Der Geruch der Seele

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Arraqa, August 2015

Abu Khadeifa folgt Abu Faruk, der Sanaa mitgenommen hat, und sie steigen die Treppen hinauf. Die unteren Ebenen sind den Funktionären, hochrangigen Kämpfern und dem Gericht vorbehalten. In den oberen Stockwerken sind die Gefängnisse. Ganz oben sind die bedeutendsten Gefangenen untergebracht. Alle Gegner des IS wurden davon in Kenntnis gesetzt, damit dieses Gebäude vor Luftangriffen geschützt ist. Am Treppenabsatz zum vierten Stock müssen die Männer zurückbleiben. »Du weißt, dass der vierte Stock den Frauen vorbehalten ist«, sagt ein Wärter, der den Eingang zum Frauenbereich bewacht. Abu Khadeifa ist kurzzeitig irritiert. »Mich beschäftigt etwas, ich bin mir über die Identität dieser Frau nicht sicher«, stottert er. Dann fasst er sich und setzt fort: »Ich muss mit Um Baakr über den Vorfall reden und ihr von meinen Zweifeln berichten. Meine Beobachtungen werden ihr bei der Befragung sicher helfen.« Der Soldat schaut ihn zweifelnd an. »Bleibt hier stehen, ich hole sie«, erklärt er und verschwindet hinter der großen Tür. Der Zutritt zum Frauenbereich ist für alle Kämpfer ausnahmslos verboten. Vor dieser strikten Regelung gab es massive Probleme, weil immer wieder Kämpfer um bestimmte Frauen gestritten haben.

Nach einigen Minuten öffnet sich die Tür und eine Frau in Uniform geht auf Abu Khadeifa zu. »Was willst du mir sagen?«, fragt sie mit ihrer tiefen, fast männlich klingenden Stimme und baut sich vor ihm auf. Abu Khadeifa tritt einen Schritt zurück. So wie alle anderen Kämpfer hat er Scheu vor Um Baakr. Sie ist ungefähr vierzig, ihr Gesicht ist durch eine Brandnarbe entstellt, eine Augenbraue fehlt, der Mund ist verzogen. Alle haben Respekt vor ihr, nicht wegen ihrer etwas beängstigenden Erscheinung, sondern weil sie als erste Frau im IS eine wichtige Funktion bekam und Alleinherrscherin über das vierte Stockwerk ist.

In diesem Gerichtsgebäude werden alle straffällig gewordenen Frauen und insbesondere die Sabaya festgehalten und auf die nächstmögliche Ehe vorbereitet. Sabaya sind Frauen anderer Religionen, die im Krieg »erbeutet« wurden. Der IS bestimmt sie als Sklavinnen für die Kämpfer. Besonders gilt das für Jesidinnen und Alawitinnen. Christinnen haben die Möglichkeit, Algesia zu zahlen, Tribut, Steuer, um ihren Glauben behalten zu dürfen. Für arme Christinnen beträgt diese Algesia einhundert Euro, das ist viel Geld, reiche hingegen werden mit sechshundert Euro besteuert. Christen werden als »Träger des Heiligen Buches« gesehen, daher ist diese Religion anerkannt. Jesiden, Alawiten wie auch Schiiten gelten als Abtrünnige und haben nur die Wahl, sich zum »richtigen« Islam zu bekennen oder getötet zu werden. Die Frauen aber können versklavt werden und dürfen an Kämpfer für ungefähr 1500 Euro – das entspricht dem Preis einer Kalaschnikow – verkauft werden.

»Es ist wegen dieser Frau«, erklärt Abu Khadeifa fast unterwürfig. »Wir haben ihr Gepäck und ihre Papiere an der Sicherheitskontrolle untersucht. Und nichts deutet darauf hin, dass sie Alawitin ist. Aber die Frau, die im Bus neben ihr saß, hat uns nachdrücklich versichert, dass sie an der Grenzstelle von einem Regime-Söldner erkannt und mit dem Namen ›Sanaa‹ angesprochen wurde. Sie hat den Söldner gebeten, mit ihr kurz den Bus zu verlassen, und ist nach einigen Minuten wieder eingestiegen. Das schien der Frau neben ihr verdächtig und sie hat versucht, auf dem Handy mitzulesen. Dabei hat sie festgestellt, dass diese Sanaa Alawitin ist.«

Um Baakr nickt und stellt fest: »Das ist meine Arbeit. Ich weiß schon, wie ich das mache.« Sie dreht sich um, gibt Abu Faruk den Befehl, mit Sanaa in das letzte Zimmer am Flur zu gehen und danach sofort wieder auf seinen Posten im Erdgeschoss zurückzukehren, und verschwindet wieder hinter der Tür, durch die sie gekommen war.

Arraqa, August 2015

Ich werde durch einen langen Flur mit vielen Türen geführt. Manche sind geschlossen, einige sind offen, in diesen Zellen sitzen Frauen mit angstvollem Gesichtsausdruck, manche sind gefesselt. Uns kommt eine Frau in Uniform entgegen, die zwei aneinandergefesselte Frauen hinter sich herzieht. Beide tragen ein weißes Gewand, das ihren Körper fast vollständig bedeckt, und bewegen sich, ohne eine Miene zu verziehen, wie seelenlose Roboter. Ich blicke in ihre Gesichter und ihre Augen sind leer. »Für wen sind diese Frauen, Schwester?«, fragt Abu Faruk neugierig.

»Es sind abtrünnige Jesidinnen für zwei unserer heldenhaften Brüder an der südlichen Front.« Abu Faruks Augen beginnen bei diesen Worten lüstern zu glänzen.

Meinen Körper durchzuckt es wie ein Blitz, als ich höre, was für ein Schicksal vermutlich auch mich erwartet. Abu Faruk öffnet wie angewiesen die letzte der Türen, schiebt mich in die Zelle und fordert mich auf, mich auf den Boden neben eine kauernde Frau zu setzen. Sie hat ihren Kopf auf die Knie gelegt und blickt nicht auf. Er stößt mich zu Boden und hockt sich vor mich hin. Er starrt mich an und blickt immer wieder zwischen meinen Augen und meinem Mund hin und her. Er rutscht immer näher an mich heran. »So eine Schönheit hat unser Gebäude noch nie vorher betreten. Wenn du wirklich eine Alawitin bist, wirst du sicher schnell gekauft werden. Leider habe ich für dich kein Geld mehr, ich habe mein ganzes Geld für eine bei weitem hässlichere Frau ausgegeben«, flüstert er und kommt immer näher. Ich spüre schon seinen heißen Atem, und es ekelt mich vor dem Geruch nach Rauch. Ich versuche, meinen Kopf gegen die Wand zu drücken, um möglichst weit von Abu Faruk weg zu sein. Die Frau neben mir bricht in Tränen aus. »Das Militär wird bald kommen. Sie werden uns sicher befreien!«, stößt sie unter Schluchzen hervor, ohne ihren Kopf zu heben. Abu Faruk schlägt sie auf den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen: »Hör auf, du jesidisches Miststück!«

Da öffnet sich die Tür und Um Baakr stürzt herein: »Warum sitzt du so nah bei ihr! Abu Faruk, steh auf und verschwinde!«

Abu Faruk erhebt sich enttäuscht und geht mit langsamen Schritten hinaus. Um Baakr blickt zu uns beiden. Da bemerkt sie Blut auf dem blauen Kleid der Jesidin. »Bist du verletzt oder hast du deine Periode?« Die Frau antwortet nicht. Um Baakr ruft laut nach einer Soldatin. »Marua!« Dann wendet sie sich wieder an die Jesidin: »Du solltest dich auf diese Ehe einlassen! Wenn du so weitermachst, wirst du nicht überleben. Du solltest deinem Ehemann gehorchen.«

Marua steht in der Tür. »Was befehlen Sie?«, fragt sie. An ihrem Dialekt erkenne ich, dass sie aus dem Maghreb kommt, vielleicht ist sie eine jener Tunesierinnen, die sich dem IS angeschlossen haben, weil sie dem Aufruf eines ägyptischen Scheichs gefolgt sind, sich als Sexualpartnerinnen zur Verfügung zu stellen, um den Kämpfern Entspannung während der harten Kämpfe zu bringen und Nachkommen für das Kalifat zu gebären.

»Marua, nimm sie mit und schau nach, warum sie blutet«, befiehlt Um Baakr.

Marua zerrt die Frau grob in die Höhe und stößt sie aus dem Raum. Um Baakr wirft mir einen schneidenden Blick zu und richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich. Sie zieht meinen Ausweis aus der Tasche, die sie vorher von Abu Faruk bekommen hatte.

»Antworte mir schnell auf meine Fragen, ohne lang nachzudenken. Wie heißt du, mit vollem Namen«, fordert Um Baakr mich auf.

»Nadia Mohamed Thabet,« antworte ich, ohne zu zögern.

»Wann bist du geboren?«

»Am 9.4.1990.«

»Wo wurde dein Ausweis ausgestellt?«

» Sarouja, Damaskus Stadt.«

»Wann wurde er ausgestellt?«

Da zögere ich: »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Gut«, sagt Um Baakr, »es wäre verdächtig, wenn du das auswendig wüsstest.«

Ich vermeide während dieser Befragung jeden Augenkontakt und schaue zu Boden. Nach einigen Augenblicken des Schweigens verlangt Um Baakr von mir, mich nackt auszuziehen. Sie untersucht meine Kleidung und auch meinen Körper ganz genau. Wonach sie sucht, sagt sie nicht. Anschließend untersucht sie meinen Rucksack akribisch, während ich mich wieder anziehe. In einer Außentasche findet sie mein Handy und steckt es sofort in ihre Hosentasche. »Das schaue ich mir später an.« Dann kramt sie weiter. »Und was ist das?«, fragt Um Baakr und zieht einen Plastikbeutel voller Medikamentenschachteln heraus und schüttelt ihn. »Das sind meine Medikamente«, sage ich mit leiser Stimme. »Was hast du?«, will Um Baakr wissen und zieht eine Augenbraue in die Höhe. Ich zeige mich irritiert und zögere mit der Antwort.

Um Baakr schaut mich noch immer abwartend an. »Ich habe diese Medikamente nur zur Vorsorge mit«, antworte ich mit zitternder, unsicherer Stimme. Um Baakr sieht sich die einzelnen Schachteln genauer an. »Glaubst du, ich bin dumm? Das sind keine normalen Schmerzmittel, das sind Spritzen und Hormonpräparate.« Ich gebe mich wieder irritiert und schweige. Um Baakr wird ärgerlich, packt mich am Kopftuch und drückt mich gegen die Wand. Ihr wütendes Gesicht kommt ganz nah und sie schreit in mein Ohr: »Du bist hier nicht von einer kleinen Bande entführt worden. Wir sind ein Staat, wir haben Ärzte und Krankenhäuser. Rück einfach mit der Wahrheit heraus!«

Da beginne ich mit weinerlicher Stimme zu erzählen: »Ich habe Gebärmutterkrebs und ich habe gehört, dass im Islamischen Staat Menschen mit unheilbarer Erkrankung gnadenhalber getötet werden.« Ich bin gerade selbst überrascht von meiner Fähigkeit zu schauspielern. Dass ich eine so begabte Lügnerin bin, habe ich bisher nicht gewusst. Die Medikamente sind in Wirklichkeit für die Schwester meiner Freundin Samah bestimmt, die in Erbil lebt. Krebsmedikamente sind in Syrien trotz des jahrelangen Krieges immer noch billiger als im Irak. Sie zu meiner Verteidigung zu verwenden, war nicht geplant. Auch die Idee der Euthanasie ist mir erst jetzt gekommen, um überzeugend zu wirken.

 

»Was für ein Schwachsinn! Wer hat dir so etwas erzählt? Jeder, dem langweilig ist, erzählt irgendwelche Märchen über den IS.« Um Baakr ist verärgert. Wir schweigen beide. Ich setze mich auf das kleine Bett, das als einziger Einrichtungsgegenstand in dem schmalen Zimmer an der Wand steht, und starre auf den Boden. Um Baakr schaut mich nachdenklich an. »Bist du gerade rein, um beten zu können?«, fragt sie. Ich schüttle den Kopf. »Dann komm mit mir auf die Toilette, um den Wudū zu machen.« Als Um Baakr die Türe der Toilette im Nebenraum öffnet, treffen wir dort Marua, die tunesische Soldatin, und die jesidische Frau, die gerade gekrümmt über dem Toilettenloch steht und erbricht.

»Ich kann nicht herausfinden, warum sie blutet, ich glaube nicht, dass es nur ihre Periode ist. Sie spricht nicht mit mir. Sollen wir sie ins Krankenhaus bringen?«, fragt Marua Um Baakr verzweifelt. »Nein. Bring sie ins Erdgeschoss in den Entlassungsraum, ihr irakischer Ehemann soll sie heute wieder abholen«, ordnet sie an. »Er soll sich darum kümmern. Er ist so stur, er hat seine Kalaschnikow verkauft, um den Kaufpreis für sie zusammenzubringen, er wird sich etwas einfallen lassen. Und, Marua, bevor du das machst, bring mir einen Gebetsteppich in das kleine Zimmer«, fügt sie hinzu.

Ich kann gerade kein Mitleid mit dieser Frau empfinden, ich bin ganz im Überlebensmodus und nur auf mich konzentriert. Ich nähere mich dem Waschbecken und beginne unter den scharfen Blicken Um Baakrs mit der rituellen Waschung. Ich wasche Kopf, Arme, Mund, Ohren und Füße dreimal, um beten zu dürfen.

Der Zustand der Toilette steht in krassem Widerspruch zur Idee der Reinigung. Becken und Fußboden sind sehr schmutzig. Ich mache so weit alles richtig, Um Baakr legt keinen Widerspruch ein. Zurück im Zimmer, stelle ich mich gleich auf den Gebetsteppich. »Zähl mir die fünf Säulen des Islam auf«, fordert Um Baakr zu überzeugen.

»Das Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Allah und Muhammed ist sein Prophet, das Beten: die fünf Gebete am Tag, das Fasten, Al Zakat: soziale Pflichtabgaben, und die Pilgerfahrt nach Mekka«, antworte ich mit leiser Stimme. Wie alle Prediger des IS glaubt Um Baakr, dass Alawiten keine Moslems sind. Sie halten uns für Abtrünnige, für Alkoholtrinker, sie denken, dass wir Frauen ohne Kopftuch auf die Straße gehen dürfen und uns mit dem Islam nicht auskennen. Aber diese Vorurteile sind gerade von Vorteil, denn sie helfen mir, Um Baakrs zu überzeugen.

»In Ordnung, und was für eine Gebetszeit ist jetzt?«, fragt sie streng.

»Nachmittag, oder?«, antworte ich.

»Dann beginne jetzt«, nickt sie.

»Ist der Gebetsteppich in Richtung Mekka gelegt?«, frage ich sie.

»Bete jetzt«, herrscht mich Um Baakr an.

Ich spreche die Vorbereitungssätze, die ähnlich den Rufen des Muezzins vom Minarett sind, und bete nach sunnitischer Art. Als ich die letzten Worte im Knien ausspreche, breche ich in lautes Weinen aus. »Warum macht ihr das mit mir? Ich will nur zu meinem Mann nach Erbil! Lasst mich weiterreisen. Die Frau im Bus ist sicher dement«, stoße ich unter Schluchzen hervor.

»So einfach wirst du nicht wieder gehen dürfen, hör auf zu weinen, ich habe jetzt keine Zeit für dich«, mit diesen Worten ergreift Um Baakr meinen Rucksack und öffnet genervt die Türe.

»Warte kurz, lass mich bitte meine Medikamente nehmen. Kann ich noch ein Glas Wasser haben?«, bitte ich. Um Baakr schaut mich ein paar Sekunden regungslos an, dann nickt sie langsam und verlässt das Zimmer. Ich versuche, das Geschehene zu verarbeiten. Das kann doch nicht real sein? Das muss ein böser Traum sein. Ich denke verzweifelt nach, wie ich meinen Vater und Tarek über diese Ereignisse informieren könnte. Das war die dümmste Idee der Welt, durch das IS-Gebiet zu fahren … Möge Gott Salim Goldhands Hände brechen für diesen Plan! Nach einigen Minuten öffnet sich die Tür, ein Wächter und Marua begleiten Um Baakr, die mir eine kleine Wasserflasche und den Beutel mit den Medikamenten zuwirft.

»Warum sind alle Medikamente neu? Musst du nichts regelmäßig einnehmen?«, fragt sie misstrauisch.

»Doch, aber ich habe meine Handtasche mit den angebrochenen Schachteln im Bus liegen gelassen, als mich die Männer herausholten«, sage ich und bin wieder verwundert, wie schnell ich meine Lügen erfinde.

»Nimm deine Medikamente ein, du wirst jetzt ins Frauengefängnis gebracht. Du wirst dort in einigen Tagen von einem Arzt untersucht werden. Wenn du lügst, dann werde ich dich das Lügen bereuen lassen«, droht Um Baakr unmissverständlich. Als ich zwei willkürlich ausgesuchte Tabletten hinuntergeschluckt habe, packt mich der Wächter am Arm und zieht mich hinaus auf den Flur.

Beim Haupteingang wartet ein Auto auf uns. Bevor wir das Gebäude verlassen, legt Marua mir Handschellen an und stülpt einen dicht gewebten Stoffsack über meinen Kopf. Dann steigt sie mit mir in das Fahrzeug. Die Fahrt dauert ungefähr fünfzehn Minuten. Die zwei Männer, die uns begleiten, müssen beim Eingang zum Frauengefängnis, das von Kämpfern bewacht, aber von Kämpferinnen verwaltet wird, zurückbleiben. Marua übergibt mich an zwei Frauen, die mir den Sack vom Kopf ziehen. Sie nehmen mir das Kopftuch, meinen Gürtel und meine Schuhbänder weg und ohne weiter mit mir zu sprechen, führen sie mich in eine Einzelzelle im Erdgeschoss, die winzig klein ist und auf deren Boden nur zwei Decken liegen. »Du bekommst erst morgen zu essen«, sagt eine der Wächterinnen und wirft krachend die Metalltüre zu. In der Zimmerdecke ist eine schmale Öffnung, durch die als einzige Helligkeit das Licht einer Neonröhre dringt.

Damaskus, Juni 2010

Am Abend sitzt Tarek mit Nauras bei Adnan, sie schauen gemeinsam wie jeden Sonntag die neue Folge ihrer Lieblingsserie an. Adnan wohnt in derselben Gasse wie Tarek. Auch wenn sein Vater als Psychotherapeut nicht so viel verdient, haben sie zwei übereinanderliegende und durch eine Wendeltreppe verbundene Wohnungen in diesem fünfstöckigen Wohnblock ergattert. Adnan bewohnt die untere Wohnung alleine, sie ist ein beliebter Treffpunkt, um Shisha zu rauchen, fernzusehen oder einfach zu chillen. Sein Urgroßvater und sein Großvater waren Viehhändler in Nablus in Palästina. Nach der Vertreibung tauschten sie ihren ganzen Besitz in Gold, und Adnans Vater erbte ein riesiges Vermögen. Obwohl schon sein Vater in Damaskus geboren wurde, fühlt Adnan sich mit Palästina verbunden, und wenn über den Konflikt mit Israel gesprochen wird, erwidert er immer: »Wir werden zurückkehren.«

Ihnen hat sich auch Aiham angeschlossen, der ebenfalls im selben Viertel wohnt und gemeinsam mit Nauras an der Privatuniversität Wirtschaftswissenschaften studiert. Sein Vater ist Leiter der Finanzabteilung im Magistrat von Damaskus.

»Ich habe wirklich Pech, die Shisha mit dir zu teilen, her mit dem Schlauch«, fordert Aiham seinen Freund Tarek auf. Sie haben zwei Shishas, Nauras und Adnan teilen sich eine, Aiham und Tarek die andere. Aiham hat sich Tarek als Partner ausgesucht, weil dieser normalerweise nicht viel raucht, aber heute ist er angespannt und zieht ständig an der Shisha. »Du hast kein einziges Mal auf den Fernseher geschaut, interessiert dich das überhaupt?«, fragt Aiham, als er den Schlauch entgegennimmt.

»Lass ihn, er ist nur physisch da«, grinst Nauras. Tarek hält die ganze Zeit sein Handy in der Hand, schreibt unentwegt SMS, löscht sie wieder und überlegt, ob er Sanaa lieber anrufen soll. Er entscheidet sich, zurückhaltend zu bleiben, obwohl er ihre Stimme zu gerne hören würde, und so schreibt er ihr kurz vor zehn Uhr nur »Gute Nacht«.

Nach einer Minute bekommt er eine Antwort: »Gehst du so früh schlafen wie die Hühner?«

Tarek versteht das als Aufforderung, sie anzurufen.

»Ich telefoniere kurz draußen, ich komme gleich wieder!«, erklärt er und verlässt die Wohnung. Aber an diesem Abend wird er nicht wiederkommen. Sie telefonieren drei Stunden lang miteinander, während Tarek durch die Straßen spaziert. Er hätte nie gedacht, dass er zu Fuß so weit weg von seinem Zuhause gehen würde. Das Gespräch findet kein Ende. Sie reden über alles Mögliche, nur nicht über ihre Gefühle. Plötzlich ertönt eine freundliche Telefonstimme: »Die Verbindung wird in sechzig Sekunden unterbrochen. Ihr Guthaben ist aufgebraucht. Bitte laden Sie Ihre Karte neu auf.«

Telefonieren ist in Syrien sehr teuer – mit dieser Wertkarte wollte er einen Monat lang auskommen –, und Tarek muss sich sein Geld sehr genau einteilen. Sie vereinbaren noch schnell, in der nächsten Zeit über das Festnetz zu telefonieren. Erst als sie das Gespräch beenden, begreift Tarek, wie spät es inzwischen geworden ist und wie weit er gegangen ist. Kurz vor ein Uhr fahren auch keine Busse mehr, und ein Taxi ist nachts sehr teuer. Er kann auch keinen seiner Freunde mehr anrufen. So geht er den ganzen weiten Weg wieder zurück. Er genießt die Stadt, sein geliebtes Damaskus, in der Nacht legt sie ihren Schleier ab und zeigt ihr zärtliches Gesicht.

Am nächsten Tag beginnt Tarek mit dem Umbau der Telefonanlage in der Wohnung. Es gibt drei Apparate, einen in der Küche, einen im Wohnzimmer und einen auf dem Balkon, wo seine Mutter morgens mit den Nachbarinnen Kaffee trinkt. Er besorgt sich ein langes Telefonkabel, legt es möglichst unauffällig hinter den Möbeln vom Balkon bis in sein Zimmer, und in der Nacht, wenn alle schlafen, kann er den Apparat in seinem Zimmer anstecken und ungestört telefonieren, so lange er will. Und so sprechen Tarek und Sanaa bald jede Nacht bis zum Morgengrauen miteinander. Die Telefonanlage hat aber einen Haken: An den anderen beiden Apparaten kann man, wenn man abhebt, alles mithören.

Als Sausan, Tareks Schwester, nach der Geburt ihres Kindes einige Tage bei ihren Eltern wohnt, sieht sie eines Nachts in der Küche am Telefonapparat ein rotes Lämpchen leuchten. Neugierig hebt sie ab und hört Tarek mit einer Frau sprechen. Das Gespräch der beiden Verliebten bringt eine besondere Saite in ihr zum Klingen. Ein wenig beneidet sie die beiden, weil sie so etwas nie erleben durfte und ihr Mann, der ständig nach Blut und Fleisch riecht, nicht einmal weiß, wie man zwei zärtliche Worte in einem Satz zusammenbringt. Und so schleicht sie in diesen Nächten in die Küche und lauscht den beiden Verliebten. In Sanaas Familie hingegen ahnt noch niemand, dass ihr einziges Kind verliebt ist.

Nach vielen Nächten und langen Telefonaten vereinbaren sie ein Treffen am Wochenende außerhalb der Universität. Tarek möchte Sanaa zum Essen einladen. Er will mit ihr nach Al-Rabieh fahren, ein wunderschönes grünes Erholungsgebiet am Fluss Barada, der ganz Damaskus mit Trinkwasser versorgt. An den Hängen der umliegenden Hügel gibt es viele Restaurants. In der Luft hängt stets ein leichter Geruch von Gegrilltem. Es ist nicht billig, aber Tarek wird auf seine Ersparnisse zurückgreifen, um Sanaa zu beeindrucken. Am Telefon hat er behauptet, dass sein Vater ein Auto besitzt und er es sich jederzeit leihen kann, doch das stimmt schon lange nicht mehr. Er wollte nicht vor der Tochter eines hohen Offiziers, die täglich mit dem Auto zur Uni gebracht wird, als Habenichts dastehen. So bittet er Adnan, ihm sein Auto am Freitag zu leihen, was Adnan gerne für Tarek macht.

So holt Tarek Sanaa am vereinbarten Treffpunkt ab. Das Wetter ist vielversprechend, in der Morgendämmerung gab es einen kurzen Regenschauer, und jetzt riecht es stark nach den Thymianstauden, die schon fast ausgetrocknet waren und jetzt ihren Durst gelöscht haben. Üblicherweise schwebt dieser Duft nur dann in der Luft, wenn es im Oktober nach der langen trockenen Zeit das erste Mal regnet.

Tarek spielt im Auto seine Lieblinglieder und fährt Richtung Al-Rabieh. Jedes Mal, wenn er einen kurzen Seitenblick auf Sanaa wirft und ihr Lächeln sieht, fühlt er sich, als habe er die ganze Welt in der Hand. Er parkt das Auto neben dem Fluss, der jetzt, vor der Hitze des Sommers, noch viel Wasser führt. Die Vögel in den Bäumen am Flussufer zwitschern unaufhörlich. Er führt Sanaa in ein Grillrestaurant direkt am Ufer, wo sie gegrillte Hackfleischspieße mit Tabouleh, Hummus und Baba Ghanoush essen.

 

Auf dem Rückweg schlägt er vor, über den Qasiun zu fahren, dort bei einem der Stände noch einen Kaffee zu kaufen und ihn an einem schönen Aussichtspunkt zu trinken. So bleibt Tarek bei einem klapprigen, bunt bemalten VW-Bus stehen. Er kennt den alten Kaffeeverkäufer, Abu Said. Tarek kommt oft am Abend mit seinen Freunden her, um Abu Saids legendären Mokka und die atemberaubende Aussicht auf Damaskus zu genießen. Sanaa und Tarek nehmen ihre Kaffeebecher und fahren ein Stück weiter, wo es ruhiger ist. In die nahe gelegene »Luststraße« will er nicht fahren, Sanaa soll keinen falschen Eindruck von ihm bekommen. Kurz vor dem Ende der Aussichtsstraße bleibt er beim »Denk-an-mich-Felsen« stehen. Dort fällt der Berg so steil ab, dass viele Menschen, die ihren Schmerz nicht mehr ertragen konnten, ihn dort mit einem Sprung beendeten. Jeder Damaszener kann eine Geschichte über einen solchen Menschen erzählen. Ob diese Geschichten der Wahrheit entsprechen oder ausgeschmückt sind, kann niemand sagen. Damaszener lieben es, ihren Erzählungen Gewürze hinzuzufügen, und wenn drei Menschen in Damaskus dieselbe Geschichte erzählen, erkennt man den ursprünglichen Inhalt nicht wieder.

»Kennst du die Legende von Mohamad und Lora?«, fragt Tarek Sanaa, während sie den Ausblick bewundern, als säßen sie auf einem fliegenden Teppich.

»Der Muslim und die Christin?«, antwortet Sanaa mit fragendem Blick. »Ach ja, oft bauen Religionen Mauern statt Brücken zwischen den Menschen.«, bedauert sie.

»Ja, und Konfessionen ebenfalls«, bekräftigt Tarek und spürt, dass er etwas anspricht, das er wahrscheinlich an diesem schönen Tag lieber nicht angeschnitten hätte. Er hätte lieber ein Thema gewählt, das ihm den Weg ebnet, ihr seine Liebe zu gestehen. Nach einigen Augenblicken des Schweigens wendet sich Tarek zu Sanaa und schaut sie mit großen, verliebten Augen an. »Du machst mich ganz verwirrt, ich weiß nicht, wie du das schaffst«, lächelt er.

»Was denn?«, fragt sie zurück und freut sich schon auf seine Antwort.

»Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du schöner als das vorige Mal.« Tarek ergreift ihre Hand, er blickt auf ihre Hände, er blickt in ihre Augen, dann führt er ihre Hand zum Mund und küsst sie zärtlich. Er legt ihre Hand auf seine Brust und lässt sie das Hämmern seines Herzens spüren. Sanaa wird rot und senkt den Blick. Tarek zieht sie an sich und umarmt sie fest. Er hat sich noch nie im Leben so sicher gefühlt wie in dieser Umarmung. Doch in diesem Augenblick stößt Tarek einen der Kaffeebecher um, der Inhalt ergießt sich über Sanaas Jeans und den Autositz.

»Scheiße, das müssen wir schnell in Ordnung bringen, bevor es am Sitz trocknet und nicht mehr herausgeht. Sonst habe ich mit meinem Vater ein Problem. Wir fahren zu mir, in unserem Keller gibt es einen kleinen Raum für die Putzfrau, dort hat Om-Fatima ihre Putzsachen, es gibt auch eine Toilette und ein Waschbecken, dort können wir deine Hose reinigen.«

Sanaa schmunzelt wissend, nickt und sie fahren los. Auf dem Weg erklärt er ihr seinen Plan. Es würde kein gutes Ende nehmen, wenn sie gemeinsam beim Betreten des Hauses gesehen würden. Daher wird er sie kurz vor seinem Wohnblock aussteigen lassen, dann die drei Türen – ins Haus, zum Keller und in seinen geheimen Raum – aufsperren, Licht einschalten und sich wieder ins Auto setzen. Sanaa soll hineingehen, jede Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen und im Geheimraum auf Tarek warten. Tarek beobachtet mit klopfendem Herzen, wie Sanaa an seinem Auto vorbei ins Haus hineingeht. Sie macht alles genau nach Plan.

Während sie wartet, sieht sie sich erstaunt um: Das Zimmer im Keller – das Versteck, wie Tarek und seine Freunde es nennen – hat er mit Adnan, Nauras und Aiham hergerichtet, das Gerümpel von Tareks Familie kam in die Keller der anderen Familien. Jetzt stehen hier zwei Sofas, dazwischen ein kleiner runder Tisch, neben der Tür ist ein doppelter Lichtschalter für das helle Deckenlicht und für eine kleine rote Lampe an der Wand. Unter die rote Lampe hat Tarek ein Bild seines Lieblingsdichters Mahmud Darwisch gehängt. Die Farbe an den Wänden ist schon abgeblättert, aber das fällt niemandem auf. Ganz oben unter der Decke sind Lüftungsklappen angebracht, die man auch ganz öffnen könnte, wenn sie nicht schon seit Jahren verrostet wären. In einer Ecke steht ein Heizstrahler, denn im Winter wird es hier drinnen richtig kalt. Im Sommer ist es immer angenehm kühl. In der anderen Ecke ist auf einem Regal eine provisorische Bar eingerichtet, Flaschen mit Raki und Ouzo, Chivas und Black Label stehen da, aber auch eine kleine Wasserpfeife. Obwohl es in Syrien nicht verboten ist, Alkohol zu trinken, stößt es in der Öffentlichkeit auf Ablehnung. So lassen es sich die vier jungen Männer hier mit Getränken aus der Bar beim Kartenspielen und Musikhören gut gehen. Wichtig ist, das Versteck geheimzuhalten, die Eltern dürfen auf keinen Fall etwas davon erfahren, daher erzählen sie auch ihren anderen Freunden nichts, denn sie fürchten Schnüffler. Nur Tareks jüngerer Bruder Salman hat zufällig davon erfahren und war empört, doch seinen Bruder zu verraten, kam für ihn nicht infrage. Für Tareks Eltern ist Alkohol ein Tabu. Tarek selbst löst sich immer mehr von seiner strengen Erziehung. Als Kind hat er in der Volksschule Preise gewonnen, weil er bei Wettbewerben ganze Koranverse auswendig hersagen konnte, und mit seinem Vater den Islamunterricht sufistischer Prediger besucht. Jetzt geht er nicht einmal mehr zum Freitagsgebet. Er findet die Lebensweise der Sufisten zermürbend. Er möchte nicht in Enthaltsamkeit und Abstinenz leben, um im nächsten Leben dafür belohnt zu werden. Denn er glaubt, beides haben zu können – das jetzige Leben genießen und später ins Paradies kommen. Er ist sehr optimistisch, dass Gott ihm aus irgendeinem Grund seine Sünden verzeihen und ihn ins Paradies aufnehmen wird. Diese Leichtigkeit und dieses zuversichtliche Vertrauen in die Zukunft haben sich bis jetzt in seinem Leben durchaus bewährt.

Tarek schaut sich um, ob ihn jemand beobachtet, und folgt schnell Sanaa. »Das also ist das Versteck, in dem ihr euch immer verschanzt«, sagt sie, als Tarek den Raum betritt. Er nickt lächelnd, und während er die Tür zweimal hinter sich absperrt, bittet er sie, sich hinzusetzen. Leichter Zigarettengeruch steigt auf, aber beide nehmen es nicht wahr. »Jetzt sehe ich erst, dass ich dir hier nichts zu trinken anbieten kann außer alkoholischen Getränken«, stellt Tarek sich dumm und hofft im Geheimen, dass sie mit ihm ein Glas Whisky trinken wird, was sie jedoch ablehnt.

Tareks Herz klopft heftig, aber er will es nicht zeigen, denn er möchte ein starker, lässiger Mann bleiben, der keine Angst kennt. So setzt er sich zu ihr und gesteht: »Ich muss dir ehrlich etwas sagen: Ich habe weder für deine Jeans noch für mein Auto Putzzeug da. Ich wollte dich hier ungestört umarmen, ohne mich um die Blicke der Passanten zu kümmern.«

Sanaa lacht verlegen: »Das habe ich schon gewusst. Du kannst mit mir über alles offen reden, Habibi.«

Tarek traut seinen Ohren nicht: »Hast du mich jetzt Habibi genannt?« Als Sanaa wieder ihr unwiderstehliches Lächeln aufblühen lässt, nimmt er sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Er ist von ihrem Duft berauscht, er weiß nicht, ob es ihr Haar, ihre Haut oder ihr Parfum ist oder eine Mischung von allem. Langsam lösen sich ihre Körper ein wenig voneinander, aber nur so viel, dass sie die Atemluft des anderen auf ihrem Gesicht spüren. Sie sehen sich einige Sekunden lang direkt in die Augen. Sanaas grüne Augen wirken auf Tarek wie Fenster zu fernen Galaxien, die ihn unwiderstehlich anziehen. Dann richtet er mit Mühe den Blick auf ihren Mund und verliert jedes Zeitgefühl. Und ohne zu wissen, wer den Anfang gemacht hat, berühren sich ihre Lippen in einem vorsichtigen Kuss, der immer leidenschaftlicher wird. Ohne es zu wissen, haben sie wahrscheinlich den Rekord des längsten Kusses längst gebrochen, aber trotzdem noch nicht genug voneinander. Es ist Tareks allererster Kuss.

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