Der Geruch der Seele

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Damaskus, Juni 2010

Tarek lächelt ein wenig, als Nauras ihn an diese alte Geschichte erinnert. Aber er schiebt die Gedanken an diesen Abend wieder weg, er mag keine Erinnerungen an die Schläge, die er als Jugendlicher von seinem Vater erhalten hat. Er fühlt sich jetzt erwachsen und will mit diesem Kapitel abschließen. Schließlich ist er zwanzig Jahre alt und verdient seinen eigenen Lebensunterhalt. Außerdem kann sein Vater für ihn gar nicht mehr sorgen, seit er seinen gutbezahlten Regierungsjob verloren hat. Nach einigen gescheiterten Versuchen, sich selbständig zu machen, arbeitet Basam jetzt für einen bescheidenen Lohn als Buchhalter in einer Fabrik, die Motoröle erzeugt. Damit kann er allerdings nicht einmal die Hälfte des Lebensunterhalts der beiden Haushalte bestreiten. Zur Unterstützung erhält er immer wieder ein paar Scheine von den wohlhabenden Eltern seiner zweiten Frau, damit er den aufwendigen Lebensstil seiner drei Töchter finanzieren kann. Tarek hingegen muss vor seinen reichen Freunden verbergen, dass er immer wieder auf der Baustelle arbeitet. Wenn er hinfährt, zieht er sich, passend zu dem teuren Viertel, in dem er lebt, saubere Kleidung an und nimmt seine Arbeitskleidung im Rucksack mit. Auf dem Heimweg hat er wieder saubere Kleidung an und achtet sehr genau darauf, dass seine Hände und Haare gewaschen sind und ihn keinerlei Spuren der Baustelle verraten.

Seine engsten Freunde aus dem Barzeh-Viertel sind Söhne von Offizieren, wichtigen Beamten oder reichen Händlern. Er bemüht sich, mit ihnen Schritt zu halten, und das gelingt ihm auch meistens, selbst wenn sie fast jeden Abend essen gehen. Oft behauptet er, gerade gegessen zu haben, doch in Wahrheit hat er kein Geld. Er hat sich damit abgefunden, als Einziger kein Auto zu besitzen. So wird er von seinen wohlhabenden Freunden eben jeden Abend abgeholt. Sie schätzen seine Unternehmungslust und seine spannenden Geschichten.

Mittlerweile sind sie bei Tareks Universität angekommen. »Die Shisha nicht vergessen! Heute Abend schauen wir uns bei Adnan eine neue Folge von ›Lost‹ an, ich hole dich ab!« Tarek nickt und küsst Nauras vor dem Aussteigen links und rechts auf die Wangen.

Die Sonne strahlt heiß und kündigt einen glühenden, windstillen Mittag an. Er geht durch die Unterführung zur Universität, wo sich schon viele hundert Studenten aufhalten. Es ist ein riesengroßes Gelände, alle Fakultäten befinden sich an diesem Ort: Medizin, Psychologie, Literatur und noch viele andere sind hier in den verschiedenen Gebäuden untergebracht. Hier befinden sich auch zwei riesige mehrstöckige Gebäude, in denen Studenten aus ganz Syrien wohnen – in einem Gebäude die Männer, im anderen die Frauen. An der Universität Damaskus sind immerhin rund 90 000 Studenten aus dem ganzen Land inskribiert. Obwohl es in Aleppo, Latakia und Homs auch große Universitäten gibt, hat das Studium an der Universität der Hauptstadt doch für viele einen besonderen Glanz.

Als Tarek aus der Unterführung kommt, fällt ihm die Menge auf, die sich am Eingang versammelt hat. Er nähert sich dem Torbogen und erblickt Sakers gigantisches Auto, das jeder auf der Uni kennt. Es ist nicht der einzige Hummer in Damaskus, aber er ist auf jeder Seite mit den riesengroßen Portraits des Präsidenten beklebt. »Du scheinst meine Worte nicht zu verstehen, bist du neu hier?«, brüllt Saker den Torwächter an. Der Sohn des Obersts hat mit seinen 22 Jahren schon eine Halbglatze, sein restlicher Körper ist allerdings so stark behaart, dass sich die Brusthaare aus dem Kragen seines T-Shirts herauskräuseln. Er hat dunkle Augenringe und einen schwammigen Körper, der Alkoholkonsum hat schon in jungen Jahren seine Spuren hinterlassen.

»Ich verstehe Sie, aber ich habe klare Anweisungen vom Rektor, keine Fahrzeuge von Studenten auf das Gelände fahren zu lassen«, erwidert der Torwächter.

»Du hast keine Ahnung, mit wem du sprichst. Wenn du das Tor nicht öffnest, wirst du es dein Leben lang bereuen!« Saker wird sichtlich aggressiver.

»Es tut mir leid, ich kann nicht –«

Während der Torwächter spricht, blickt Saker in die Runde der Schaulustigen, legt hastig den ersten Gang ein und fährt los. Die beiden Torflügel halten dem Druck nicht stand und schwingen auf, Saker fährt zum Parkplatz der Professorinnen und Professoren. Tarek schaut den erstarrten Torwächter mitleidig an. Er würde ihm gerne beistehen, weiß aber nicht, was er sagen soll. Die anderen anscheinend auch nicht, denn alle gehen wortlos an ihm vorbei. Das ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Tarek verschwindet mit allen anderen. »Wie schafft es die Ungerechtigkeit, zur Normalität zu werden?«, fragt er sich im Weitergehen.

Syrische Wüste, August 2015

Einer der IS-Kämpfer schleudert die Frau in den Kofferraum des Jeeps. Ihr Rucksack fliegt auf ihren Kopf. Der größere der beiden Männer setzt sich neben den Fahrer des Autos, der andere steigt hinten ein. Der, der sich nach vorne gesetzt hat, spricht in sein Walkie-Talkie: »Fahr los, Bruder, wir warten hier noch kurz, wir müssen einen Kilometer Abstand zwischen den Fahrzeugen halten.« Seine Stimme klingt rau und emotionslos. Der zweite schwarze Jeep, der vor ihrem Fahrzeug steht, fährt sofort los. Er verlässt die asphaltierte Straße und biegt auf einen schmalen Schotterweg ein.

»Abu Khadeifa, der Bus steht noch! Der Busfahrer hat deine Anweisung anscheinend nicht verstanden«, sagt der jüngere Kämpfer, der hinten sitzt, nach einem Blick durch die Heckscheibe. Seine Stimme ist hell und sein Arabisch gebrochen, die gefesselte Frau im Kofferraum hat den Eindruck, dass er kein Syrer ist. Abu Khadeifa schaut zum Bus, schüttelt den Kopf und steigt mit der Kalaschnikow im Anschlag aus dem Auto.

Es ist Mittag, die Sonne steht genau über ihnen und brennt erbarmungslos auf die vegetationslose Steinwüste. Zwischen Deir ez-Zor und Al-Hasaka leben nur giftige Reptilien.

Abu Khadeifa klopft mit der flachen Hand auf die Karosserie des Busses. »Ich habe dir gesagt, fahr los. Verstehst du kein Arabisch! Die Frau gehört uns, vergiss sie!«, schreit er und schaut den Fahrer mit wutverzerrtem Gesicht über den Seitenspiegel an. Der Fahrer blickt starr vor Angst nur geradeaus, genauso wie alle anderen Fahrgäste, die nicht in der Lage zu sein scheinen, den Kopf zu bewegen. Eine lähmende Angst schwebt im ganzen Bus.

Abu Khadeifa blickt dauernd in den Himmel, das ist wie ein Zwang, denn die Angriffe der Kampfjets haben bereits viele von ihnen das Leben gekostet. Daher hält er beständig nach Kampfflugzeugen Ausschau, obwohl er weiß, dass es, wenn er sie sieht, schon zu spät ist, um zu fliehen, die Jets feuern ihre Schüsse auf drei Kilometer Entfernung ab.

Der Busfahrer kann nicht reagieren. Obwohl er diese Strecke seit zehn Jahren fährt und sein Bus seit Beginn des Krieges mehrmals von Bewaffneten aufgehalten worden ist, verlassen ihn diesmal seine Nerven, denn es ist das erste Mal, dass sie eine Passagierin gefangennehmen. Seine Hände zittern und sein Gesicht ist aschfahl. Die flehenden Schreie der entführten Frau, die er noch immer im Ohr hat, zerreißen sein Inneres. Abu Khadeifa senkt den Blick wieder in den Seitenspiegel, schüttelt den Kopf, lädt durch und schießt eine Salve in die Luft. Die Passagiere im Bus reagieren alle gleichzeitig, sie ducken sich und machen sich so klein wie möglich. Der Fahrer zuckt zusammen, legt den ersten Gang ein und fährt los.

»Bruder, der Abstand ist schon groß genug, fahrt ihr los?«, meldet sich das Walkie-Talkie des ersten Jeeps.

»Ja, Bruder, wir sind hinter euch, Allah ist der Beschützer«, sagt Abu Khadeifa, steigt ins Auto und gibt dem Lenker durch eine Handbewegung zu verstehen, er solle losfahren.

Die Schotterstraße ist in schlechtem Zustand, voller Schlaglöcher und Steine. Nach einer halben Stunde ist der Frau im Kofferraum schwindlig und übel. Sie fühlt sich seekrank und unter dem schwarzen Stoffsack, der ihr über den Kopf gezogen wurde, ist es mittlerweile heiß wie in der Hölle. Sie löst sich langsam aus ihrer Erstarrung und versucht, sich von ihren Fesseln zu befreien. Sie zieht den schwarzen Stoff in ihre Mundhöhle, um ein Loch hineinzubeißen, damit sie mehr Luft bekommt.

»Tschetschene, schau nach, was da hinten los ist, die Geräusche nerven mich.« Abu Khadeifa spricht zu dem Kämpfer auf dem Rücksitz. Der Tschetschene löst den Knoten um den schwarzen Sack und zieht ihn der Frau vom Kopf. Beim Versuch, den ersten tiefen Atemzug zu nehmen, erbricht sie. Sie beginnt heftig zu weinen, wagt es aber nicht, zu schreien, da ihr das Gesicht von Abu Khadeifas Ohrfeige noch immer heftig schmerzt. »Ich werde das Auto sicher nicht putzen. Entweder machst du das oder irgendein Gefangener«, erklärt der Fahrer mit angewidertem Gesicht dem Tschetschenen.

Die Frau merkt, dass das Auto inzwischen wieder auf einer asphaltierten Straße fährt. Sie ist nach wie vor gefesselt, aber der schwarze Sack ist weg. Auch hört sie Geräusche von Menschen und anderen Autos. Sie scheinen nach einer endlosen Stunde Fahrt in ein bewohntes Gebiet gekommen zu sein. Sie sind in Arraqa, wie sie später erfahren wird. Endlich hält das Auto an. Die Männer steigen aus, der Tschetschene und Abu Khadeifa öffnen den Kofferraum und ziehen die Frau und ihren Rucksack heraus. Ihre Angst wächst wieder und ihr Herz beginnt noch heftiger zu klopfen, als sie die bewaffneten Männer sieht, die IS-Flaggen auf den Gebäuden, die von Mauern aus Sandsäcken umgeben sind, und die verschleierten Frauen. »Was habt ihr heute mitgebracht, Brüder?«, fragt einer der Wächter am IS-Gerichtsgebäude, das früher das Magistrat war. Abu Khadeifa meint selbstbewusst: »Etwas, das ausländische Kämpfer nicht bekommen: eine Alawitin, Bruder!«, sagt er, während er die Frau nach vorne drängt.

 

Nicht nur Abu Khadeifa, sondern die meisten syrischen IS-Anhänger spüren ihre Unterlegenheit den ausländischen Mitkämpfern gegenüber immer stärker. Diese brüsten sich damit, ihr luxuriöses Leben in Europa aufgegeben zu haben, um das islamische Kalifat wieder ins Leben zu rufen und die unterdrückten Syrer und Iraker von ihrem Leid zu befreien. Dieses Argument verschafft ihnen Führungspositionen und das Recht auf alles, was sie begehren. Abu Khadeifa, der vor dem Krieg als Bäcker in Arraqa gearbeitet hat, musste seine fünfzehnjährige Schwester mit lächelndem Gesicht einem Pakistani aus Irland zur zweiten Ehefrau geben, obwohl dieser bereits mit seiner schwangeren Frau und seinem Kind eingereist war. Abu Khadeifa redete sich ein, dass diese Heirat einem höheren Zweck diente, aber der Schmerz scheuerte an seinem Herzen wie ein Seil, das ständig über eine scharfe Kante gezogen wird. Er wusste, dass seine Schwester wie die Dienerin der ersten Frau gehalten wurde und gelegentlich, wenn es günstig war, dem Mann auch für seine sexuellen Vergnügungen zur Verfügung stehen musste. Daher hatte er Angst, dass es ihn irgendwann einmal zerreißen könnte und er dann als Verräter der Sache des IS dastehen würde und eine harte Strafe verbüßen müsste. Wenn Abu Khadeifa mit seinen Vertrauten darüber spricht, heißt es: »Leg dich nicht mit ihm an. Der Ire hat durch seine Kontakte mit dem Ausland viel Einfluss. Schließlich hat er dem IS sehr viel Unterstützung zukommen lassen.«

Die Frau traut ihren Augen nicht. Während sie in das riesige Gerichtsgebäude geführt wird, sieht sie auf dem Zaun, der mit spitzen Stangen den ganzen Bereich umgibt, drei Köpfe aufgespießt.

Es ist nur einige Tage her, dass diese Männer vor einer Menschenmenge aus Männern, Frauen und Kindern als angebliche Regime-Spione enthauptet wurden. Es war nicht das erste Mal, dass in der Mitte des geräumigen Kreisverkehrs solche Aktionen stattfanden, nicht nur Spione, sondern auch Homosexuelle und andere missliebige Personen werden hier öffentlich hingerichtet. Die Kameras liefen und das Video der Enthauptung wurde weltweit in den Nachrichten ausgestrahlt.

Langsam löst sich ihre Erstarrung und sie beginnt wieder zu weinen. »Was mache ich hier? Wo bin ich? Ich mache alles, was du willst! Aber lass mich bitte wieder gehen!«, fleht sie Abu Khadeifa an. Da schlägt er sie wieder ins Gesicht. In ihrem Ohr beginnt es zu rauschen. Wortlos führt er sie in das Gebäude und die Stiegen hinunter in das Untergeschoss. Sie betreten einen Raum, der wie ein Büro eingerichtet ist. Drinnen sitzen zwei Männer, die etwas gepflegter aussehen. Sie tragen Zivilkleidung und scheinen keine Kämpfer zu sein, aber direkt über ihnen hängen neben einer großen IS-Flagge zwei Kalaschnikows an der Wand.

»So, bitteschön, hier eine fette Beute. Eine Alawitin«, mit diesen Worten stößt Abu Khadeifa die Frau vor dem Schreibtisch auf den Boden und legt mit überlegener Geste ihren Ausweis vor die Männer hin. »Dokumentiere das und schreib meinen Namen dazu, ich möchte, dass mein Einsatz entsprechend gewürdigt wird und in der Berichterstattung auch vorkommt.« Der IS hat zu dieser Zeit mehrere Medienkanäle, unter anderem einen Fernsehkanal, in dem entsprechende Kampagnen gesendet werden.

Der Mann hinter dem Schreibtisch nimmt den Ausweis in die Hand und studiert ihn genau. »Wie – Alawitin, sie trägt Kopftuch, und hier steht, dass sie in Damaskus geboren ist und Nadia heißt«, wendet er ungläubig ein. »Eine ihrer Mitreisenden hat sie verraten, sie soll Sanaa heißen«, erklärt Abu Khadeifa.

»Die Frau im Bus muss den Verstand verloren haben. Ich bin Nadia, eine Sunnitin! Ich war auf dem Weg zu meinem Mann, der in Erbil arbeitet«, versucht Sanaa mit zitternder Stimme die Situation zu retten, aber der Mann hinter dem Tisch wirft ihr einen bitterbösen Blick zu. »Halt den Mund, die Stimme einer Frau ist wie ihre Haut, sie darf vor fremden Männern nicht sprechen«, weist er sie zurecht. Dann wendet er sich an den anderen, der sichtlich sein Untergebener ist:

»Abu Faruk, nimm sie und ihren Rucksack mit in den Frauentrakt und lass die Schwester ihre Identität überprüfen.«

Damaskus, Juni 2010

In Tareks Vorlesung geht es heute um den berühmten Kalligraphen Abu Ali Muhammad ibn Ali ibn Muqla, oder einfach gesagt Ibn Muqla, der die arabische Schriftkunst grundlegend verändert hat, als er die Grundlagen für die Kalligraphie erstellte. Er ist sozusagen der Pate der arabischen Schrift. Sein Leben ist ein Symbol für die Unterdrückung von Innovationen im Namen der Religion. Im Jahr 928 erhielt er einen Ministerposten in einem abasischen Kalifat in Bagdad. Er reformierte die arabische Schrift, die er durch das Hinzufügen von Buchstaben, zum Beispiel p, g und v, moderner und internationaler gestalten wollte. Man unterstellte ihm jedoch, durch diese Ergänzungen den Koran zu verändern. Daraufhin wurde er als Minister abgesetzt und nach Shiraz in Persien verbannt. Er arbeitete dort aber weiter an seinem Vorhaben, was den Kalifen veranlasste, ihn verhaften und seine rechte Hand abhacken zu lassen. Auch das hielt Ibn Muqla aber nicht davon ab, an seinen Ideen weiterzuarbeiten und in Shiraz eine Schule zu gründen, um seine Künste zu verbreiten. Der Kalif ließ ihn erneut verhaften und ihm zur Strafe die Zunge abschneiden. Im Gefängnis starb er schließlich. Heute findet man in der persischen Schrift, die der arabischen weitgehend gleicht, diese drei Buchstaben.

Diese Geschichte interessiert Tarek, er liebt die arabische Schrift und ihre Kalligraphie. Später, in der Bibliothek, sucht er einige weiterführende Skripten heraus und blättert sie durch. In diesem Moment nimmt er einen schwachen Parfumduft wahr, der seinen Körper durchströmt und ihn förmlich elektrisiert. Er hebt den Kopf, denkt sekundenschnell an Sanaa, und zu seiner Überraschung steht sie tatsächlich ihm gegenüber bei einem Regal und sucht ein Buch. Sein Puls schießt in die Höhe und er spürt, wie ihm das Herz im Hals schlägt. Sanaa stellt sich gerade auf die Zehenspitzen und möchte ein Buch aus der obersten Reihe nehmen. Tarek hat das erste Mal Gelegenheit, ihre Figur etwas genauer zu bewundern. Sie trägt enge, schwarze Jeans und eine weiße, kurzärmelige Bluse. Ihre Kleidung sitzt wie angegossen, als wäre sie von einem Schneider extra für sie gemacht worden. Tarek kann den Blick nicht abwenden, so vernarrt ist er in sie. Er ballt die Hand zur Faust und entschließt sich, sie jetzt anzusprechen. Er nimmt sich vor, sie zu fragen, ob sie ihm für seine nächste Prüfung Tipps geben kann. Er steht auf, macht einen Schritt auf sie zu, dann zögert er wieder und dreht sich weg, nimmt ein Buch in die Hand. Sanaa steht noch vor dem Regal, blättert, während sie Tarek aus den Augenwinkeln beobachtet. Tarek reißt sich zusammen und macht einen Schritt auf Sanaa zu. »Guten Morgen!«, lächelt er breit. Sie erwidert den Gruß und lächelt freundlich zurück. Tarek ist von diesem Lächeln verzaubert, für ihn bleibt in diesem Moment die Erde stehen.

Er hat vergessen, was er sagen wollte, und stammelt: »Ich weiß, wir wohnen im selben Viertel, ich wollte mich einmal vorstellen. Mein Name ist Tarek.« Er ist erleichtert, diesen Schritt gemacht zu haben, und schaut sie mit großen verliebten Augen an. Beide schweigen kurz. »Ich habe vergessen, was ich sagen wollte«, gibt Tarek dann lächelnd zu.

»Ja, ich bin auch vergesslich, das passiert mir oft. Aber wenn es dir wieder einfällt, kannst du mich anrufen«, erwidert Sanaa und öffnet ihm damit eindeutig eine Tür. Wenn Tarek sein Herz sprechen ließe, würde er sagen: »Du bist die schönste Frau, die jemals auf dieser Welt gelebt hat. Ich bin so sehr in dich verliebt, und wenn es keinen Gott gäbe, würde ich dich anbeten«, aber das sagt man nicht. Tarek zieht sein Handy aus der Tasche und reicht es ihr. Sie tippt blitzschnell ihre Nummer ein und gibt es ihm zurück. Dabei streifen ihre Finger scheinbar unabsichtlich seine Hand, während sie sich in die Augen blicken. Tarek ist wie elektrisiert, er kann es kaum glauben, er hat Sanaa berührt.

»So, jetzt muss ich gehen. Meine Freundinnen warten draußen«, lächelt sie ihm zu, dreht sich um und geht. Tarek bleibt unbeweglich stehen und schaut ihr nach. Er blickt auf sein Handy und speichert die Nummer unter »Traumfrau«.

Dann läuft er schnell hinaus zu der Bank vor dem Fakultätsgebäude für Literatur, bei der er sich immer mit seinen Freunden trifft. In dem großen Garten gibt es mehrere Bänke, eine davon ist »ihre«, und ohne sich etwas auszumachen, finden sie sich immer dort. Tareks Freunde teilen seine kritische Haltung gegenüber dem Regime, und wenn sie unbeobachtet sind, drehen sich ihre Gespräche immer um Politik. Als er die Bank erreicht, sitzen dort schon Mohanad und Hibba, mit denen er seit Studienbeginn befreundet ist. Mohanad ist ein zuvorkommender blonder Syrer mit blauen Augen, der wie ein Skandinavier aussieht, dessen Familie aber schon seit Generationen in Damaskus lebt. Aber wer sich mit der Geschichte der Stadt auskennt, wundert sich nicht über das unterschiedliche Aussehen ihrer Menschen. Wenn Mohanad mit seinem breiten Damaszener Dialekt spricht, wirkt es wie ein synchronisierter Film, weil sein Aussehen nicht zu seiner Sprache passt. Hibba kommt aus Hama und lebt seit drei Jahren mit ihrem Bruder in einer der wilden Siedlungen am Rand von Damaskus, in denen ohne Planung drauflosgebaut wird und wo jeder sich selbst darum kümmern muss, sein Haus mit Strom und Wasser zu versorgen. Wegen der unzähligen Kabel für Strom und Telefon, die einander völlig willkürlich überschneiden, sieht man den Himmel kaum. Hibba ist wortgewandt und politisch sehr interessiert. Sie ist eine entschiedene Gegnerin der herrschenden Baath-Partei, denn ein Großteil der Familie ihres Vaters wurde 1982 in dem Massaker von Hama ermordet.

Tarek nähert sich der Bank mit Tanzschritten und einem Lied auf den Lippen. »Was ist los? Einen so glücklichen Tarek haben wir noch nie gesehen«, wundert sich Mohanad. »Sie hat mir ihre Nummer gegeben, sie hat mir ihre Nummer gegeben!« Hibba und Mohanad schauen ihn mit großen Augen an. »Sanaa?«, fragt Hibba.

»Ja, und ich habe sogar ihre Hand berührt«, sagt Tarek und tanzt weiter.

»Gratuliere! Aber du bist doch kein Höhlenbewohner, der noch nie eine Frau berührt hat«, wundert sich Mohanad.

»Das war keine Berührung, das war ein göttlicher Augenblick. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt!«, erklärt Tarek und betont seine Worte mit breiter Gestik.

»Ich freue mich für dich. Aber wie weit, glaubst du, wirst du mit ihr gehen? Du hast sicher nicht vergessen, welcher Konfession sie angehört!«, versucht Hibba, Tarek wieder auf den Boden zurückzuholen. Tarek zuckt die Schultern und antwortet nicht. »Sie ist Alawitin und die Tochter eines Hochrangigen. Wenn du mehr als eine Freundschaft willst, wirst du Unruhe auslösen. Alawiten geben nie einem Sunniten ihre Tochter zur Frau!«, setzt Hibba fort, und ihr Hass auf die Alawiten ist spürbar. »Jetzt zerstör doch nicht die Freude eines Verliebten, er muss sie ja nicht gleich heiraten!«, meint Mohanad. »Außerdem weiß jeder hier auf der Uni, dass der durchgeknallte Saker ständig Sanaas Nähe sucht. Die sind auch Alawiten, und Sanaas Vater wird seine Tochter sicherlich eher dem Sohn eines hohen Geheimdienstlers geben als dir«, wendet Hibba noch ein.

»Da hat Hibba zwar recht, aber jetzt hast du so lange auf diesen Moment gewartet und uns mit deinen Plänen gelöchert. Wir müssen feiern, dass du sie endlich angesprochen hast! Du lädst uns jetzt auf einen Tesqehe bei Buz-Al-Gedi ein!«, schlägt Mohanad vor. Das Restaurant Buz-Al-Gedi liegt in der Shaalan-Straße, nicht weit vom Universitätsgelände, und ist berühmt für traditionelle Damaszener Gerichte.

»Nicht nur Tesqehe, ich kaufe euch das ganze Restaurant!«, ruft Tarek überschwänglich.

»Und die Vorlesung?«, wendet Hibba ein.

»Komm, lass uns gehen. Professor Smail erzählt in der ersten Stunde ohnehin nur von den Problemen mit seiner Frau. Ich kaufe nachher in der Bibliothek eine Zusammenfassung der Vorlesung«, wischt Tarek Hibbas Einwand euphorisch zur Seite und geht bereits los.

Nur vom Denken an das köstliche Frühstück aus Kichererbsen und gebratenen Fladenbrotstücken in einer Soße aus Joghurt, Sesampaste und Zitronensaft läuft den dreien das Wasser im Mund zusammen. Sie verlassen das Gelände über den Weg des Jasmins, einen kurzen Pfad durch den Garten, an dessen beiden Seiten Jasminsträucher zu einem Tunnel zusammengewachsen sind. Es riecht intensiv nach den weißen Blüten, ein Geruch, der in die Seele eindringt und Tote wieder zum Leben erweckt.