maya zuckte mit den Schultern. „Gut. Aber wenn du dich nicht beeilst, wirst du zu deinem ‚Abendessen mit einer Freundin’ zu spät kommen.“

Er schaute auf seine Uhr. Sie hatte recht; er sollte Maria um fünf treffen.

„Mach schnell. Geh und zieh dich um.“ Sie scheuchte ihn aus der Küche und er eilte die Treppe hinauf.

Bei allem, was vor sich ging, und seinen ständigen Versuchen, seinen eigenen Gedanken zu entfliehen, hatte er fast das Versprechen vergessen, sich mit Maria zu treffen. In den letzten paar Wochen hatte es mehrere halbherzige Versuche gegeben, sich zu treffen, die aber immer daran scheiterten, dass einem von ihnen etwas dazwischengekommen war. Wenn er ehrlich mit sich war, war er es immer gewesen, der einen Vorwand hatte. Maria schien es endlich sattzuhaben und plante nicht nur das Treffen, sondern suchte auch einen Ort aus, der auf halbem Weg zwischen Alexandria und Baltimore lag, wo sie wohnte. Er musste ihr allerdings versprechen, dass er sich tatsächlich die Zeit nehmen würde, sie zu sehen.

Er vermisste sie. Er vermisste es, in ihrer Nähe zu sein. Sie waren nicht nur Arbeitskollegen gewesen; es gab eine Vorgeschichte zwischen ihnen, aber Reid konnte sich an den Großteil davon nicht erinnern. Tatsächlich erinnerte er sich an kaum etwas. Alles, was er wusste, war, dass er ein besonders Gefühl bekam, wenn er in ihrer Nähe war. So, als wäre er ihr wichtig – als wäre er mit einer Freundin zusammen, der er vertrauen konnte und vielleicht sogar mehr als das.

Er ging zum Kleiderschrank und entschied sich für ein Outfit, das er für angemessen hielt. Er mochte den klassischen Style, obwohl er sich bewusst war, dass seine Garderobe ihn wahrscheinlich mindestens ein Jahrzehnt älter aussehen ließ als er es war. Er zog eine Bundfaltenhose, ein kariertes Hemd und eine Tweed-Jacke mit Lederflicken auf den Ellbogen an.

Das willst du anziehen?“, fragte Maya und erschreckte ihn. Sie lehnte im Türrahmen seiner Schlafzimmertür und kaute nebenbei auf einer Pizzakruste.

„Was stimmt damit nicht?“

„Was damit nicht stimmt, ist, dass du aussiehst, als seist du gerade einem Klassenzimmer entsprungen. Komm schon.“ Sie griff nach seinem Arm, zog ihn zurück zum Schrank und begann, in seiner Kleidung zu wühlen. „Meine Güte, Dad. Du ziehst dich an, als seist du achtzig …“

„Was war das?“

„Nichts!“, rief sie. „Aha. Hier.“ Sie zog ein schwarzes Sakko heraus – das Einzige, was er besaß. „Zieh das an, mit etwas Grauem darunter. Oder etwas Weißem. Ein T-Shirt oder ein Poloshirt. Und zieh die Dad-Hose aus und lieber eine Jeans an. Eine dunkle. Enganliegende.“

Er hörte auf seine Tochter und zog sich um, während sie im Flur wartete. Vermutlich musste er sich an diesen bizarren Rollentausch gewöhnen, dachte er. In einem Moment war er der überfürsorgliche Vater gewesen; und im Nächsten gab er den Anweisungen seiner herausfordernden und klugen Tochter nach.

„Viel besser“, sagte Maya, als er wiederauftauchte. „Du siehst fast so aus, als wärst du bereit für ein Date.“

„Danke“, sagte er. „Und es ist kein Date.“

„Das hast du bereits mehrfach gesagt. Aber du gehst mit einer mysteriösen Frau zum Abendessen und auf ein paar Drinks aus, von der du behauptest, dass sie eine alte Freundin sei, obwohl du sie noch nie zuvor erwähnt hast und wir sie noch nie getroffen haben …“

„Sie ist eine alte Bekannte –“

„Und ich möchte hinzufügen“, sagte Maya über ihn hinweg, „dass sie ziemlich attraktiv ist. Wir haben sie gesehen, als sie aus dem Flugzeug in Dulles stieg. Wenn also einer von euch beiden nach etwas mehr sucht, als nur nach ‚alten Freunden’, dann ist dies ein Date.“

„Großer Gott, du und ich werden nicht über so etwas reden.“ Reid zuckte zusammen. In seinem Kopf verfiel er jedoch in leichte Panik. Sie hat recht. Es ist ein Date. Er hatte in letzter Zeit so viele mentale Verrenkungen gemacht, dass er nicht lange genug darüber nachgedacht hatte, was ein Abendessen und Drinks wirklich für ein Paar alleinstehender Erwachsene bedeutete. „Gut“, gab er zu, „lass uns davon ausgehen, es wäre ein Date. Ähm … was muss ich machen?“

„Das fragst du mich? Ich bin nicht gerade eine Expertin.“ Maya grinste. „Unterhaltet euch. Lerne sie besser kennen. Und bitte, gib dein Bestes, interessant zu wirken.“

Reid lachte und schüttelte spöttisch seinen Kopf. „Entschuldige bitte, aber ich bin superinteressant. Wie viele Leute kennst du, die eine vollständige, mündliche Präsentation der Bulavin-Rebellion geben können?“

 

„Nur einen.“ Maya verdrehte die Augen. „Und gib dieser Frau bitte keine vollständige, mündliche Präsentation der Bulavin-Rebellion.“

Reid lachte und umarmte seine Tochter.

„Alles wird gut “, versicherte sie ihm.

„Bei euch auch“, sagte er. „Ich werde Mr. Thompson anrufen und ihn bitten, für eine Weile vorbeizukommen …“

„Dad, nein!“ Maya löste sich aus seiner Umarmung. „Komm schon. Ich bin sechzehn. Ich kann Sara ein paar Stunden lang allein beaufsichtigen.“

„Maya, du weißt, wie wichtig es mir ist, dass ihr zwei nicht alleine seid –“

„Dad, er riecht nach Motorenöl und alles, worüber er reden möchte, sind ‚die guten alten Zeiten’ bei der Marine“, sagte sie verärgert. „Es wird nichts passieren. Wir werden Pizza essen und einen Film gucken. Sara wird im Bett sein, bevor du zurückkommst. Wir kommen schon klar.“

„Ich denke trotzdem, dass Mr. Thompson kommen sollte, um –“

„Er kann uns wie gewohnt durch sein Fenster beobachten. Wir werden klarkommen. Das verspreche ich dir. Wir haben eine zuverlässige Alarmanlage und Sicherheitsriegel an allen Türen und ich weiß, dass du eine Waffe neben der Eingangstür hast und –“

„Maya!“, stieß Reid hervor. Woher wusste sie das? „Fass die bloß nicht an, hörst du?“

„Ich werde sie nicht anfassen“, sagte sie. „Ich sage ja nur. Ich weiß, dass sie da ist. Bitte. Lass mich beweisen, dass ich das kann.“

Reid mochte die Vorstellung ganz und gar nicht, dass die Mädchen alleine im Haus blieben, aber sie bettelte ihn förmlich an. „Erkläre mir den Fluchtplan“, sagte er.

„Das ganze Ding?!“, protestierte sie.

„Das ganze Ding.“

„Also gut.“ Sie warf ihr Haar über eine Schulter, wie sie es oft tat, wenn sie genervt war. Sie rollte ihren Blick zur Decke, während sie monoton den Plan wiederholte, den Reid kurz nach ihrer Ankunft im neuen Haus in Kraft gesetzt hatte. „Wenn jemand zur Haustür kommt, muss ich zuerst sicherstellen, dass der Alarm eingeschaltet ist, und dass die Verriegelungen und die Kette an der Tür verschlossen sind. Dann prüfe ich durch den Spion, ob es jemand ist, den ich kenne. Wenn nicht, rufe ich Mr. Thompson an und lasse ihn zuerst nachforschen.“

„Und wenn doch?“, forderte er.

„Wenn es jemand ist, den ich kenne“, sprach Maya weiter, „dann sehe ich am Seitenfenster nach, ob jemand anderes dabei ist. Und wenn es so ist, rufe ich Mr. Thompson an, um nachzuschauen.“

„Und wenn jemand versucht, gewaltsam einzudringen?“

„Dann gehen wir hinunter in den Keller und den Trainingsraum“, sagte sie. Eine der ersten Renovierungsarbeiten, die Reid nach ihrem Einzug vorgenommen hatte, bestand darin, die Tür zu dem kleinen Raum im Untergeschoss durch eine Tür mit Stahlkern zu ersetzen. Sie hatte drei schwere Riegel und Scharniere aus Aluminiumlegierungen. Sie war kugelsicher und feuerfest und der CIA-Techniker, der sie eingebaut hatte, behauptete, man bräuchte ein dutzend Sondereinsatz-Rammböcke, um dort durchzukommen. Der kleine Fitnessraum wurde dadurch zu einem behelfsmäßigen Panikraum.

„Und dann?“, fragte er.

„Dann rufen wir zuerst Mr. Thompson an“, sagte sie. „Und dann Eins-Eins-Null. Wenn wir unsere Handys vergessen haben oder nicht an sie rankommen, dann gibt es im Keller ein Festnetztelefon, in dem seine Nummer eingespeichert ist.“

„Und wenn jemand einbricht und ihr nicht in den Keller kommt?“

„Dann gehen wir zum nächsten verfügbaren Ausgang“, leierte Maya weiter. „Sobald wir draußen sind, machen wir so viel Lärm wie möglich.“

Thompson war eine Menge Dinge, aber schwerhörig war er nicht. Eines Abends hatten Reid und die Mädchen den Fernseher zu laut gestellt, als sie einen Actionfilm sahen und Thompson war hinübergerannt, als er ein Geräusch gehört hatte, das er für unterdrückte Schüsse hielt.

„Aber wir sollten immer unsere Handys bei uns haben, nur für den Fall, dass wir einen Anruf tätigen müssen, sobald wir uns an einen sicheren Ort begeben haben.“

Reid nickte zustimmend. Sie hatte den gesamten Plan wiederholt – bis auf einen kleinen und doch entscheidenden Teil. „Du hast etwas vergessen.“

„Nein, das habe ich nicht.“ Sie runzelte die Stirn.

„Sobald ihr an einem sicheren Ort seid und nachdem ihr Thompson und die Behörden angerufen habt, …?“

„Oh, richtig. Dann rufen wir dich sofort an und erzählen dir, was passiert ist.“

„Okay.“

„Okay?“ Maya hob eine Augenbraue. „Meinst du mit okay, dass du uns ausnahmsweise einmal alleinlassen wirst?“

Er mochte den Gedanken immer noch nicht. Aber es war nur für ein paar Stunden und Thompson war gleich nebenan. „Ja“, sagte er endlich.

Maya atmete erleichtert auf. “Danke. Alles wird gut, ich schwöre es.“ Sie umarmte ihn noch einmal kurz. Als sie sich umdrehte, um wieder nach unten zu gehen, fiel ihr noch etwas anderes ein. „Kann ich dir nur noch eine Frage stellen?“

„Sicher. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich sie beantworten werde.“

„Wirst du wieder anfangen … zu reisen?“

„Oh.“ Schon wieder war er von ihrer Frage überrascht. Die CIA hatte ihm seinen alten Job wieder angeboten – tatsächlich hatte der Direktor der National Intelligence selbst gefordert, dass Kent Steele seinen Dienst fortführen sollte – aber Reid hatte sich bis jetzt noch nicht dazu geäußert und die Behörden hatten noch keine Antwort von ihm gefordert. Meistens versuchte er zu vermeiden, überhaupt darüber nachzudenken.

„Ich … würde wirklich gern Nein sagen. Aber die Wahrheit ist, dass ich es noch nicht weiß. Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Er hielt für einen Moment inne, bevor er fragte: „Was würdest du dazu sagen?“

„Du fragst nach meiner Meinung?“, fragte sie überrascht.

„Ja, das tue ich. Du bist ehrlich gesagt einer der klügsten Menschen, die ich kenne, und deine Meinung bedeutet mir sehr viel.“

„Ich meine … einerseits ist es ziemlich cool, jetzt da ich weiß, was ich weiß –“

„Da du denkst, was du weißt …“, korrigierte Reid.

„Aber es ist auch ziemlich beängstigend. Ich weiß, dass eine sehr reale Chance besteht, dass du verletzt werden könntest, oder … oder sogar schlimmer.“ Maya verstummte für eine Weile. „Gefällt es dir? Für sie zu arbeiten?“

Reid antwortete ihr nicht sofort. Sie hatte recht; die Tortur, die er durchgemacht hatte, war furchterregend gewesen und hatte sein Leben mehr als einmal gefährdet, genau wie die Leben seiner Mädchen. Er könnte es nicht ertragen, wenn ihnen etwas zustoßen würde. Aber die brutale Wahrheit – und einer der größeren Gründe, weshalb er sich in letzter Zeit versuchte, so sehr abzulenken – war, dass es ihm Spaß machte und er es vermisste. Kent Steele sehnte sich nach der Verfolgungsjagd. Es gab eine Zeit, als all dies begann, zu der er diesen Teil von sich wie eine andere Person betrachtete, aber das stimmte nicht. Kent Steele war ein Pseudonym. Er sehnte sich danach. Er vermisste es. Es war ein Teil von ihm, so, wie auch das Unterrichten und die Erziehung seiner beiden Mädchen ein Teil von ihm waren. Obwohl seine Erinnerungen verschwommen waren, war es ein Teil seines großen Ganzen, seiner Identität, und es nicht zu haben war, so als sei er ein Sportler, der sich eine karrierebeendende Verletzung zugezogen hatte: es warf die Frage auf, Wer bin ich überhaupt, wenn ich das nicht sein kann?

Er musste ihre Frage nicht beantworten. Maya konnte es in seinem geistesabwesenden Blick erkennen.

„Wie heißt sie noch mal?“, fragte sie plötzlich, um das Thema zu wechseln.

Reid lächelte verlegen. „Maria.“

„Maria“, sagte sie nachdenklich. „Also gut. Viel Spaß bei deinem Date.“ Maya ging die Treppe hinunter.

Bevor er ihr folgte, hatte Reid eine kleine Idee. Er öffnete die oberste Schublade der Kommode und kramte im hinteren Teil herum, bis er fand, wonach er gesucht hatte – eine alte Flasche teuren Rasierwassers, das er seit über zwei Jahren nicht mehr benutzt hatte. Es war Kates Lieblingsduft gewesen. Er roch daran und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Es war ein vertrauter, moschusartiger Duft, welcher eine Flut guter Erinnerungen mit sich brachte. Er sprühte ein wenig auf seine Handgelenke und betupfte beide Seiten seines Halses. Der Geruch war stärker, als er es in Erinnerung hatte, aber dennoch angenehm.

Dann – schoss eine weitere Erinnerung durch sein Gedächtnis.

Die Küche in Virginia. Kate ist wütend und zeigt auf etwas auf dem Tisch. Nicht nur wütend – sie hat Angst. „Was ist das, Reid?“, fragt sie ihn anklagend. „Was wäre, wenn eines der Mädchen das Ding gefunden hätte? Antworte mir!“

Er schüttelte die Vision ab, bevor die unvermeidliche Migräne einsetzte, aber dies ließ das Erlebnis nicht weniger beunruhigend wirken. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann oder wieso dieser Streit stattgefunden hatte; er und Kate hatten sich selten gestritten und in seiner Erinnerung hatte sie verängstigt ausgesehen – entweder davor, worüber sie sich stritten, oder vielleicht sogar aus Angst vor ihm. Er hatte ihr nie einen Grund dazu gegeben. Zumindest nicht, dass er sich daran erinnern konnte …

Seine Hände zitterten, als ihn eine neue Erkenntnis traf. Er konnte sich nicht an die Situation erinnern, was bedeutete, dass es eine der Erinnerungen war, die von dem Implantat unterdrückt worden waren. Aber wieso wären Erinnerungen an Kate mit denen an Agent Null gelöscht worden?

„Dad!“, rief Maya von unten. „Du kommst zu spät!“

„Ja“, murmelte er, „ich komme ja schon.“ Er würde sich der Realität stellen und eine Lösung für sein Problem finden müssen, oder er würde dauerhaft weiter mit den gelegentlich wiederkehrenden Erinnerungen zu kämpfen haben, die ihn verwirrten und erschütterten. Aber er würde dies später tun. Jetzt musste er erst einmal ein Versprechen einhalten. Er ging hinunter, küsste seine Töchter auf den Kopf und ging zum Auto. Bevor er den Weg zur Einfahrt hinunterging, stellte er sicher, dass Maya den Alarm hinter ihm eingeschaltet hatte. Dann stieg er in den silbernen Geländewagen, den er vor ein paar Wochen gekauft hatte.

Obwohl er sehr nervös und aufgeregt war, Maria wiederzusehen, konnte er das Angstgefühl in seinem Bauch nicht abschütteln. Er hatte das Gefühl, dass es eine schlechte Idee war, die Mädchen alleine zu lassen, selbst wenn es nur für eine kurze Zeit war. Wenn ihn die Ereignisse des letzten Monats irgendetwas gelehrt hatten, dann war es in erster Linie, dass es keinen Mangel an Bedrohungen gab, die ihn leiden sehen wollten.

KAPITEL DREI

Wie geht es Ihnen heute Abend, Sir?“, fragte die Nachtschwester höflich, als sie sein Krankenzimmer betrat. Er wusste, ihr Name war Elena, und sie war Schweizerin, obwohl sie mit ihm auf Englisch sprach. Sie war zierlich und jung, viele würden sie sogar als hübsch und fröhlich bezeichnen.

Rais antwortete nicht. Das tat er nie. Er beobachtete lediglich, wie sie einen Styroporbecher auf seinen Nachttisch stellte, und sich der Inspektion seiner Wunden widmete. Er wusste, dass sie ihre Fröhlichkeit dazu nutzte, ihre Angst zu überspielen.

Er wusste, dass sie es, trotz der zwei bewaffneten Wachen, die jede seiner Bewegungen beobachteten, nicht mochte, mit ihm in einem Raum allein zu sein. Sie mochte es nicht, ihn zu behandeln oder auch nur mit ihm zu sprechen. Niemand mochte es.

Die Krankenschwester, Elena, inspizierte vorsichtig seine Wunden. Er konnte spüren, dass es sie nervös machte, so nah bei ihm zu sein.  Sie wusste, was er getan hatte; dass er im Namen Amuns getötet hatte.

Sie hätte sogar noch mehr Angst, wenn sie wüsste, wie viele es waren, dachte er trocken.

„Ihre Wunden heilen gut“, sagte sie. „Schneller als erwartet“.  Das sagte sie jeden Abend zu ihm, was er als „hoffentlich verlassen Sie uns bald“ verstand.

Das waren für Rais keine guten Nachrichten, denn wenn er endlich gesund genug wäre, um das Krankenhaus zu verlassen, würde er wahrscheinlich in ein CIA-Gefängnis in der Wüste gebracht werden. In ein feuchtes, schreckliches Loch im Boden, wo ihm noch viel mehr Wunden zugefügt werden würden, während sie ihn folterten, um Informationen aus ihm herauszuquetschen.

Als Amun bestehen wir. Das war für mehr als ein Jahrzehnt sein Mantra gewesen, aber dem war nun nicht mehr so. Soweit Rais wusste, gab es Amun nicht mehr; ihr Plan in Davos war gescheitert, die Anführer waren entweder festgenommen oder getötet worden und jede Strafverfolgungsbehörde auf der Welt wusste über die Markierung, die Hieroglyphe von Amun, welche den Mitgliedern in die Haut gebrannt wurde, Bescheid. Rais durfte nicht fernsehen, aber er erhielt seine Informationen von seinen bewaffneten Polizeiwachen, die sich oft unterhielten (und das meist für lange Zeit, sehr zu Rais’ Ärgernis).

 

Er hatte die Markierung aus seiner Haut geschnitten, bevor er ins Krankenhaus von Sion gebracht wurde, aber es stellte sich als umsonst heraus; sie wussten bereits, wer er war, und zumindest ein paar der Dinge, die er getan hatte. Die gezackte, fleckige, rosafarbene Narbe, wo sich einst die Markierung an seinem Arm befunden hatte, war eine tägliche Erinnerung daran, dass es Amun nicht mehr gab, und deshalb schien es passend zu sein, dass er sein Mantra änderte.

Ich bestehe.

Elena nahm den Styroporbecher, der Eiswasser und einen Strohhalm enthielt. „Möchten Sie etwas trinken?“

Rais sagte nichts, er beugte sich jedoch leicht nach vorn und öffnete seine Lippen. Sie führte den Strohhalm mit vollkommen ausgestrecktem Arm und Ellbogen vorsichtig zu seinem Mund, während sie ihren Körper zurücklehnte. Sie hatte Angst; vor vier Tagen hatte Rais versucht, Dr. Gerber zu beißen. Seine Zähne hatten den Nacken des Arztes gestreift, sie waren allerdings noch nicht einmal durch die Haut gedrungen. Dennoch hatte er sich dadurch einen Schlag gegen den Kiefer von einem seiner Wächters eingehandelt.

Rais versuchte diesmal nichts. Er nahm lange Schlucke durch den Strohhalm und genoss die Angst des Mädchens und die strenge Angespanntheit der zwei Polizeiwachen, die hinter ihr zusahen. Als er genug hatte, lehnte er sich zurück. Sie stieß ein hörbar erleichtertes Seufzen aus.

Ich bestehe.

Er hatte in den letzten vier Wochen eine ganze Menge ertragen. Er hatte eine Nephrektomie durchgemacht, um seine durchstochene Niere zu entfernen. Er hatte sich einer zweiten Operation unterzogen, bei der ein Teil seiner gerissenen Leber entnommen wurde. Er hatte eine dritte Prozedur ertragen, um sicherzustellen, dass keine seiner anderen lebenswichtigen Organe beschädigt worden waren.

Er hatte mehrere Tage auf der Intensivstation verbracht, bevor er in eine chirurgische Abteilung verlegt wurde, aber er verließ niemals das Bett, an welches er mit beiden Handgelenken gefesselt war. Die Krankenschwestern drehten ihn, wechselten seine Bettpfanne und machten es ihm so bequem, wie es ihnen möglich war, aber es wurde ihm nie erlaubt, sich aufzurichten, zu stehen, oder sich aus freien Stücken zu bewegen.

Die sieben Stichverletzungen an seinem Rücken, und die eine in seiner Brust, waren genäht worden und heilten gut, wie die Nachtschwester Elena regelmäßig wiederholte.

Trotzdem gab es wenig, was die Ärzte gegen die Nervenschäden tun konnten. Manchmal wurde sein gesamter Rücken taub, bis hinauf zu seinen Schultern und teilweise sogar hinunter bis zu seinem Bizeps. Er fühlte nichts, so als würden diese Teile seines Körpers zu jemand anderem gehören.

Manchmal wachte er mit einem Schrei in der Kehle aus einem tiefen Schlaf auf, wenn ein stechender Schmerz wie ein Blitz durch seinen Körper schoss. Es hielt nie lange an, aber wenn es passierte, war es stark, intensiv und tauchte unregelmäßig auf. Die Ärzte nannten dies „Stechen“, eine Nebenwirkung, die manchmal bei Menschen auftrat, die so schwerwiegende Nervenschäden erlitten hatten wie er.

Sie versicherten ihm, dass dieses Stechen mit der Zeit oft verblasse und sogar ganz aufhören könnte, aber sie konnten ihm nicht sagen, wann dies geschehen würde. Stattdessen sagten sie ihm, dass er Glück gehabt habe, dass seine Wirbelsäule nicht beschädigt wurde. Sie sagten ihm, dass er Glück habe, überhaupt am Leben zu sein.

Ja, Glück, dachte er bitter. Glück, dass er nur gesund werden würde, um in die wartenden Arme des CIA-Gefängnisses geworfen zu werden. Glück, dass alles, wofür er gearbeitet hatte, ihm im Laufe eines einzigen Tages genommen wurde. Glück, nicht nur einmal, sondern zweimal von Kent Steele besiegt worden zu sein – einem Mann, den er mit jeder Faser seines Daseins hasste und verabscheute.

Ich bestehe.

Bevor sie seinen Raum verließ, bedankte sich Elena bei den zwei Wachen auf Deutsch, und versprach, ihnen Kaffee zu bringen, wenn sie wiederkam. Als sie gegangen war, nahmen sie ihre Posten vor seiner Tür wieder ein, die immer offenstand, und führten ihre Unterhaltung fort. Sie sprachen über ein kürzlich stattgefundenes Fußballspiel. Rais’ Deutsch war recht gut, aber die Einzelheiten im schweizerdeutschen Dialekt und die Geschwindigkeit, mit der sie sprachen, ließen ihn manchmal nur wenig verstehen. Die Wachen der Tagesschicht sprachen oft Englisch, wodurch er die meisten Neuigkeiten über das Geschehen außerhalb seines Krankenzimmers erhielt.

Beide Männer waren Mitglieder der schweizerischen Bundespolizei, die entschieden hatte, dass er zu jedem Zeitpunkt, vierundzwanzig Stunden am Tag, zwei Wachen vor seinem Zimmer stehen hatte.  Sie wechselten alle acht Stunden die Schicht, mit einem anderen Wachenpaar am Freitag und am Wochenende.

Es waren immer zwei, jederzeit; wenn eine der Wachen zur Toilette musste oder sich etwas zu essen holte, mussten sie zuerst unten anrufen, um eine der Krankenhauswachen zu ihnen hinaufzuschicken, auf dessen Ankunft sie dann erst warten mussten.

Die meisten Patienten, die sich in seinem Zustand befanden und deren Genesung so weit fortgeschritten war, wären wohl auf eine normale Station verlegt worden, aber Rais war in der Unfallklinik geblieben. Es war, mit den verschlossenen Bereichen und bewaffneten Wachen, eine sicherere Einrichtung.

Es waren immer zwei, jederzeit. Und Rais hatte entschieden, dass er dies zu seinem Vorteil nutzen würde.

Er hatte viel Zeit gehabt, um seine Flucht zu planen, besonders in den letzten paar Tagen, als seine Medikamente verringert wurden und er klarer denken konnte.

Er ging in seinem Kopf immer wieder verschiedene Szenarien durch. Er merkte sich Zeitpläne und belauschte Gespräche. Es würde nicht mehr lange dauern, bevor sie ihn entließen – bestenfalls ein paar Tage.

Er musste handeln und entschied sich dafür, es heute Nacht zu tun.

Seine Wachen waren in den Wochen, in denen sie vor seiner Tür gestanden hatten, selbstgefällig geworden. Sie nannten ihn „Terrorist“ und wussten, dass er ein Mörder war. Abgesehen von dem kleinen Vorfall mit Dr. Gerber vor ein paar Tagen hatte Rais jedoch nichts anderes getan, als still dazuliegen, meistens ohne sich zu bewegen, und den Krankenhausmitarbeitern zu erlauben, ihre Pflichten zu erfüllen. Wenn sich niemand bei ihm im Raum befand, schenkten ihm die Wachen nicht mehr Aufmerksamkeit, als gelegentlich einen Blick auf ihn zu werfen.

Er hatte nicht versucht, den Arzt aus Gehässigkeit oder Wut zu beißen, sondern aus Notwendigkeit. Gerber hatte sich über ihn gelehnt und die Wunde an seinem Arm inspiziert, an der er die Markierung Amuns herausgeschnitten hatte – die Seitentasche des weißen Arztkittels hatte die Finger von Rais’ gefesselter Hand gestreift. Er machte einen Satz und schnappte mit dem Kiefer und der Arzt sprang erschrocken zurück, als die Zähne seinen Nacken streiften.

Und Rais’ Hand umklammerte dabei fest seinen Füllfederhalter. Eine der diensthabenden Wachen hatte ihm einen ordentlichen Schlag ins Gesicht verpasst und in dem Moment, in dem ihn der Schlag traf, hatte Rais den Stift unter sein Bettlaken geschoben und ihn unter seinem linken Oberschenkel versteckt. Dort war er für drei Tage verblieben, versteckt unter der Decke, bis zur letzten Nacht. Er hatte ihn hervorgeholt, während die Wachen auf dem Flur plauderten. Mit einer Hand, ohne zu sehen, was er tat, hatte er die zwei Hälften des Stiftes auseinandergenommen und die Patrone entfernt. Dabei arbeitete er langsam und vorsichtig, sodass die Tinte nicht verspritzt wurde. Der Stift war klassisch, mit goldener Schreibspitze, welche ein gefährliches, spitzes Ende hatte. Diese Hälfte schob er wieder unter die Bettdecke. Die hintere Hälfte hatte eine goldene Taschenklammer, welche er vorsichtig mit dem Daumen zurückdrückte, bis sie abbrach.

Die Manschette an seinem linken Handgelenk erlaubte ihm etwas weniger als dreißig Zentimeter Bewegungsfreiraum für seinen Arm, aber wenn er seine Hand bis zum Anschlag ausstreckte, dann konnte er die ersten paar Zentimeter des Nachttisches erreichen. Die Tischplatte bestand aus einer einfachen, ebenen Holzspanplatte, aber die Unterseite war rau wie Sandpapier. In vier äußerst strapaziösen und schmerzhaften Stunden in der Nacht zuvor hatte Rais die Klammer des Füllfederhalters vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, vor und zurück an der Unterseite des Tisches entlanggerieben. Mit jeder Bewegung hatte er befürchtet, die Klammer könnte ihm aus der Hand rutschen, oder die Wächter könnten eine Bewegung bemerken, aber sein Zimmer war dunkel und die beiden waren in eine Unterhaltung vertieft. Er arbeitete unnachgiebig, bis er das Ende der Klammer zu einer nadelähnlichen Spitze geschärft hatte. Dann schob er die Klammer ebenfalls unter die Bettdecke, direkt neben die Spitze des Füllfederhalters.