Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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Jehudith nestelte etwas an dem groben Stoff und der Spange, bis ihre Haare vollends unter der Kopfbedeckung verschwunden waren. Zu guter Letzt wischte sie sich mit den Händen über die Schulter, damit der durchsichtige Stoff an den Zipfeln des Chapeaus frei hing. Endlich war sie bereit, zurück in den Laden zu gehen, wo ihre Schwester sie bereits gespannt erwartete.

Sarahs anerkennendes Lächeln gab Jehudith die Bestätigung, auf die sie gehofft hatte. Sie nickten dem verdutzten Meister Blasius beim Verlassen des Ladens kurz zu und ließen sich wohlgelaunt mit dem Menschenstrom weiter in Richtung des mächtigen Tores zum Kai treiben.

Auf dem zweistöckigen Turm standen wie immer Soldaten. Zwischen den Köpfen der Menschen und dem runden Torbogen konnten sie bereits das funkelnde Wasser ausmachen und bald auch das Kastell auf der anderen Seite des Rheins.

Eine kleine Menschenschlange hatte sich vor dem Durchgang zum Hafen gebildet, die Wächter kontrollierten einzelne Taschen und Säcke. Da Jehudith jedoch einen der Soldaten kannte, konnten sie passieren, ohne angehalten zu werden.

Der sanfte Wind, der über Jehudiths Haut strich, würde den durchsichtigen Stoff umspielen, der an den Enden ihres Hutes befestigt war. Die geschmiedete Bronzespange, die vom linken zum rechten Ohr über den Kopf gezogen war, gab der fragilen Form der Kopfbedeckung einen stabilen Halt, dem – sie hatte es bereits zu Hause ausprobiert – selbst schnelle Bewegungen nichts anhaben konnten.

Die besondere Mischung aus der verspielten Leichtigkeit des Seidentuches und der Robustheit der breiten Spange hatte es Jehudith sofort angetan, als sie das kleine Kunstwerk das erste Mal bei Schmuel Hendlein betrachtet hatte. Und da der Glasschmuck, den sie in ihrem Laden verkaufte, so gut lief, war es ihr nicht schwergefallen, Chaim von der Notwendigkeit eines neuen Chapeaus zu überzeugen. Nun war es das erste Mal, dass sie ihn im Freien trug. Mit Wohlgefallen registrierte sie die neugierigen Blicke, die ihre neue Kopfbedeckung auf sich zog.

Auf dem Treidelpfad zwischen Worms und Mainz

Irgendwann erinnerte sich Peter daran, dass er ja der Erste sein wollte, der die Türme der großen Kirche sehen würde. Er ließ die singenden Mönche hinter sich und stürmte weiter nach vorn.

Er traf auf zwei Männer, beide etwas jünger als sein Vater. Der eine trug ein grünes Wams und einen lustigen Hut mit einer Feder auf dem Kopf. In der rechten Hand hielt er eine Tonkaraffe mit schlankem Hals. Der andere schleppte einen Beutel über der Schulter, der am Ende eines Holzstabes festgezurrt war. Sein Oberkörper war nackt und stark behaart. Beide gingen in hohen Stiefeln mit raffinierten Bronzeschnallen an der Seite. So ein Paar Stiefel hätte Peter auch gern gehabt. Er schritt eine Zeit neben den zwei Männern her, die sich laut und etwas lallend unterhielten.

»Es läuft sich gut in den neuen Schuhen, viel besser als in den Holzpantinen, in denen man sich dauernd Blasen holt«, sagte der mit dem nackten Oberkörper.

»Hatte zwei Paar Schuhe, dieser verdammte Jude, eines schöner als das andere«, antwortete der mit dem grünen Wams und nahm einen kräftigen Schluck aus der Karaffe.

»Hä, hä. War ausgesprochen nett von ihm, sie uns zu überlassen«, sagte sein Kamerad und riss ihm dabei die Karaffe vom Mund.

»He!«, rief der mit dem Wams. »Nicht so hastig.«

»Aber das Judenweib war ganz trocken, hat gar keinen Spaß gemacht«, brummte der mit dem nackten Oberkörper, während er sich die Karaffe an den Mund führte. Nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte, rülpste er laut, und ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Aber wie ihr Mann dazwischengehen wollte, das war schon ein Vergnügen.«

Der andere prustete los und stieß seinem Kameraden in die Seite, dass dessen Holzstab fast auf den Boden gefallen wäre. »Hast ihm das Messer in seinen beschnittenen Schwanz gerammt. Mein Gott, der hat geschrien wie am Spieß.«

»Nicht lange.«

»Nee, der hatte es eilig, in seine Judenhölle zu kommen.«

Sie grölten, als hätten sie etwas Lustiges gesagt.

»Wie du der Alten ihren prallen Arsch versohlt hast, als sie nicht wollte, das war auch nicht von schlechten Eltern«, lobte nun der Behaarte.

»Da haben die Kinder gleich gelernt, wie man ’ne Frau ordentlich behandelt.«

»Ja, die sollten uns dankbar sein.«

»Danach hat sie sich nicht mehr gewehrt.«

»Alles eine Frage der richtigen Herangehensweise.« Das Grinsen des Mannes mit dem behaarten Oberkörper ließ Peter schaudern.

»Trotzdem war sie ganz trocken.«

»Und geflennt hat sie auch noch.«

»Da kommt einfach kein Spaß auf mit den Judenweibern.«

»Aber die Stiefel sind gut.«

»Und der Wein erst.« Der im grünen Wams streckte seinen Arm fordernd aus. »Komm, gib schon her, du trinkst das gute Zeug ja ganz alleine weg.«

Zwar verstand Peter nur die Hälfte von dem, worüber da gesprochen wurde. Aber das war genug. Von diesen zwei Männern wollte er sich auf jeden Fall fernhalten, sie waren ihm nicht geheuer.

Mainz – in der Synagoge

Vor dem Ausgang der Synagoge sammelten sich die Gottesdienstbesucher. Chaim kämpfte sich durch die Menge, doch hatte er kaum noch Hoffnung, auf Rachels Mann zu treffen.

Die Menschen standen in einem Kreis um eine junge Frau, die nicht aus Mainz zu kommen schien. Zumindest konnte Chaim sich nicht erinnern, sie in ihrer Gemeinde gesehen zu haben. Unter Dreck und Staub war ein bildhübsches Gesicht erahnbar. Ein mit kostbaren Perlen bestücktes Schapel saß schief auf ihrem Kopf und hielt ein blaues Samttuch, das über dem rechten Ohr eingerissen war. Ihr reich mit Borten verziertes Kleid war ganz lehmig am unteren Saum wie auch ihre Lederschuhe, deren strahlend rote Farbe unter der feuchten Erde stellenweise hervorschimmerte.

Kalonymos kam hinzu. Mit seinen großen Händen bahnte er sich einen Weg durch die Menge und stand der Frau nun direkt gegenüber. »Wer bist du, Weib?«

Die Frau schaute zum Parnas auf und antwortete: »Ich bin Noa, die Frau …« Sie machte eine kurze Pause. »… die Witwe von Levi ben Melchi aus Worms.«

»Ich bin Kalonymos ben Meschullam, der Parnas von Mainz. Ich kenne deinen Mann, er ist Kaufmann. Ist es nicht so?«

»Ja, das war er. Er wurde ermordet.« Noas Gesicht verzerrte sich für einen Wimpernschlag, doch sofort hatte sie sich wieder im Griff und schaute dem Parnas direkt in die Augen.

»Erzähl! Was ist euch widerfahren?«

Immer mehr der Gottesdienstbesucher kamen hinzu, der Kreis um Noa und den Parnas vergrößerte sich. Chaim spürte eine gespenstische Stille um sich herum.

Noa schien es gewohnt zu sein, im Beisein vieler Menschen zu sprechen. Mit klarer Stimme antwortete sie: »Ich bin vor dem Heer der Unbeschnittenen geflohen. Eine halbe Woche habe ich mich in der Stadt bei guten Christen verstecken können. Dann haben sie mich heimlich herausgebracht. Ich bin über die Hügel gekommen. Den Treidelpfad zu nehmen, schien mir zu gefährlich.«

»Was ist in Worms geschehen?«

Noas Augen wurden stumpf, mit seltsam monotoner Stimme fuhr sie fort: »Sie haben uns massakriert. Dutzende der Unseren habe ich tot in den Gassen liegen sehen, und es gibt wohl auch viele, die sich von ihrem Schmutzwasser haben besudeln lassen.«

Chaim stockte der Atem. Stumm schauten sich die Menschen an. Manche hielten die Hände vor den Mund, andere schüttelten stumm ihre Köpfe.

»Erzähl von Anfang an«, forderte der Parnas die Frau auf.

»Unser Rat hatte es nicht glauben wollen, als erste Gerüchte aus Speyer in der Stadt die Runde machten. Mein Mann hatte im Rat für die Flucht plädiert. Man wollte nicht auf ihn hören. Das war, bevor die Ungläubigen sich vor den Toren unserer Stadt breitgemacht hatten.«

»Wie viele waren es?«

»Vielleicht tausend, aber von Süden her kamen immer mehr.«

»Was wird mit uns?«, erhob sich eine Stimme aus der Menge. »Wir müssen etwas tun!«

Kalonymos hob die Hände. »So lasst Noa doch erzählen, danach werden wir uns beraten.«

Die Frau rückte ihr Schapel zurecht und fuhr fort. »Unsere Gemeinde hat sich aufgeteilt. Die einen suchten beim Bischof in der Pfalz Unterschlupf, die anderen versteckten sich in ihren Häusern. Auch ich blieb im Haus bei meinem Mann und unseren Kindern. Wir fühlten uns trotz allem sicher.« Für einen Moment schloss Noa die Augen. »Oh, so dumm waren wir! Unser Nachbar, einer der Berater von Bischof Adalbert, sagte zu uns: ›Seit unbesorgt. Jedermann, der einen Juden tötet, dessen Leben soll verwirkt sein.‹ Und der Bischof versprach, unser Vermögen zu beschützen, das wir ihm anvertraut hatten. Wir hofften, die Irrenden würden bald weiterziehen.« Noa ballte ihre Faust. »Es kam anders.«

Die ganze Pein, die diese stolze Frau erlebt haben musste, sprach aus ihrer Stimme. Chaim musste an Jehudith denken. Übelkeit stieg in ihm hoch.

»Sprich weiter, was ist dann geschehen?«, sagte der Parnas.

»Sie drangen ein in unsere Wohnung. Meinen Mann wollten sie zwingen, ihr übel riechendes Wasser über sich ergießen zu lassen. Standhaft weigerte er sich.« Noas Mundwinkel zogen sich nach unten, ihre Miene versteinerte. »Da stießen diese Unmenschen ihm ein Schwert in den Bauch.«

Eine Frau neben Chaim heulte laut auf.

Nach einiger Zeit sprach Noa weiter. »Sie drängten auch mich, dass ich mich beschmutzen lasse.« Sie schloss die Augen erneut, bevor sie leise weitersprach: »Ich blieb stumm.«

»Was geschah dann?«, fragte der Parnas.

»Sie nahmen mir meine Kinder und ließen mich zurück bei meinem sterbenden Mann. Ich hielt seine Hand, bis er zum Herrn gegangen war. Er wollte nicht, dass ich die Wunde untersuche, er wusste, dass er sterben würde. Und woher hätten wir auch in dem ganzen Tumult einen Arzt rufen sollen.« Die Frau senkte den Blick. »Wir beteten zusammen zum Ewigen, dass Er uns Trost gebe. Mein Mann starb im Glauben an die Güte und die Macht des Einen.«

 

Mosche beugte seinen mächtigen Leib zu der Frau hinunter und sagte mit zarter, warmer Stimme: »Dein Gemahl ist nun bereits im Himmel und sitzt zusammen mit Abraham und seinen Kindern beim großen Festmahl. Und auch du wirst getröstet werden, ruhe dich nun aus, unsere Gemeinde wird dir beistehen.«

Noa lächelte kurz. »Ab und an schaute ich aus dem Fenster. Unsere Frauen wurden nackt durch die Gasse gejagt. Soldaten zwangen sie, sich …« Mit ihrer verschmutzten Hand wischte sich Noa eine Träne von der Wange. »Die Männer schleifte man über den Boden wie das Vieh zur Schlachtbank. Schreien und Weinen überall. Ich weiß nicht, warum sie mich in unserem Haus vergaßen.«

Chaim hörte Rufe von rechts und links.

»Was wird mit uns?«

»Unser Parnas muss sagen, was wir tun sollen.«

»Wir müssen fliehen, bevor sie auch zu uns nach Mainz kommen.«

»Aber wohin sollen wir fliehen? Wo würden die Gottlosen uns nicht finden?«

Mainz – am Hafen

Mit all seiner Macht strömte der Rhein an Sarah und Jehudith vorbei. Neben vielen kleineren Treidelschiffen lagen drei Zweimaster vor Anker, zwischen denen sich ein altes Normannenschiff zum Auslaufen bereit machte. Leise platschten die Wellen ans Ufer, an dem die beiden Schwestern entlangschlenderten. Erst im vergangenen Jahr war der Hafenbereich erneuert worden. Die schiefen Steine, die wohl noch aus Römertagen stammten, waren eingeebnet und der Weg entlang der Stadtmauer mit großflächigen roten Sandsteinen verbreitert worden, auf denen man angenehm spazieren konnte. Mindestens eine Rute breit sollte der Treidelpfad nach dem Erlass eines Merowingerkönigs sein, nun waren es hier am Hafen ganze drei Ruten.

Seitdem war dieses Stück Rheinufer die Flanierfläche in Mainz.

Im Schatten der vier Mann hohen Stadtmauer drängten sich neben Musikern, Reliquien- und Tuchhändlern eine Vielzahl von Ständen mit herrlich duftenden Nüssen, die in flachen Eisenschalen über Feuern geröstet wurden. Auch gebratener Fisch und, wie Jehudith mit Ekel feststellte, gegrilltes Schweinefleisch wurde von Marktschreiern feilgeboten. Zwischen den Ständen saßen einige Bettler und zeigten ihre verkrüppelten Gliedmaßen. Eine Magd mit einem blauen Kopftuch trug ein Netz gefüllt mit Fischen auf ihrem Rücken. Sie nahm eine Münze aus dem Beutelchen an ihrem Gürtel und reichte das Geldstück einer Bettlerin, die beide Beine verloren hatte. Die Verkrüppelte streckte ihre entstellten Hände aus und formte sie zu einer Schale, in die die Magd das Almosen legte. Gerne hätte auch Jehudith der armen Frau zwei Sachsenpfennige gegeben, aber wegen des Sabbats war ihr dies nicht erlaubt.

Sie bummelten weiter. Sarah holte ein Säckchen Walnüsse unter ihrem Kleid hervor und bot es Jehudith an. Während die beiden Schwestern die mundgerechten Köstlichkeiten genossen, sprachen sie über den bevorstehenden Tag. Aber so anregend das Treiben um sie herum auch war, so machte es ein vernünftiges Gespräch mehr und mehr unmöglich. Daher entschieden sich die beiden Schwestern, ihre Unterhaltung bei einem Kräutersud in Jehudiths Haus fortzusetzen.

Mainz – in der Synagoge

»Bis zur Dämmerung blieb ich bei meinem toten Mann. Dann verließ ich das Haus, meine Gugel tief ins Gesicht gezogen«, berichtete Noa weiter. »Ich lief vorbei an Leichenhaufen. Jünglinge und Greise lagen nackt übereinander, überall aufgeschlitzte Kehlen oder abgetrennte Köpfe.«

»Oh ewiger Herr, sieh was geschieht mit dem Überrest Israels!«, rief Mosche laut. »Wo bleiben Deine Wundertaten?«

Chaim schloss die Augen. Das Bild von Jehudith, David, Benjamin und Hannah, die tot und nackt in einer Gasse lagen, überwältigte ihn. Er musste sich an seinem Nebenmann festhalten, während er versuchte, die grausame Vorstellung aus seinem Kopf zu vertreiben. Nein, nein, so etwas durfte niemals geschehen.

»Dann kam ich ans Tor. Die Soldaten mit den blutigen Kreuzen bewachten es, keiner wurde hinausgelassen. Auch kein Christ.« Noa hustete, ihre Stimme wurde immer rauer.

»Deshalb also erhielten wir keine Nachrichten von unseren Brüdern und Schwestern aus Worms«, rief Schmuel Hendlein.

»Gebt der Frau frisches Wasser«, befahl der Parnas.

»Es gab keinen Weg hinaus aus der Stadt. So kehrte ich um und traf auf eine der Unseren und ihren Mann.«

Ein Becher wurde dem Parnas gereicht. Er übergab ihn Noa. »Hier, trink. Dann spricht es sich leichter.«

Noa leerte den Becher in einem Zug und fuhr mit ihrem Bericht fort. »Der Mann hielt den Blick gesenkt. Seine Frau fauchte mich an. ›Bleib weg von uns‹, sagte sie, ›wir sind verloren. Wir waren nicht stark genug.‹«

Mosche nahm die Hand vor das Gesicht. »Die Armen, sie haben ihr Seelenheil verwirkt.«

Noa warf ihm einen harten Blick zu und hob die Stimme. »›Ihr lebt, kommt Zeit, kommt Rat‹, erwiderte ich. Der Mann zog seine Frau weiter.«

»Es gibt keine Rettung, wenn man sich einmal vom Einen abgewandt hat«, erwiderte Mosche traurig.

Noas Mundwinkel zuckten geringschätzig. »Auf dem Weg zum nächsten Tor sah ich, wie sie die Wohnungen der Unseren plünderten. Sowohl Städter als auch Soldaten. Trunken von Wein und Gier stritten sie um Schmuck und Kleider. Ich ging schnell weiter und kam an der Synagoge vorbei. Die Torahrollen lagen im Dreck der Straße, mit ihren Stiefeln trampelten sie darauf herum.«

»Welch ein Frevel.«

»Seid still und lasst die Frau weitersprechen!«, rief der Parnas in das aufkommende Stimmengewirr.

»So irrte ich durch die Stadt. Nach Hause traute ich mich nicht. Ich wusste nicht, wo ich die Nacht verbringen sollte. Da traf ich auf Kunden meines Mannes, Christen. Sie erkannten mich, obwohl ich mein Gesicht zu verhüllen suchte.«

»Was geschah dann?«

»Die Frau nahm mich am Arm und führte mich in eine dunkle Seitengasse. Erst dachte ich, sie wollte mich an die Tollwütigen übergeben. Ich wollte mich schon losreißen, da sagte sie: ›Hab keine Angst. Wir wollen dir helfen.‹«

»Seht ihr, es gibt auch gute Christen.« Chaim verstummte jedoch sofort, als er die Blicke um sich wahrnahm.

»Sie brachten mich zu einer kleinen verfallenen Hütte nahe der östlichen Stadtmauer. Sie sagten: ›Hier kannst du bleiben, bis die Tore wieder frei sind. Wir werden dir zu essen und zu trinken bringen.‹«

Noas Stimme wurde wieder rau. Der Parnas nahm ihr den Becher aus der Hand und reichte ihn einer Frau, die Wasser aus einer Karaffe nachfüllte.

»Ich blieb dort drei Tage. Am Abend des dritten habe ich mich herausgetraut. Die Stadt war immer noch voll von Soldaten mit dem verwerflichen Zeichen auf dem Rücken, die Tore wurden weiterhin von ihnen kontrolliert, nur einzelne Wagen wurden herein- und hinausgelassen. Daher kehrte ich in die Hütte zurück.« Noa musste husten. »Am Tag darauf kam die Christenfrau mit Essen und Geld. In einem Marktkarren versteckt haben sie mich aus der Stadt geschleust.«

»Und dann?«, fragte der Parnas, während er ihr den vollen Tonbecher reichte.

»Zunächst traute ich mich nur des Nachts durch den Wald und versteckte mich tagsüber. Ich wechselte bald auf die andere Rheinseite, wo weniger Menschen waren. Der Ferge erkannte mich, sagte jedoch nichts.« Noa nahm einen kräftigen Schluck. »Am dritten Tag nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und zeigte mich auf der Straße nach Basinusheim. Ein Händler nahm mich schließlich mit auf seinem Wagen.«

»Du sagtest, viele der Unseren hätten sich zur Pfalz des Bischofs begeben. Was ist mit ihnen geschehen?«, fragte der Parnas.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Noa. »Der Händler redete viel. Er tat mir nichts, wollte wohl nur etwas Gesellschaft haben auf der langen Fahrt. Und so verdreckt nach all den Tagen im Wald war ich ja auch nicht mehr schön anzusehen. Dies und das habe ich aufgeschnappt, aber ich war müde von den Nächten in der Wildnis. Und ich wollte nicht allzu viel fragen, sonst hätte er mich als eine Jüdin erkannt.« Noa dachte einen Moment nach. »Die Pfalz ist gut gesichert. Ich glaube, dass sie dort untergekommen sind. Ich kann mich erinnern, dass die Christenfrau beim Abschied sagte, das Tor zur Pfalz wäre noch immer geschlossen.«

Chaim sah einen kleinen Hoffnungsschimmer. In Worms war es deutlich schlimmer gewesen als in Speyer. Die bewaffneten Pilger mussten irgendwie in die Stadt gekommen sein. Aber die Mehrzahl ihrer Brüder und Schwestern war vermutlich beim Bischof in Sicherheit. So warf er ein: »Hat uns der Ewige nicht aus Ägypten herausgeführt?«

Keiner der Umstehenden erwiderte etwas.

»Wo ist das Heer der Verirrten jetzt?«, drängte Kalonymos.

»Das kann ich nicht sagen. Der Wagenfahrer ließ mich in Basinusheim absteigen. Dann nahm ich den Weg über Griezheim und Gerau zu euch nach Mainz. Die bewaffneten Horden kamen wohl aus Speyer entlang des Treidelpfades.«

Kalonymos verbeugte sich. »Tapferes Weib, ich danke dir für deinen Bericht.«

Mosche trat vor und sagte: »Komm in unser Haus, meine Frau wird dir ein warmes Bad bereiten und dir saubere Kleidung geben. Danach sollst du dich satt essen und schlafen. Du stehst nun unter unserem Schutz.«

Kalonymos richtete seinen Blick auf die Umstehenden. »Der Rat wird trotz des Sabbats zusammenkommen. Die Situation lässt uns keine andere Wahl. Zur Non werden wir uns hier in der Synagoge wiedertreffen. Dann werden wir euch sagen, was zu tun ist. Bis dahin bleibt ruhig und betet, dass der Herr uns schonen möge.« Er schaute sich im Kreis um. »Mosche, Schmuel und Salomo, kommt mit in mein Haus. Ebenso du, Chaim. Wir werden auch über Rachel sprechen müssen.«

Mainz – am Hafen

Jehudith und Sarah schlenderten durch das Fischtor und dann über den Heumarkt. Sie passierten die Kirche Sankt Maria ad Gradus und wandten sich auf halber Höhe des Doms nach rechts zu Jehudiths Heim. Dort tranken sie etwas Aufguss, naschten von dem gestern gebackenen – und daher angenehm weichen – Mandelbrot, und gingen nochmals den Ablauf des morgigen Hochzeitstages durch. Jehudith wusste ihrer Schwester die eine oder andere Sorge zu nehmen, insbesondere was die Viertelstunde des Jichuds anging, in der Mann und Frau nach der öffentlichen Zeremonie allein sein durften. Sie sollte sich zunächst mit einem Kuss begnügen und die Freuden der Vereinigung am späteren Abend in Ruhe genießen oder besser noch am nächsten Tage.

So waren sie bester Sabbatstimmung, als David die Treppe hinaufpolterte und ganz aufgeregt von einer Frau in prachtvollen, aber schrecklich schmutzigen Kleidern erzählte, die fürchterliche Dinge aus Worms zu berichten wusste. Und als David erklärte, dass sein Vater irgendwie merkwürdig gewesen sei und nun an der am Sabbat einberufenden Sitzung des Rates teilnahm, war die friedliche Feiertagsstimmung mit einem Schlag dahin.

Auf dem Treidelpfad zwischen Worms und Mainz

Immer weiter eilte Peter nach vorn. Er traf auf einen Bauern und seine Frau, die auf dem Bock eines Ochsengespanns saßen. Die Frau fummelte an einem feinen Diadem auf ihrem Kopf herum.

»Anna, versteck den Judenschmuck besser, ist zu viel Gesindel hier«, sagte der Mann.

Sein Weib maulte zurück: »Da hat man mal etwas Schönes und dann soll man es verstecken.«

Peter ging vorbei an dem Wagen und traf auf eine Schar Gänse, die eine Frau mit einer langen Weidenrute zusammenzuhalten versuchte. Immer wieder schlug sie auf die Flügel eines Ganters, der zum Ufer des Rheins auszubrechen drohte. Die Gänse schnatterten verdrießlich, blieben aber beieinander.

Peter überholte die Gänseschar, lief vorbei an Reitern und schlängelte sich durch grunzende Schweine und Hühner, die ihm unter lautem Gegacker Platz machten.

Der Priester in der roten Kutte hatte ihm die Augen geöffnet. Warum sollte Peter von Gerstendorf sein Leben auf einem engen Hof verschwenden und sich auf ewig abrackern? Was für ein Tausch war ihm gelungen: Statt eines Lebens in dörflicher Mühsal und Knechtschaft erwartete ihn nun die weite Welt. Bald würde er eine Frau sein Eigen nennen können, tausendmal schöner als all die einfältigen Bauernmädchen in ihren abgewetzten Kleidern. Reich würde er werden und ein Haus für seine Kinder bauen, auf einem der Hügel um Jerusalem herum.

Er musste lächeln. Vielleicht würden sie ja nach fünf Sommern zurückkommen. Da würden Vater und Mutter staunen. Peter von Gerstendorf kommt zurück aus der Fremde, hoch zu Ross, mit einem dicken Beutel Geld und einer arabischen Schönheit, würde es heißen.

 

Schon konnte er die stolzen Pferde sehen, die er als Erstes von seinem Acker ausgemacht hatte. Da war sie, die Spitze des Zuges. Wie stolz die Ritter zu Pferde saßen und wie schön die Fahnen im Wind flatterten. Nur noch an den Fußsoldaten musste er vorbei, dann könnte er sie ganz von Nahem sehen.

Jäh wurde er von einer Lanze zurückgehalten.

»Kleiner, was willst du hier?«, raunzte ihn der Lanzenträger an.

»Ich will ganz vorn laufen, ich möchte die Türme des Domes sehen, die die Wolken kitzeln«, antwortete Peter fröhlich.

»Ganz vorn, da laufen keine Bauernjungen. Das ist den Rittern vorbehalten.« Der Lanzenträger schüttelte ungläubig den Kopf. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gab er Peter eine Kopfnuss, die richtig wehtat. »Geh wieder nach hinten, zum gemeinen Volk. Du wirst die große Stadt früh genug zu sehen bekommen.«

Peter schmollte, aber was sollte er tun? Er setzte sich auf einen Stein am Wegesrand, ließ die Menschen an sich vorbeiziehen und blickte über den Rhein, der kraftvoll Richtung Mainz rauschte.

»Na, war der junge Herr da etwas zu vorpreschend?«, sprach ihn die Frau an, die soeben noch das Diadem getragen hatte. Sie lächelte freundlich. »Komm, steig auf unseren Wagen. Auf dem Bock ist genug Platz. Spar dir deine Kraft lieber für später auf.«

Der Mann reichte Peter die Hand und zog ihn hoch. »Wir haben noch ein paar Leckereien aus Worms. Bei allen Heiligen war das eine Schlachterei. Aber das Essen war gut. Magst du ein Stück Lammfleisch?«

So verging einige Zeit mit Reden und Speisen. Peters Laune hellte sich langsam wieder auf. Und der Lammbraten war herrlich saftig, genau wie Peter es mochte.

Und endlich sah er sie zum ersten Mal: die zwei hohen runden Türme der riesigen Kirche aus rotem Stein. Oh Gott, wie hoch sie waren! Die Alte aus dem Dorf hatte nicht übertrieben. Wirklich, die Turmspitzen kitzelten die Wolken.

Mainz – in Jehudiths und Chaims Haus

Nach Davids bestürzendem Bericht hatte sich Sarah bald zu ihren Eltern aufgemacht. Jehudith gab ihr zwei Nachrichten mit. Zum einen für die Frau des Parnas, der ganz in der Nähe ihres Elternhauses wohnte: Chaim solle unbedingt nach der Sitzung des Rates nach Hause kommen. Und ihren Eltern sollte Sarah sagen, dass Jehudith mit Chaim nachkommen würde, um mit der Familie zu Abend zu essen.

David zog es nach draußen zu Ida. Seine Laune war von den Ereignissen anscheinend nicht allzu sehr getrübt, stellte Jehudith mit Erleichterung fest. Sie musste nun jedoch Klarheit haben, und dafür musste sie mit Chaim allein sprechen.

Ungeduldig wartete Jehudith auf die Rückkehr ihres Mannes. Chaim, zurechtgewiesen vom Parnas, die nackten Leichen in Worms, die ganze Zeit musste sie daran denken. Davids Bericht erschien ihr umso wirrer, je länger sie grübelte. Trotz seiner zuweilen wilden Fantasie hätte ihr ältester Sohn sich all dies nicht ausgedacht, er war ja keine neun mehr. Etwas war dabei, völlig aus dem Ruder zu laufen. Vermutlich war es viel Wind um nichts, versuchte sie sich zu beruhigen. Immer wieder schaute sie aus dem Fenster der Stube hinaus auf den Marktplatz. Dort bot sich nur der Anblick des üblichen Samstagstreibens. Die Schenken waren gut besucht, eine Gruppe Musikanten spielte zum Tanz auf, dem sich jedoch nur wenige der Mainzer anschlossen. Auf den Bänken der Wirtshäuser im Schatten der Leintücher, die man auf Pfähle gespannt hatte, ließ es sich wohl besser aushalten als in der prallen Sonne.

Von Chaim war weit und breit keine Spur zu sehen.

Sie konnte nicht still dasitzen, so suchte sie etwas, um sich abzulenken. Jehudith sah auf die löchrigen Fußlappen der Familie, die bereits seit einigen Wochen in einer Kiste unter dem Fenstersims lagen und dringend gestopft werden mussten. Jehudith nahm den Stopfpilz, das Garn, die Nähnadel und einen der Lappen aus dem Bastkorb und war schon dabei, den Faden durch das Nadelöhr zu ziehen, da wurde ihr gewahr, dass heute Sabbat und daher jegliches Nähen verboten war. Seufzend ließ sie die Stopfsachen in die Kiste zurückfallen und goss sich ein wenig Wasser in einen Holzbecher, den sie auf das Fensterbrett stellte.

Nach mehr als einer Stunde der Grübelei sah sie schließlich ihren Mann aus der Langen Gasse auf den Marktplatz kommen. Jehudith erkannte sofort, dass es schlecht stand. Chaim ging gebeugt und hatte diesen fahrigen Blick, den er immer dann an den Tag legte, wenn er kurz davor war, in seine verdammte Schwermut zu verfallen. Unter Umständen saß er tagelang in seinem Zimmer herum und starrte die Wand an. Absolut nichts war dann mit ihm anzufangen. Chaim und seine Melancholie, ihre Mutter hatte sie schon vor der Hochzeit davor gewarnt.

Sie ging die Treppe hinunter zum Laden. Wie ein begossener Pudel stand er da.

»Wie geht es dir, Schatz?«, fragte sie.

Chaim schaute an ihr vorbei und wollte sich durchdrängeln, aber Jehudith hielt ihn an den Armen fest. »Was ist los?«

Chaim schloss die Augen. »Frag lieber nicht. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Geh du allein zu deinen Eltern, ich muss mich etwas hinlegen.«

Chaim, jetzt stell dich um des Herrn willen nicht so an, dachte sie. Jehudith wusste jedoch, dass sie ihren Ärger zunächst zurückstellen musste, Ungeduld würde jetzt eher schaden. »Leg dich ruhig hin. Ich brühe dir eine von Salomos Kräutermischungen auf und du erzählst mir, was passiert ist.«

»Nein, nein«, antwortete Chaim und versuchte, sich aus Jehudiths Griff zu lösen. »Lass mich schlafen, mir geht es nicht gut.«

Chaim, du Idiot, jetzt rück endlich raus mit der Sprache. Jehudith entschied sich für die direkte Konfrontation. »David hat mir ganz seltsames Zeug erzählt, etwas von einer Schelte des Parnas.«

Chaim wich ihrem Blick aus. Also war das schon einmal wahr.

»Und dann hat er noch etwas von nackten Leichen in Worms gesagt«, setzte sie nach.

»Ich habe wirklich ganz heftige Kopfschmerzen. Ich berichte dir alles, sobald es mir besser geht.«

Chaim, ich muss wissen, was los ist, wollte sie erwidern. Aber sie durfte ihn jetzt nicht zu sehr drängen, sonst würde er völlig bockig reagieren. »Gut, geh nach oben. Ich komme gleich.«

Sie ließ ihn los.

Er nutzte die Gelegenheit, um sich an ihr vorbeizuschieben, während er vor sich hin murmelte: »Die ganze Welt gerät aus den Fugen, und das am Sabbat. Da ist es am besten, wenn man schläft.«

Sapperlot, Chaim, sei ein Mann, dachte sie, und in ihrem Ärger platzte es aus ihr heraus: »Steht das etwa in deinen Büchern?«

Schon während sie es aussprach, bereute Jehudith ihre Bemerkung. Chaims Bücher waren ihm heilig. Entsprechend verärgert keifte er zurück: »Lass meine Bücher aus dem Spiel, mir geht es elend genug.«

Es stand nun auf Messers Schneide. Ein falsches Wort, und Chaim würde die nächsten Tage schmollen. Keine Macht des Himmels konnte ihn dann zu etwas bewegen. Sie musste die Strategie wechseln. »Du Armer, leg dich hin.«

Sie trat auf die Treppe zu ihm, drückte ihren Mann an die Brust und flüsterte ihm ins Ohr. »Ich hole uns etwas Sud und ein paar Scheiben von dem köstlichen Mandelbrot. Dann setze ich mich zu dir ans Bett.«

Chaim seufzte wie der leidende Hiob persönlich und ließ seinen Kopf an ihrem Busen ruhen. Schließlich löste er sich aus der Umarmung, sah Jehudith erschöpft an und nickte. »Meinetwegen, aber bring auch die Himbeermarmelade mit.«

»Mach ich, mein Held.«

Mainz – auf dem Wehrgang

Zwei Stunden lang hatte Raimund zusammen mit dem Vogt bereits die Stadtmauer inspiziert. Vom Jakobstor hinauf zur Dulcinesheimer Pforte, dann die Höhe entlang in Richtung des Altmünsters. Den größten Teil der Strecke hatten sie auf dem Trampelpfad auf der Innenseite der Mauer zurückgelegt, immer wieder waren sie die Wehrtürme hinaufgegangen. Von Erkenbald hatte die Wachen auf die drohende Gefahr hingewiesen und Anweisungen gegeben. Nur den Mainzern und den Menschen aus den Gemeinden, die Schutzzoll zahlten, war es von nun an erlaubt, die Stadt zu betreten. Und kein Unbefugter durfte mehr hinaus, eine schriftliche Erlaubnis mit dem Siegel des Bischofs war dafür erforderlich. Außerdem sollten die Tore schnellstens geschlossen werden, wenn sich Bewaffnete von außen näherten.