GEWALT, GIER UND GNADE

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Womöglich wollte Adolf Haas in naher Zukunft bekannte Gesichter um sich wissen. Denn spätestens seit September 1938 wusste er, dass gleich am ersten Tag einer Mobilmachung einige der „über 45-jährigen SS-Angehörigen zur Bewachung der Konzentrationslager“ sofort eingezogen werden sollten.198 Und am Montag, dem 14. November 1938, sollte er seinen 45. Geburtstag feiern. Der einstige „Verteidiger von Tsingtau“, der in seinem ersten Krieg nur wenige Tage gekämpft hatte, musste so kaum einen Fronteinsatz im nächsten Krieg befürchten. Die Alternative, die „Arbeit“ in einem Konzentrationslager, nahm er gerne in Kauf.

2.7 Der Zerstörer: Das Novemberpogrom im Westerwald, 1938

Der Abend des 9. Novembers 1938 hätte gemütlich ausklingen können. Mit Bier und Radiohören. An diesem Mittwochabend hatte Adolf Haas seine SS-Männer angewiesen, nach Erbach (Nistertal) bei Marienburg zu kommen, knapp neun Kilometer südöstlich von Hachenburg. In einer Gastwirtschaft wollten sie gemeinsam einer Rede Himmlers lauschen, erinnerte sich ein ehemaliger SS-Mann nach dem Krieg.199 Es war der „Gedenktag für die Bewegung“, der Jahrestag des „Hitlerputschs“ 1923, zu dessen Abschluss der „Führer“ und Reichsführer-SS in München um Mitternacht feierlich neue SS-Rekruten vereidigen wollten. Doch Neuigkeiten aus Paris störten die „Gedenkfeier“. Zwei Tage zuvor hatte dort der polnische Jude Herschel Grynszpan voller Wut mit einem Revolver auf den Diplomaten Ernst von Rath geschossen. Es war ein Akt der Rache und Verzweiflung gegen die deutschen Behörden, die seine Familie zusammen mit Zehntausenden anderen Polen auf brutalste Weise in ein Grenzgebiet zwischen Polen und Deutschland abgeschoben hatten.

Die Nachricht vom Attentat hatte die antijüdische Stimmung im Reich verschärft, die ohnehin bereits durch die regelmäßige Propaganda aufgeheizt gewesen war. Schon an den Abenden des 7. und des 8. November 1938 war es zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen, vor allem in Kurhessen und Kassel sowie in Magdeburg-Anhalt. Noch waren es jedoch spontane Gewaltexzesse lokaler NSDAP- und SA-Funktionäre gewesen, die dem Willen ihres „Führers“ „entgegenarbeiten“ wollten, wie es Hitlers Biograf Ian Kershaw formuliert.200 Erst als der angeschossene Diplomat am 9. November seinen Verletzungen erlag, nutzten Hitler und sein Propagandaminister Goebbels die Gelegenheit, das größte Pogrom der Neuzeit in Mitteleuropa anzustoßen. Einen Generalplan gab und brauchte es dazu nicht. Mit einer Hetzrede um 22 Uhr vor hohen NSDAP-Funktionären und SA-Führern inszenierte Goebbels den vermeintlichen „Volkszorn“: Ausschreitungen gegen Juden seien „von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren“, allerdings sei ihnen „soweit sie spontan entstünden auch nicht entgegenzutreten“.201 Die anwesenden NS-Funktionäre verstanden dies umgehend als Aufforderung, die „spontanen“ Aktionen des „Volkszorns“ in die Wege zu leiten. „Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln“, notierte Goebbels später in seinem Tagebuch.

In Erbach wollten die SS-Männer nach dem Ende der Mitternachtsrede, die Himmler trotz allem gehalten hatte, bereits ihre Wagen besteigen. Da rief der Wirt: „Adolf, komm mal, du sollst ans Telefon kommen!“202 Nach zehn Minuten kam Haas zurück und erklärte drei ausgewählten Kameraden, er habe soeben den Befehl erhalten, als „Vergeltung“ für die Ermordung des Diplomaten „die Synagogen in Brand zu stecken“. 50 Liter Benzin standen zur Verfügung. Zunächst sollten aber alle nach Hause fahren, Zivilkleidung anziehen und abwarten. Am nächsten Morgen, dem 10. November, sammelte Haas seine Männer mit zwei Personenwagen ein. Die Nummernschilder waren verhängt und im Innern lagen bereits Gebetsrollen und Stoffbanner aus Synagogen der Umgebung. Das Ziel war Mogendorf, etwa 20 Kilometer südwestlich von Hachenburg. Dort besorgte sich der Trupp bei einem Bewohner eine Axt und betrat die fast hundert Jahre alte Synagoge. Im Nachbarhaus lief ein Mädchen zu ihrem Vater und berichtete: „Ich glaube, draußen schlagen sie die Judenschule kaputt!“203

Haas und seine Männer zertrümmerten Fenster, Türen und die sonstige Inneneinrichtung der Synagoge – bis auf ein paar Glühbirnen, die sie mitnahmen. Die Anwohner Mogendorfs schauten nicht nur tatenlos zu, einige kamen sogar vorbei und holten sich Bretter der zerschlagenen Bänke für ihre Kaninchenställe.204 In einem Nachkriegsverfahren gegen SS- und SA-Männer behauptete ein Angeklagter, sein Vorgesetzter Adolf Haas habe damals befohlen, die Trümmer aufzuhäufen und anzuzünden. Er selbst habe ihn jedoch zur Räson bringen können, indem er eindringlich davor warnte, dass die Nachbarhäuser auch in Flammen aufgehen könnten. Keiner konnte ihm widersprechen, da er der Einzige war, der noch über den Ablauf in der Synagoge berichten konnte. Die Anwohner sahen 1938 nur, wie die Männer nach verrichteter „Arbeit“ das Gebäude verließen. Einer von Haas‘ SS-Männern brachte die Axt mit den Worten zurück: „Ich habe heute Morgen schon mehr gearbeitet wie sonst jemand die ganze Woche!“205 Mit den Autos voller gestohlener Gegenstände und Gebetsrollen fuhren sie wieder heim. Um die Juden der Stadt kümmerte sich die SA. Und um die Synagoge. Sie stand am Ende doch noch in Flammen. Endlich griffen die Mogendorfer ein und erstickten das Feuer – jedoch nicht aus Respekt vor der jüdischen Gemeinde, sondern aus Sorge um ihre eigenen Häuser.206

Am selben Tag drangen auch in Haas‘ Heimatstadt Hachenburg SA-Männer und Bürger in die Wohnungen der etwa 25 jüdischen Familien ein und trieben ihre Opfer, egal ob jung oder alt, unter Schlägen, Tritten und Beschimpfungen durch die Straßen. Nach dem Pogromtag berichtete ein SA-Standartenführer, es habe sich in Hachenburg nichts Besonderes ereignet außer der Verwüstung der Hachenburg Synagoge. Diese hatten die Nationalsozialisten nur deswegen nicht abgebrannt, weil auch sie wie in Mogendorf zu nah an anderen Häusern stand. Überlebt hatten lediglich 16 Thorarollen, mehrere Gegenstände aus Silber sowie einige Tücher, Altardecken und Pergamentrollen.207

Nur wenige Tage nach dem Pogrom spottete Hermann Göring: „Ich möchte kein Jude in Deutschland sein.“208 Der angebliche „Volkszorn“ hatte Tausende Geschäfte, Wohnungen, jüdische Friedhöfe und Synagogen zerstört – die unzählbaren Scherben prägten später die verharmlosende Bezeichnung „Reichskristallnacht“. Sie verschleierte, dass nicht nur Zehntausende Mitmenschen gedemütigt und attackiert wurden, sondern auch in einer Woche etwa 400 Juden ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden. Das Novemberpogrom mit seinem Vor- und Nachspiel war der Höhepunkt jahrelanger Diskriminierung und der Wendepunkt hin zur systematischen Verfolgung von Juden. Hier erwiesen sich vor allem die Konzentrationslager als effiziente Werkzeuge des NS-Terrors.209 In den Tagen danach trieben SA- und SS-Männer etwa 30.000 Juden aller Altersgruppen und sozialer Schichten in den Städten und auf dem Land vor den Augen der Nachbarn zusammen und deportierten die meisten von ihnen in eines der drei großen Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Die Situation der Lager veränderte sich dramatisch: Die Häftlingszahlen verdoppelten sich und plötzlich stellten die Juden die Mehrheit der Häftlinge. Die Konzentrationslager „wurden größer und tödlicher denn je zuvor und zugleich schweißten die Diebstähle und Gewalttaten die Lager-SS noch enger zusammen“, schreibt der Historiker Nikolaus Wachsmann.210

Beinahe alle jüdischen Bürger Hachenburgs verließen die Stadt in den Monaten nach den Ausschreitungen, bis die jüdische Gemeinde am 30. September 1939 nur noch zwei Mitglieder zählte.211 Bis dahin hatte auch etwa die Hälfte der etwa 500.000 in Deutschland lebenden Juden ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Die Übriggebliebenen saßen in der Falle. Das von Hitler und Goebbels angezettelte Novemberpogrom 1938 hatte zwar gezeigt, dass man ähnlich effektiv wie in Österreich auch in Deutschland Tausende Juden enteignen, terrorisieren und ins Ausland vergraulen konnte. Es hatte aber auch gezeigt, dass die deutsche Bevölkerung die Gewaltexzesse nicht so umfassend und wohlwollend aufnahm, wie es sich die NS-Führung gewünscht hatte. Hitlers Organisatoren der Judenverfolgung – Reichsführer-SS Himmler, Gestapo-Chef Reinhard Heydrich und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring – schlossen daraus, dass Pogrome innerhalb des Reichs ein Fehler seien, schreibt der Historiker Timothy Snyder. „Sie sollten schon bald ganz ähnliche Pogrome wie Goebbels organisieren, aber eben außerhalb Deutschlands, unter Kriegsbedingungen und an Orten, wo deutsche Gewalt den Staat völlig zerschlagen hatte.“212

3. Der Schutzhaftlagerführer

KZ-Dienst auf Probe in Sachsenhausen

1940

Oranienburg bei Berlin

3.1 Der Neuling: Durch die „Dachauer Schule“ zur Waffen-SS

„Lieber Kamerad Haas!“, schrieb am 2. Oktober 1939 der „Kreiskriegerführer“ aus Hattert, einer Nachbargemeinde von Hachenburg.213 Es ging um die Aufnahme eines Steinbrucharbeiters aus Dehlingen im Oberwesterwald in die SS. Er sei „zwar schon etwas verbraucht“, hatte der SS-Truppenarzt befunden, „aber noch genügend leistungsfähig zum Wachdienst“ in einem Konzentrationslager.214 Westerwälder Bürger genau für diese Aufgabe zu rekrutieren und vorzubereiten, schien die Hauptaufgabe von Adolf Haas gewesen zu sein, seitdem er tatkräftig beim Novemberpogrom 1938 mitgewirkt hatte. Einen Monat nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 war der „Kreiskriegerführer“ allerdings „der guten Hoffnung, dass wir die Kameraden nicht mehr brauchen werden, denn nach den Ereignissen der letzten Tage wird es wohl den Herrn Engländern etwas enger in der Hose werden. Diese Woche werden wir ja Klarheit bekommen. Heil Hitler!“ Gerade einmal einen Monat nach Beginn des Zweiten Weltkrieges kapitulierten die restlichen Verbände der polnischen Armee am 6. Oktober 1939, ohne dass es zu einem Unterstützungsangriff seiner Verbündeten Großbritannien und Frankreich gekommen war. Insoweit behielt der „Kreiskriegerführer“ recht. Den SS-Anwärter aus Dehlingen und viele weitere SS-Männer brauchte man dennoch für den KZ-Wachdienst.

 

Für Adolf Hitler war Polen nur die eine Front, die andere war die Heimatfront. Sein Mann für den Kampf gegen die inneren Feinde war Heinrich Himmler. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bot für den Reichsführer-SS die willkommene Chance, mit dem Ausbau des Terrorapparats im Reich und militärischer SS-Einheiten an der Front auch seine eigene Macht auszubauen. Bürokratisches Zentrum der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung wurde das neu gegründete Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das auf die bestehenden, bewährten Institutionen zurückgreifen konnte, die wahren Orte des Terrors.215

In weniger als einem Jahr verdoppelte sich die Zahl der KZ-Häftlinge auf etwa 53.000: Zu den deutschen und österreichischen Häftlingen, darunter Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, „arbeitsscheue Personen“, Sinti und Roma, Kriminelle, Homosexuelle und weibliche Prostituierte, kamen unter anderem Tausende Polen, Tschechen und politische Gefangene aus dem Spanienkrieg und dem Frankreichfeldzug 1940. Mit der Zahl der Häftlinge wuchs auch das Lager-Netzwerk, von sechs Hauptlagern im Herbst 1939 auf dreizehn Anfang 1942. Bis zum Ende des Krieges richtete die SS insgesamt 27 Hauptlager und rund 1100 angeschlossene Außenlager ein – ein unübersichtliches System gesetzloser Gewalt und Zwangsarbeit. Obwohl Himmler im November 1938 dieses Ausmaß nicht vorhersehen konnte, hatte er doch lange im Vorfeld des Krieges Vorbereitungen treffen lassen. Denn für mehr Häftlinge brauchte er auch mehr Wachen.216

Für die Bewachung und Verwaltung der Konzentrationslager waren die SS-Totenkopfverbände zuständig, für die der Sturmbannführer Adolf Haas 1938 und 1939 so fleißig unter dem Deckmantel der „Polizeiverstärkung“ geworben hatte. Die Wachmänner hatten aber auch in den Lagern lange für den Kampfeinsatz trainiert. Für ihren Reichsführer-SS waren sie keineswegs bloße Gefängniswärter, sondern „politische Soldaten“. Himmler, der seine eigene fehlende Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg immer bereut hatte, konnte sich mit dem neuen Krieg seinen lang ersehnten Wunsch erfüllen: Hitler machte ihn zum Befehlshaber seiner eigenen, von der Wehrmacht unabhängigen militärischen Verbände, bald „Waffen-SS“ genannt. Der Fronteinsatz sollte seine SS als „Eliteorganisation“ stärken: „Würden wir kein Blutopfer bringen und würden wir nicht an der Front kämpfen, hätten wir die moralische Verpflichtung verloren, in der Heimat auf Menschen, die sich drücken und feige sind, zu schießen.“217 Gerade die SS-Wachen der Totenkopfverbände, später zusammengefasst in der SS-Totenkopf-Division, gehörten zu den rücksichtslosesten Mördern im besetzten Polen. Ihre Posten in den Konzentrationslagern mussten nun schnell neu besetzt werden. Um die Ablösung von Tausenden Wachen zu bewältigen, brauchte man auch Sturmbannführer Adolf Haas.

„Lieber Kamerad Haas!“, schrieb der „Kreiskriegerführer“ aus Hattert erneut vier Tage nach dem Ende des Polenfeldzugs. „Anbei noch ein Kamerad, der bereit ist, sich als Wachmann zur Verfügung zu stellen. Jetzt haben wir wohl unsere Zahl voll.“ Er hoffte trotzdem auf weitere Meldungen für eine „Reserve, wenn der eine oder andere mit der Zeit ausfallen sollte“.218 Und es fielen eine Menge Ersatzleute aus. Viele, vor allem ältere, hielten den Druck im KZ-Dienst nicht aus oder wurden wegen menschlicher Regungen von den Lager-Veteranen schikaniert.219 Am 30. November 1939 beschwerte sich der Führer der 78. SS-Standarte, es komme immer häufiger vor, dass „Männer eingezogen werden, die vollkommen dienstuntauglich sind. Teilweise haben diese Männer Leiden, bezw. Gebrechen, die sogar für jeden Laien ohne weiteres klar erkennbar sind“.220 Adolf Haas und die zwei Führer der anderen Sturmbanne sollten ja darauf achten, dass die „einberufenen Männer voll einsatzfähig sind“. Die gleiche Ermahnung ging einen Tag später noch einmal direkt an den Hachenburger. Einer von Haas‘ Männern im niedrigen Rang eines SS-Sturmmanns hatte sich im KZ Buchenwald für „dienstuntauglich“ erwiesen und sollte umgehend ersetzt werden.221

So wie es Himmler bereits 1938 bestimmt hatte, sollten mit Kriegsbeginn vor allem ältere und kriegsuntaugliche, in der Regel über 45-jährige Angehörige der Allgemeinen SS den KZ-Wachdienst übernehmen.222 Das traf auch auf Adolf Haas‘ Sturmbann zu: Einer Liste von 1946 zufolge wurden alle des Jahrgangs 1894 oder älter „kommandiert zur KZ-Bewachung“.223 Darunter waren auch jener SS-Anwärter aus Dehlingen, dessen Bewerbung kurz nach Kriegsbeginn bei Haas eingegangen war, und der SS-Sturmbannführer selbst. Beide waren gleich alt und auf beide passte die Bezeichnung „schon etwas verbraucht“, aber noch „leistungsfähig“. Als langjähriger Führer eines Sturmbannes stand Adolf Haas eine verantwortungsvolle Position in der Waffen-SS zu – allerdings nicht im militärisch-strategischen Sinne. Dafür war sein Rang dann doch zu niedrig und seine Kampferfahrung dank seiner langen Kriegsgefangenschaft zu gering. Sein „Durchschnitt“, der ihm auf dem Führerlehrgang in Dachau bescheinigt worden war, reichte dagegen voll aus für den Dienst im Konzentrationslager. Dort waren weniger Intelligenz als vielmehr Gewaltbereitschaft, Skrupellosigkeit und Gehorsam gefragt.

Am 20. Februar 1940 kommandierte das SS-Personalhauptamt den SS-Sturmbannführer Adolf Haas „zur probeweisen Dienstleistung“ zur Inspektion der Konzentrationslager (IKL), der Verwaltungszentrale für alle Konzentrationslager im deutschen Machtbereich.224 Die IKL war 1938 von Berlin ein paar Kilometer weiter nördlich nach Oranienburg verlegt worden, nicht zufällig in die unmittelbare Nähe des KZ Sachsenhausen – das „Sprungbrett“ für die Expansion des KZ-Systems und damit für zahlreiche SS-Karrieren.225 Genau hier ließ die IKL Adolf Haas im Kommandanturstab des Konzentrationslagers eine Probezeit als Zweiter Schutzhaftlagerführer durchlaufen. Als er am 1. März 1940 in Sachsenhausen ankam, herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt.226 „Arbeit macht frei“ las er am Tor, dann trat er ein in die Welt der Konzentrationslager.


Häftlinge und KZ-Wachmannschaften vor dem Eingangstor des Konzentrationslagers Sachsenhausen, ca. 1936–1944.

Wäre Haas einige Tage früher angekommen, hätte er unter den Häftlingen noch ein bekanntes Gesicht sehen können: Walter Friedemann, ein Jude aus Hachenburg, hatte mit Futtermitteln gehandelt, bevor man ihn im Rahmen einer „Sonderaktion Arbeitsscheu“ nach Sachsenhausen verschleppt hatte. Nach 20 Monaten Haft war er am 13. Februar 1940 „verstorben“.227 Mindestens zwei der Häftlinge waren zudem ebenso wie Haas in Siegen geboren. Einer von ihnen, Paul Lersch, starb 30 Tage nach Haas‘ Ankunft.228 Schuld war nicht bloß die winterliche Kälte. Die Häftlingsbedingungen hatten sich seit Kriegsbeginn in allen Konzentrationslagern drastisch verschärft. Dafür verantwortlich war die IKL, die nicht nur das KZ-Personal koordinierte, sondern auch den systematischen Terror und Massenmord in den Lagern. Als ihr Chef Theodor Eicke bei Kriegsbeginn auszog, um die SS-Totenkopfverbände bei ihren Mordaktionen in Polen anzuführen, hinterließ er sein ganz eigenes Erbe im Lageralltag. Kurz vor seiner Abreise hatte er den altgedienten SS-Ausbildern in Sachsenhausen noch einmal eingeschärft, die Neulinge im KZ-Dienst hart ranzunehmen. Bereits als Kommandant von Dachau hatte Eicke Maßstäbe gesetzt für die Ausbildung der KZ-Wachmannschaften, besonders aber des Führernachwuchses, aus dem später die KZ-Kommandanten rekrutiert wurden. „Toleranz bedeutet Schwäche“, hieß es seit 1933 einleitend in der „Disziplinar- und Strafordnung“ von Dachau.229 In Eickes Augen mussten die SS-Männer zum „politischen Soldaten des Führers“ erzogen werden, deren Einsatz „bis zur letzten Konsequenz“ ginge.230 „Rücksichtlose Strenge“ gegenüber den Häftlingen, „herzverbindende Kameradschaft“ untereinander, „eiserne militärische Disziplin“ und „selbstlose Pflichterfüllung“ waren die zentralen Werte seiner KZ-Ausbildung.231

Durch Theodor Eickes sogenannte Dachauer Schule mussten ab 1934 alle neuen Rekruten für das Lagerpersonal. Gewalt gegenüber Häftlingen war dabei nicht nur Alltag im KZ-Dienst, sondern wurde zum Initiationsritus der Waffen-SS. Zu dieser „Elite“ durfte sich nun auch die Lager-SS zählen – sobald sie die Härteprüfung überstanden.232 Die gemeinsamen Verbrechen sollten die Männer zu einer Gruppe zusammenschweißen: Gezielt gewöhnten die Ausbilder die Neuen an die rohe Gewalt, ließen sie Prügelstrafen übernehmen, sie mit eigenen Händen foltern und töten. Die Angst vor dem Spott der Kameraden und den Strafen der Vorgesetzten machte sie hart gegen sich und andere. „Weichheit“ wurde nicht geduldet.233 Kurz bevor Adolf Haas nach Sachsenhausen kam, warnte der neue IKL-Chef Richard Glücks, ein treuer Gefolgsmann von Eicke, in einem scharfen Erlass jeden vor ernsten Konsequenzen, der sich „Gefühlsduseleien“ hingab.234 Vor allem für die Leitung neuer Konzentrations- und Außenlager suchte er Männer der Tat.

Wer in Sachsenhausen Schutzhaftlagerführer war, hatte gute Chancen, zum Lagerkommandanten aufzusteigen: In der Zeit von 1936 bis 1945 schafften neun von insgesamt fünfzehn Schutzhaftlagerführern diesen Aufstieg.235 Abgesehen vom Kommandanten selbst war der Schutzhaftlagerführer als sein Stellvertreter der mächtigste Mann im Kommandanturstab. Ihm unterstand von den fünf Abteilungen der Kommandantur die größte, die Abteilung III „Schutzhaftlager“, und damit zahlreiches Personal: Der Rapportführer war verantwortlich für die „Häftlingsdisziplin“ und Appelle, der Arbeitsdienstführer für die Koordination der Arbeitseinsätze der Häftlinge durch die SS-Kommandoführer sowie mehrere Blockführer für die Häftlingsbaracken. Seiner Position gemäß saß der Schutzhaftlagerführer im Torgebäude, direkt über der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei“, mit direktem Blick auf seinen Herrschaftsbereich. Im dreieckig aufgebauten KZ Sachsenhausen war der „Turm A“ der Scheitelpunkt der sternförmig angelegten Blickachsen: Für die „Geometrie des totalen Terrors“ wollte die SS das Prinzip des „Panopticons“ nutzen, das der britische Philosoph Jeremy Bentham Ende des 18. Jahrhunderts für Gefängnisse entwickelt hatte und das die gleichzeitige Überwachung vieler durch einen Einzelnen ermöglicht – wie geschaffen für den Schutzhaftlagerführer. Er galt sowohl in der SS als auch unter den Häftlingen als der wahre „Herrscher“ über das Lager.236 Als der ehrgeizige, skrupellose SS-Hauptsturmführer Rudolf Höß Ende September 1939 diese Position in Sachsenhausen einnahm, führte er – ganz im Sinne Theodor Eickes – umgehend verschiedene Haftverschärfungen ein, ließ Baracken überbelegen, Essensrationen verringern, gleichzeitig das Arbeitstempo erhöhen und Anfang 1940 alte und schwache Häftlinge bei winterlichen Temperaturen Dauerappell stehen.237 Seit dem 1. März stand ihm dabei ein neuer Stellvertreter zur Seite: der Zweite Schutzhaftlagerführer auf Probe, Adolf Haas.

Es gibt keine Anhaltspunkte, ob oder in welchem Ausmaß sich Haas an der Gewalt im Lager beteiligte. Die Staatsanwaltschaft in Köln ermittelte zwar 1962 gegen ihn wegen des Verdachts, „dass sämtliche Bewacher des Konzentrationslagers Sachsenhausen in irgendeiner Form an der Ermordung von Häftlingen beteiligt waren“.238 Sie fanden allerdings nichts Konkretes und glaubten zudem lange, er sei von November 1938 bis Herbst 1939 dort gewesen. Der Zweite und Dritte Schutzhaftlagerführer waren jedoch keineswegs „nur zur Ausbildung bei uns“ und „nicht zeichnungsberechtigt“, wie es der SS-Wachmann Gustav Sorge 1957 darstellte.239 Sie vertraten und unterstützten nicht nur den Ersten Schutzhaftlagerführer, sondern besaßen zum Teil auch besondere Zuständigkeiten für Teilbereiche des KZ. So übernahm beispielsweise der bereits fünfzigjährige Otto Andresen, der zur gleichen Zeit wie Haas ein Schutzhaftlagerführer auf Probe war, Anfang 1940 Aufgaben im „Kleinen Lager“. In diesem Barackenkomplex waren seit 1938 die meisten jüdischen Häftlinge untergebracht, bis sie im Oktober 1942 nach Osten deportiert wurden.240

 

Auch wenn es weder vergleichbare Vermerke in den Täterakten noch Berichte von Häftlingen gibt, die Haas belasten, muss er sich in extrem kurzer Zeit den Respekt seiner Vorgesetzten im Kommandanturstab und der IKL verdient haben. Entweder als hilfreicher Bürokrat und Vorgesetzter, der vom Turm A aus Gewalt eher durch andere ausüben ließ, oder eben als Glücks‘ „Mann der Tat“, der selbst Hand an die Häftlinge legte. Nicht ohne Grund hatten ihn seine Vorgesetzten vor vier Jahren als „Draufgänger“ bezeichnet. Ob er aber Eickes brutale „Dachauer Schule“ vollkommen verinnerlicht hatte, bleibt offen. Sein direkter Vorgesetzter, Erster Schutzhaftlagerführer Rudolf Höß, hatte während seiner eigenen Ausbildung seine Angst, „zu weich“ zu sein, mit nach außen demonstrierter „Härte“ kompensiert, bevor er zum Experten für den Massenmord wurde.241 Spätere Häftlingsberichte sprechen dafür, dass Haas die Gewalt im KZ eher pragmatisch sah. Er empfand kein sadistisches Vergnügen und überließ sie eher anderen. Tatsächlich gibt es keine Berichte, wonach Haas in seinen späteren Lagern selbst folterte oder tötete. Einzig drei Fälle sind bekannt, bei denen er Häftlinge schlug. Aber so wie die Soldaten in den Mordkommandos im besetzten Polen gewöhnte auch er sich, wie die meisten „politischen Soldaten“ in den Lagern, mit der Zeit an die allgegenwärtige Gewalt. Er sah sie jeden Tag vom Fenster seines Büros im Turm A aus und akzeptierte, dass sie zum Lageralltag gehörte – und zu seinem Job, für den er gut bezahlt wurde, der ihm den Frontdienst ersparte und seiner Karriere endlich wieder auf die Sprünge half.

Nur die wenigsten Schutzhaftlagerführer waren so kurz in Sachsenhausen wie Adolf Haas.242 Am 1. Juni 1940, genau drei Monate nach seiner Ankunft, schrieb der Inspekteur der Konzentrationslager SS-Oberführer Richard Glücks an den Chef des SS-Personalhauptamtes: „H. hat sich in der kurzen Zeit sehr gut eingearbeitet und versieht seinen Dienst zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.“243 Er bitte daher, ihn zum Obersturmführer der Waffen-SS der Reserve zu ernennen. Mit anderen Worten: Haas hatte sich in nur einem Vierteljahr in der Welt der Konzentrationslager bewährt. Seine Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer, der mächtigsten Position im Lager nach dem Kommandanten, war abgeschlossen. Er sollte ein Teil der Waffen-SS werden, zur „Eliteeinheit“ in der „Eliteeinheit“ gehören. Allerdings hatte der Chef der IKL zweifelsfrei wichtigere Dinge zu tun, als jeden Schutzhaftlagerführer auf Probe im KZ Sachsenhausen persönlich und eingehend zu inspizieren. Auf welche Vorgesetzten im Kommandanturstab berief er sich also? Rudolf Höß war es wohl nicht. In seinen späteren Erinnerungen kommt sein ehemaliger Stellvertreter – wie die meisten erwähnten Personen – nicht gut weg: „Er war zwar einige Zeit (1939) in Sachsenhausen Schutzhaftlagerführer gewesen, kam aber von der Allgemeinen SS und hatte nicht viel Ahnung vom KL.“244 Auch wenn er das Jahr verwechselt hatte, wird bei seiner Aussage doch eines klar: In den Augen von Veteranen der Lager-SS wie Höß, der seit 1934 dabei war, waren Neulinge aus der Allgemeinen SS inkompetente Außenseiter, weil sie erst nach Kriegsbeginn Lagerluft gerochen hatten. Man zweifelte an ihrer Härte und Entschlossenheit.245 Dennoch hatte Haas es geschafft, diese Zweifel auszuräumen – zwar nicht bei Höß, dafür aber bei einem weitaus einflussreicheren Mann, dem Kommandanten von Sachsenhausen Hans Loritz höchstpersönlich.

3.2 Der Schützling: Korruption und Selbstbereicherung unter Hans Loritz

Dass ein Konzentrationslager, ein Ort des Terrors, gleichzeitig auch ein Ort der Kreativität sein konnte, ist schwer vorstellbar. War es doch das Ziel der SS, die Häftlinge im Lageralltag durch Gewalt und Erniedrigung ihrer Menschenwürde zu berauben. „Der Mikrokosmus des Konzentrationslagers war in jeder Hinsicht der Gegenentwurf zur Welt der Kultur und der Humanität“, schreibt die Kunstwissenschaftlerin Stefanie Endlich. „Für Kunst gab es eigentlich weder Raum noch Zeit, noch materielle Möglichkeiten.“246 Dennoch entstand hier, im denkbar kunstfeindlichsten Umfeld, eine erstaunliche künstlerische Vielfalt. Einerseits gab es die Kunst, die im Verborgenen unter großer Gefahr für die Künstler und Mitgefangenen geschaffen oder praktiziert wurde, also Literatur, Gedichte, Musik, Theater- und Kabarettstücke und bildliche Kunst. Andererseits wurde bestimmte Kunst auch vom SS-Personal geduldet, darunter Lesungen, Musik- und Theaterabende, bei denen nicht selten SS-Leute teilnahmen. Oft wurden diese geduldeten Kunstformen zur propagandistischen Außendarstellung der KZ missbraucht, vor allem im Vorzeigelager Theresienstadt. Nicht zuletzt gab es die Kunst im offiziellen Auftrag der SS. In allen großen KZ gab es dafür eigens eingerichtete Werkstätten, Arbeitskommandos und Lagerkapellen, in denen die SS die professionellen Fähigkeiten der Häftlinge für ihre eigenen Zwecke missbrauchte.247 Der Kommandant von Sachsenhausen trieb all das auf die Spitze.


Hans Loritz im Rang eines SS-Sturmbannführers, 1932/1933. Unter Loritz' Kommandantur und Schutz absolviert Adolf Haas 1940 im KZ Sachsenhausen seine Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer.

Hans Loritz war eine beinahe ebenso prägende Person für die Lager-SS wie Theodor Eicke. Er war ein „alter Kämpfer“ der NS-Bewegung und stieg seit 1934, gefördert von Eicke, schnell im KZ-System auf, erst als Kommandant von Esterwegen, ab 1936 von Dachau und schließlich von Sachsenhausen, seit Ende 1939 kommissarisch und ab März 1940 regulär. Wo er hinkam, verschärfte sich der Terror. Die Häftlinge, die er mitunter selbst prügelte, nannten ihn „Nero“. Mit wachsendem Einfluss betrieb er seine eigene Netzwerkpolitik, scharte über die Jahre loyale und gleichgesinnte SS-Offiziere um sich und holte sie wenn möglich nach, wenn er das Konzentrationslager wechselte.248 In Sachsenhausen nahm er Adolf Haas in den Kreis seiner Schützlinge auf. Während Haas‘ dreimonatiger Ausbildung unterschrieb Loritz dessen Beurteilung, die vor übertriebenem Lob geradezu überquoll: Seine persönliche Haltung sei „einwandfrei gut“, er selbst „charakterfest“, „diensteifrig“ und „geistig rege“, sein Wissen sogar „über Durchschnitt“. Generell waren ihm „besondere Mängel und Schwächen“ nicht bekannt. Den Ausbildern der SS-Führerschule in Dachau 1937 widersprach Loritz, indem er Haas‘ Fertigkeiten im Ordnungs- und Geländedienst, im Sport und bei weltanschaulichen Vorträgen durchweg für „gut“ befand. „Er verspricht ein guter II. Schutzhaftlagerführer zu werden.“ Eine höhere Position in der Kommandantur stellte er Haas nicht in Aussicht, traute ihm aber zu, „Führer einer Komp.[anie]“ zu werden, also bei der Waffen-SS an der Front zu dienen.249

Wer damals im SS-Personalhauptamt oder der IKL nur einen kurzen Blick in Haas‘ Personalakte warf, musste schnell erkennen, dass Loritz maßlos übertrieb. Aber sein Wort zählte. Anders als Rudolf Höß, dem Loritz misstraute,250 gefiel ihm offensichtlich der „Draufgänger“, auch vom Charakter her. Tatsächlich hatten sie einige Gemeinsamkeiten: Sie waren ungefähr gleich alt, von Beruf Bäcker, hatten einige Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht und später keine Skrupel, ihre Machtposition bei der SS zu missbrauchen. Adolf Haas hatte das bereits in Hachenburg bewiesen. Womöglich hatte er vor dem Kommandanten geprahlt, wie er den jüdischen Kaufmann Karl Grünebaum 1933 um 2700 Reichsmark erpresst hatte und mit nur ein paar Tagen Untersuchungshaft davongekommen war. So etwas war genau nach Loritz‘ Geschmack. Wie sich noch zeigen sollte, schaute sich der Zweite Schutzhaftlagerführer von seinem Kommandanten höchstpersönlich ab, wie er seine Unverfrorenheit auch im Lageralltag zu seinem eigenen Vorteil einsetzen konnte. Denn neben Gewalt gab es noch eine andere Art, mit Häftlingen umzugehen.