GEWALT, GIER UND GNADE

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In Sachsenhausen hatte es bereits vor Kriegsbeginn einen riesigen Werkhof gegeben, auf dem die Häftlinge gezwungen wurden, vor allem für die SS-eigenen Deutschen Ausrüstungswerke GmbH Möbel, Spielzeug, Schuhe und andere handwerkliche Gegenstände herzustellen. Als Loritz ankam, ließ er die Werkstätten weiter ausbauen. Bald schon nannte man sie „Loritz-Werke“ – denn an den Waren bereicherten sich vor allem der Kommandant selbst und seine SS-Führer.251 Bereits in Dachau hatte es Loritz als sein Vorrecht angesehen, Häftlinge als Zwangsarbeiter für seine Unterhaltung und seinen privaten Reichtum auszubeuten. Sein Vorgänger und Mentor Theodor Eicke war ihm dabei ein Vorbild. Ohne Genehmigung ließ Loritz Dachauer Häftlinge einen „Wildpark“ bauen, in dem er und höhere SS-Offiziere gern jagen gingen. Er schickte sie auch zur Zwangsarbeit 175 Kilometer weiter nach Österreich in das Nebenlager St. Gilgen. Hier, nicht weit von Salzburg, hatte er 1938 mehrere Grundstücke erworben und darauf das erste Außenkommando von Dachau in Salzburg eingerichtet, allerdings nicht offiziell. Das privat organisierte Lager diente einzig dazu, ihm eine luxuriöse Privatvilla direkt am schönen Wolfgangsee aufzubauen. Als Loritz das Konzentrationslager Sachsenhausen übernahm, schickte er von dort – immer noch illegal – Baumaterial und Häftlinge nach St. Gilgen, darunter vor allem handwerklich begabte Zeugen Jehovas. Andere hohe SS-Offiziere nahmen sich ein Beispiel, erwarben in der Nachbarschaft Grundstücke und liehen sich von Loritz Zwangsarbeiter aus.252 Bis Loritz‘ Familie die fertige St. Gilgener Villa bezog, wohnten sie in der SS-Siedlung Sachsenhausen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konzentrationslager. Auch hier waren sie den Anblick von Häftlingen gewohnt, die der Familienvater vom Oranienburger Bahnhof zu Fuß zum Lager treiben und dort quälen ließ. Er und seine Frau versüßten sich jedoch den Alltag mit allerlei Luxusgütern und Kunstgegenständen, die sie sich von den Häftlingen herstellen ließen. Ein Sachsenhausen-Überlebender erinnerte sich später:

„Der damalige Lagerkommandant, SS-Oberführer Loritz, hatte, wie alle korrupten SS-Führer, die Angewohnheit einen Stab von 300 bis 500 Häftlinge nur für seine Belange arbeiten zu lassen. Diese Häftlinge wurden für Tischlerarbeiten, Kunstschmiede-Keramikarbeiten für den privaten Bedarf des SS-Oberführers Loritz und seiner Clique verwendet.“253

Die Liste ist lang: In den „Loritz-Werken“ schufteten Gürtler, Sattler, Schuster und Schneider. Künstler und Handwerker malten rund 60 Ölgemälde, webten Teppiche, fertigten Lampenschirme aus Leder, Wäschekörbe, Sessel, Tische, Briefbeschwerer mit Helmverzierung aus Silber, kunstvolle Zahnstocher, Messer und Dolche mit Granatsplitterhandgriffen, ein Dutzend Geldbeutel und Brieftaschen, ein geschnitztes Schachspiel, Fotopostkarten mit dem Motiv der St. Gilgener Villa – und sogar eine Segelyacht, mehrere kleine Boote und einen „Jagdwagen“. Wie schon in Dachau zweckentfremdete Loritz das Baumaterial für einen Luftschutzkeller, um daraus einen „Germanischen Bierkeller“ mit Kegelbahn und Schießstand bauen zu lassen. Er beutete seine Häftlinge nicht nur aus, sondern erdreistete sich sogar, auf dem KZ-Gelände einen eigenen Geflügelhof und eine Schweinemast zu unterhalten – in Sichtweite der hungernden Häftlinge.254 Für diese bedeuteten die Werkstätten allerdings eine Überlebenschance, vorausgesetzt, ihre Fertigkeiten waren wertvoll genug für den gierigen Kommandanten. Seine „Eigenart“ nutzten die Häftlinge, die den Arbeitsdienst leiteten, zum gegenseitigen Schutz, indem „immer mehr und mehr Häftlinge in diesem sog. Lagerhandwerkskommando eingebaut wurden“, so ein Überlebender.255

Keinem konnte die Korruption von Hans Loritz in Sachsenhausen entgehen. Er „sei wirklich der grösste Schieber und das wissen alle“, meinte einer seiner Männer 1942.256 Bis dahin hielt der Schutz, den ihm Theodor Eicke, das gute Verhältnis zur IKL, sein weitreichendes persönliches Netzwerk sowie all jene boten, die er großzügig mit Geschenken bedachte. Gerade die SS-Führer, deren Karrieren er gefördert hatte und die er an seiner Bereicherung beteiligte, hielten dicht und zu ihm. Der Zweite Schutzhaftlagerführer gehörte seit 1940 zweifelsfrei zu dieser „Clique“. Während Haas‘ Zeit in Sachsenhausen entstand in Oranienburg ein neues Arbeitskommando, das Wagenladungen voller Metallspenden für Kriegszwecke sortieren sollte: Ringe, Ketten, Uhren, Vasen, Pokale, Musikinstrumente, Gold- und Silbersachen. „Mancher SS-Kommandoführer nutzte die Gelegenheit, sich ein besonders schönes Stück anzueignen“, trotz Androhung der Todesstrafe, berichtete der damalige Lagerälteste Harry Naujoks.257 Kommandant Loritz stand seinen Männern bei, „wenn Gefahr bestand, daß irgendeine Manipulation über das Lager hinaus bekannt würde“. Im Gegensatz zu Rudolf Höß waren ihm Loyalität und Verschwiegenheit über die gemeinsame Bereicherung wichtiger als die tatsächlichen Fähigkeiten seiner Untergebenen. Seiner Fürsprache verdankte es Adolf Haas schließlich, dass er am 18. Juni 1940 von einem Stellvertreter Himmlers folgende Nachricht erhielt: „An den SS-Sturmbannführer Haas, Adolf. Ich ernenne Sie mit Wirkung vom 1. Juni 1940 als Reserveführer der Waffen-SS zum SS-Obersturmführer.“258 Knapp, aber höchst erfreulich.

In der Allgemeinen SS war Haas’ Karriere seit 1937 erlahmt, nun konnte sie in der Waffen-SS weitergehen. Er musste dafür lediglich in Kauf nehmen, dass er der Regel nach nicht mit dem bisherigen Dienstgrad des Sturmbannführers, sondern zwei Dienstränge niedriger als Obersturmführer übernommen wurde.259 Seine Probezeit im Kommandanturstab des KZ Sachsenhausen hatte er nach gerade einmal drei Monaten bestanden. Die Frage war nur, was nun mit ihm geschah. Immerhin war soeben der Posten des Ersten Schutzhaftlagerführers frei geworden. Am 4. Mai 1940 hatte Himmler den altgedienten Schutzhaftlagerführer Rudolf Höß zum Kommandanten des neuen großen Lagers „für den Osten“ berufen. Der Name des Lagers, damals völlig unbekannt, sollte unter ihm zum Symbol des Massenmordes werden: Auschwitz. Doch so sehr Loritz seinen neuen Gefolgsmann Haas auch unterstützt und ihn über alle Maßen hinaus in seiner Beurteilung gelobt hatte, so realistisch hatte er seine Verwendung eingeschätzt. Für die Position des Zweiten Schutzhaftlagerführers hielt er Haas geeignet, auch für die eines Kompanieführers an der Front, aber zunächst nicht mehr.

Offiziell zog ihn die SS am 1. Juni 1940 ein, allerdings nicht für den Kriegseinsatz, sondern zunächst für eine einmonatige „Übung bei der Waffen-SS“. 260 Das meldete die SS jedenfalls der Halleschen Krankenkasse, bei der Haas eine private Arbeitslosenversicherung abgeschlossen hatte. Bei dieser „Übung“ ging es jedoch weder um das Schießen oder eine sonstige militärische Ausbildung, noch kehrte er im Juli nach Sachsenhausen zurück. Kommandant Loritz und die IKL hatten ihre Meinung doch noch geändert und ihm am Ort der „Übung“ eine neue Aufgabe zugewiesen.

4. Der Mörder und Gönner

Gewalt, Tod und KZ-Kunst im KZ Niederhagen/Wewelsburg

1940–1943

4.1. Der „Herrgott von Wewelsburg“: Ein neues KZ für Himmlers Privatprojekt, 1940–1941

Die ostwestfälisch-lippische Region, davon war Heinrich Himmler überzeugt, sei das Kernland Germaniens, das Herz des alten „Sachsenlandes“. In dieser Region suchte der vom Germanenkult faszinierte Reichsführer-SS seit 1933 nach einer Burg, in der er zunächst eine Schulungsstätte für SS-Offiziere einrichten wollte. Seine Wahl fiel auf das dreieckige Renaissance-Schloss Wewelsburg im gleichnamigen Dorf bei Paderborn, das er im September 1934 vom Kreis Büren auf einhundert Jahre für den symbolischen Mietpreis von jährlich einer Reichsmark pachten ließ. Das alte Schloss sah Himmler und seinem Architekten Hermann Bartels jedoch nicht „trutzig“ genug aus. Bei den Bauarbeiten, die umgehend mit regimetreuen Privatfirmen und hundert Männern des Reichsarbeitsdienstes begannen, ließen sie den weißen Putz vom Renaissance-Schloss abschlagen, den Graben vertiefen und die Inneneinrichtung mit nordisch-germanischen Symbolen verzieren. Anders als Hitlers Domizil am Obersalzberg sollte die Wewelsburg nach Himmlers Plänen allerdings kein Wallfahrtsort werden. Sie sollte einem kleinen Kreis vorbehalten sein. Die geplante „Reichsführerschule“ bekam zwar den offiziellen Namen „SS-Schule Haus Wewelsburg“, sah aber nie irgendwelche Schüler. Bis 1945 blieb der unscheinbare Name, um Himmlers neue Pläne zu tarnen. Den Ausbildungsgedanken gab der Reichsführer-SS Mitte der 1930er-Jahre endgültig auf und sah nun nur noch eine einzige Bestimmung: das ideologische Zentrum der SS, genauer gesagt, der zentrale Versammlungsort für die Führungsspitze der SS.261

Reichsführer-SS Heinrich Himmler lud zahlreiche hochrangige Gäste auf die Wewelsburg. Das Foto zeigt ihn 1937 mit Robert Ley (2. v. r.), dem Chef der „Deutschen Arbeitsfront“ und Reichsorganisationsleiter der NSDAP, im Almetal unterhalb der Wewelsburg.


Luftbild von Deutschlands einziger Dreiecksburg. Heute sind in der Wewelsburg das Historische Museum des Hochstifts Paderborn und eine Jugendherberge untergebracht.

Hier wollte Himmler diejenigen zum jährlichen Gruppenführertreffen einladen, die dem „Neuadel“ der SS angehörten. Mit ihnen wollte er nicht nur die Ziele der SS-Weltanschauung besprechen und planen, sondern auch neue SS-Gruppenführer in den elitären Kreis aufnehmen und der Toten gedenken. Im „Saal der Gruppenführer“ sollten, wie einst zu Zeiten mittelalterlicher Ritter, die Wappen der Verstorbenen die Wände schmücken, in einem „Schrein“ alle SS-Totenkopfringe verstorbener SS-Angehöriger gesammelt und im Nordturm eine „Gruft“ zum Gedenken an die Toten eingerichtet werden. Himmler selbst nutzte die Wewelsburg auch als Büro, wenn er nicht in Berlin verweilte. Die Finanzierung des Bauprojekts übernahm seit 1936 die „Gesellschaft zur Förderung und Pflege deutscher Kulturdenkmäler e. V.“, der Himmler selbst vorsaß. Anders als die SS als nicht rechtsfähige Parteigliederung konnte die Gesellschaft auf Spenden und Kredite zurückgreifen.262 Als der Reichsarbeitsdienst 1938 seine Männer von der Wewelsburg abzog und zum militärischen Verteidigungssystem „Westwall“ in die Eifel verlegte, fand Himmler schnell Ersatz in den Konzentrationslagern. Mit dem Einsatz von Häftlingen konnten er und sein Architekt in den Folgejahren sogar das Bauverbot für ein Projekt umgehen, das weder staatlich noch kriegswichtig war.263

 

Im Mai 1939 schickte Hans Loritz, Kommandant des KZ Sachsenhausen, ein Außenkommando mit hundert männlichen Häftlingen nach Wewelsburg. Zwei versuchten bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft zu fliehen, indem sie einen SS-Posten überwältigten. Einer wurde erschossen, der andere zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die anderen Häftlinge errichteten auf dem gegenüberliegenden Kuhkampberg zunächst das „Kleine Lager“, wurden aber mit Kriegsbeginn am 1. September wieder zurück nach Sachsenhausen geschickt. Erst nach dem Sieg über Polen konnte Himmler seine Burg weiter ausbauen. Im Dezember 1939 ließ er sich neue Häftlinge aus Sachsenhausen unter der Aufsicht des SS-Untersturmführers Wolfgang Plaul schicken. Im Januar 1940 wagten erneut zwei Häftlinge einen Fluchtversuch. Plaul ließ sie von der SS in den umliegenden Orten suchen und erschoss schließlich selbst einen von ihnen rücklings auf der Straße – zur großen Entrüstung der ansässigen Bevölkerung. Himmler, der solche Aufmerksamkeit in der Nähe seines privaten Bauprojekts nicht gebrauchen konnte, ersetzte sowohl den verantwortlichen Kommandoführer Plaul als auch die Häftlinge. Diese kamen zurück nach Sachsenhausen, wo sie fast alle nach kurzer Zeit bei Arbeiten im Strafkommando „Klinkerwerk“ umkamen.264

Als Ersatz suchte sich Himmler eine Häftlingsgruppe aus, die aus Überzeugung keine Fluchtversuche unternahm und die er als Arbeitssklaven für sein Privatprojekt sehr geeignet hielt: die Ernsten Bibelforscher, wie sich die Zeugen Jehovas damals nannten. Die 1873 in den USA gegründete christliche Religionsgemeinschaft stand dem Staat neutral gegenüber, solange sie nicht in Konflikt mit dem Gesetz Gottes kam. Und genau das war das Problem der Nazis, denn die Ernsten Bibelforscher verweigerten beispielsweise den Hitlergruß ebenso wie später den Wehrdienst. So wurde die Glaubensgemeinschaft als Erste 1935 im Deutschen Reich verboten und verfolgt – in den KZ war sie die einzige religiöse Gruppe, die eine eigene Häftlingskategorie bildete, markiert mit dem lila Winkel. Etwa 2000 Anhänger kamen in den Konzentrationslagern um. Die Bibelforscher wehrten sich nicht gegen ihre Inhaftierung und die Zwangsarbeit, die sie als Prüfungen Gottes verstanden.265

Von Februar bis Mai 1940 kamen etwa 220 Bibelforscher aus Sachsenhausen und Buchenwald nach Wewelsburg, darunter vor allem Tischler, Steinmetze, Maler und Maurer. Sie bauten weiter die Wewelsburg aus sowie das Haus des Architekten Bartels, quälten sich im Steinbruch oder renovierten die Miet-Wohnung des Kommandoführers Plaul. Im Sommer sollten sie auf einem 2,87 Hektar großen Gelände am Ortsrand von Wewelsburg, in der Gemeinde Niederhagen, ein Schutzhaftlager aufbauen, das besser zu sichern war.266 Dem diskreditierten SS-Untersturmführer Plaul trauten die Inspektion der Konzentrationslager (IKL) in Oranienburg und Kommandant Hans Loritz solch eine Aufgabe nicht mehr zu. Viele Alternativen gab es allerdings nicht. Fähige SS-Führer holte sich vor allem Theodor Eicke für seine Totenkopf-Division. Seit Frühjahr 1940 hatte die SS zudem zwei neue Hauptlager eingerichtet, zum einen das KZ Neuengamme bei Hamburg, zum anderen das KZ Auschwitz im besetzten Polen. Beide wuchsen schnell und erforderten mehr Personal. Rudolf Höß, seit Mai 1940 vom Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen zum Kommandanten von Auschwitz aufgestiegen, träumte von seinem neuen Modellager im Osten, beklagte sich aber später in seinen Erinnerungen über die „Unzulänglichkeit und Verbohrtheit des größten Teiles der mir zugeteilten Führer und Männer“.267 Wenn selbst der einflussreiche Höß Probleme hatte, von der IKL „brauchbare Führer und Unterführer für Auschwitz zu bekommen“, dann warf dies kein allzu gutes Licht auf den Rest der Lager-SS, der im Sommer 1940 noch zur Verfügung stand – zumal für ein kleines Außenkommando wie das in Wewelsburg. Der IKL-Chef selbst schimpfte noch ein Dreivierteljahr später, er habe „weitere Lager einrichten müssen, ohne daß mir ältere aktive Führer zugewiesen wurden“.268

Genau in dieser Zeit des Personalmangels änderte Kommandant Hans Loritz seine Meinung über seinen Zweiten Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen, dem er zunächst eine höhere Stellung im KZ-System nicht zugetraut hatte. Das Versagen des Kommandoführers Plaul war die Chance für Adolf Haas. Loritz ging es vor allem darum, dass jemand aus seinem Netzwerk loyaler SS-Führer das Außenkommando übernahm. „Immer tiefer hatten sich seine Männer unter seiner Anleitung in die gemeinschaftlich verübten NS-Verbrechen hineinziehen lassen“, schreibt Loritz‘ Biograf Dirk Riedel.269 Besonders galt dies für diejenigen, die wie Haas von der Allgemeinen SS direkt in den Kommandanturstab und die Konzentrationslager-SS aufgerückt waren. „Die Erfahrung der kollektiven Gewaltausübung verband Loritz‘ einstmalige Untergebene miteinander und vor allem mit ihrem Anführer.“ Bei der Personalentscheidung für die Wewelsburg konnte Loritz auf den IKL-Chef zählen. Richard Glücks verließ sich auf die Meinung seines Lagerkommandanten, mit dem er sich gut verstand, und so wurde Sachsenhausen schließlich auch für Haas ein Karrieresprungbrett.270 Tatsächlich enttäuschte er seinen Fürsprecher nicht, vor allem weil er sich dessen brutale und ausbeuterische Art zum Vorbild nahm.


Das Foto zeigt Adolf Haas in der Uniform der Waffen-SS mit dem Kragenspiegel eines SS-Obersturmführers, ca. 1940-1941. Nachdem er im KZ Sachsenhausen die „Dachauer Schule" und die Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer bestanden hatte, wurde er im Juni 1940 mit diesem Rang in die Waffen-SS aufgenommen und als neuer Lagerführer nach Wewelsburg geschickt.

Am 17. Juni 1940 kam Adolf Haas in Wewelsburg an, löste Wolfgang Plaul als Kommandoführer ab und überwachte fortan den Aufbau des neuen Schutzhaftlagers in Niederhagen am Fuß der Wewelsburg. Die Baupläne kamen aus Sachsenhausen.271 Faulheit und Gleichgültigkeit konnte man Haas zunächst nicht vorwerfen. Noch gab er sich Mühe: Bereits Anfang August 1940 zogen die Häftlinge in das neue Lager um. Die drei Häftlingsbaracken des Kleinen Lagers wurden im neuen Schutzhaftlager wieder aufgebaut und um eine vierte ergänzt. Ein zweieinhalb Meter hoher, dreifacher und elektrisch geladener Stacheldrahtzaun umgab die Baracken und den Appellplatz, ließ aber noch Platz für weitere geplante Baracken. Von mehreren Wachtürmen kontrollierte die SS das Lager. Eines Tages, zur Mittagszeit, entdeckte ein Wachposten einen Häftling, der sich mit der elektrischen Ladung des Zauns das Leben nehmen wollte: „Aber Mittags ist nicht der Strom eingeschaltet!“, erinnerte sich der Bibelforscher Paul Buder. 272

„Enttäuscht steht der Lebensmüde nun im Draht. Ich sehe, dass der SS Posten das M.G. ausrichtet. Schüsse krachen, der Häftling hat keinen Unterkiefer mehr! Ein schrecklicher Anblick. Das Blut rinnt, immer tiefer sinkt der Mann in die Knie. Der Kommandant kommt in Eilschritten; und sagt: ‚Siehste, jetzt sterbste!‘“273

Paul Buder war mit einem der ersten Transporte mit Zeugen Jehovas aus Sachsenhausen gekommen. Sein Überlebensbericht von 1976 „O Wewelsburg, ich kann dich nicht vergessen“ gehört zu den wichtigsten Quellen zum KZ Niederhagen/Wewelsburg, die von ehemaligen Häftlingen verfasst wurden. Darin beschrieb Buder in mehreren Anekdoten, wie sich ein persönliches Verhältnis zwischen ihm und dem Kommandanten aufbaute. In Anlehnung an den damaligen Parteichef der KPdSU der Sowjetunion beschrieb er Haas als „Breschnjew-Typ, der wenig sprach“.274

Der Bauplan für ein Kesselhaus vom 30. Januar 1943 zeigt den Aufbau des KZ Niederhagen/Wewelsburg: Unterhalb der Straße ist das SS-Lager (unten links) und der Bauhof (unten rechts) zu sehen, oberhalb der Straße das Häftlingslager (oben links) mit dem zentralen Appellplatz und daneben unter anderem der Industriehof (oben rechts).

Neben dem Häftlingslager wurden ein Industriehof mit Werkstätten und Garagen sowie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Bauhof und SS-Lager errichtet, in dem Adolf Haas drei Räume in der Offiziersbaracke bezog.275 Seine Häftlinge hatten immerhin in der Anfangszeit je eine eigene Bettstelle und auch eine ausreichende Wasserversorgung zur Verfügung gehabt. Die Situation der Häftlinge änderte sich jedoch schnell.276 Aus gutem Grund bot das Lager Platz für weit mehr als die 220 Bibelforscher. Seit Beginn des Krieges 1939 wuchs mit Himmlers Macht auch sein Größenwahn, den er in Wewelsburg durch immer gigantischere Baupläne auslebte. Sein Architekt entwarf bis zum Kriegsende auf dem Papier eine riesige Burganlage in mehreren konzentrischen Ringen mit einem Radius von bis zu 600 Metern. Dafür brauchte er mehr Häftlinge. Mit der Besetzung Dänemarks und Norwegens seit April 1940 sowie dem erfolgreichen Westfeldzug gegen die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich von Mai bis Juni 1940 füllten sich die deutschen Konzentrationslager mit Tausenden weiteren Häftlingen. Zusammen mit den „inneren Feinden“ von der Heimatfront hatte Himmler genug Auswahl.


Der Ausbauplan der SS-Burganlage und der Siedlung Wewelsburg von 1944 illustriert den Größenwahn des Reichsführers-SS. Je größer der Machtanspruch Himmlers und der SS wurde, desto monumentaler wurden die Pläne für seinen elitären Versammlungsort. Mittelpunkt der gigantischen Anlage sollte der Nordturm sein.

Im Herbst 1940 kamen zunächst politische und homosexuelle Häftlinge, einige Juden und Sinti, vor allem aber als kriminell und „asozial“ gebrandmarkte Häftlinge nach Niederhagen. In den späteren Monaten und Jahren folgten Polen, Tschechen, Franzosen, Belgier, Niederländer und andere ausländische Häftlinge aus besetzten Gebieten. Das Lager fasste schnell rund 470 Insassen. Ein kleines Außenkommando war es nicht mehr und Kommandant Haas ließ weitere Baracken bauen.277 Am 1. Januar 1941 erklärte die IKL das neue Lager zum Außenlager des KZ Sachsenhausen.278 Adolf Haas, offiziell als „Führer des Arbeitslagers Wewelsburg“ geführt, organisierte die Lagerverwaltung nach dem „Dachauer Modell“, das von der IKL vorgeschrieben war und fünf Abteilungen umfasste: Lagerkommandantur, Politische Abteilung, Schutzhaftlager, Verwaltung und Lagerarzt. Sein Vorgänger Wolfgang Plaul wurde als Schutzhaftlagerführer sein Vertreter. Sowohl die IKL als auch sein Patron Hans Loritz schienen mit ihm und dem neuen Lager zufrieden. Mehr noch: Haas schien sogar unersetzbar zu sein. Im Februar 1941 bat IKL-Chef Glücks das Kommandoamt der Waffen-SS, Haas und einen anderen Lagerführer nicht zu „beurlauben“, also ihn nicht für eine neue Aufgabe zu versetzen:

„Für beide Führer habe ich keinen Ersatz. Führer, die den Dienstbereich in einem Konzentrationslager nicht kennen, kann ich in die Stellen, in denen die vorgenannten Führer Dienst tun, nicht einsetzen.“279

Das Kommandoamt kam der Bitte nach, unter anderem auch, weil Adolf Haas einer Notiz auf dem Schreiben zufolge offenbar selbst keinen Antrag auf „Beurlaubung“ gestellt hatte. Warum sollte er auch? Er leitete sein eigenes Lager, hatte Macht über eine Reihe von SS-Männern und über noch mehr Häftlinge. Nur etwa einmal im Jahr nahm er sich die Zeit, um seine Familie in Hachenburg zu besuchen – ebenso oft besuchte ihn seine Frau in Wewelsburg.280 Anders als viele SS-Führer hatte er seine Familie nicht an seinen Dienstort nachgeholt, doch wie sich herausstellte, wusste er sich seinen Feierabend auch anders zu versüßen.

 

Sehr wahrscheinlich hatte sich Glücks bei seiner Bitte, Haas möge in Wewelsburg bleiben, wie schon zuvor mit Hans Loritz abgesprochen. Sicher nicht zufällig schlug der Kommandant von Sachsenhausen seinen Schützling einige Tage später zur Beförderung vor.281 Wie schon 1940 verfasste er dafür einen vor Lob triefenden Personalbericht. Haas sei „energisch“, „fleißig“ und „zielbewusst“, seine Bildung „über Durchschnitt“ und er versehe seinen Dienst als Lagerführer „vorbildlich und mit großer Umsicht“. Nun sei er auch geeignet für höhere Dienststellungen. Glücks vertraute wiederum Loritz‘ Meinung und kommentierte am Ende des Berichts: „Haas ist Lagerführer auf Wewelsburg. Er versieht seinen Dienst vorbildlich. Der Reichsführer-SS hat daher seine Beförderung zum SS Hauptsturmführer angeordnet.“282 Am 13. Mai 1941 war es so weit, rückwirkend natürlich zum 20. April, zum „Führergeburtstag“.

So sehr sich Haas um die „vorbildliche“ Verwaltung des Lagers kümmerte, so wenig scherte er sich um die Häftlinge, deren Zahl sich seit dem Umzug in das Schutzhaftlager verdoppelt hatte. Doch es blieben nicht die Gleichen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Wewelsburg verschlechterten sich immer weiter. Lagerführer Haas sorgte nicht für ausreichend Essen, Medizin oder warme Kleidung, ließ Baracken überbelegen und dem Terror der SS freien Lauf, so wie er es in Sachsenhausen von Hans Loritz und Rudolf Höß gelernt hatte. Die Todeszahlen stiegen im neuen Schutzhaftlager drastisch an. „Das große Sterben begann, und Nachschub rollte an, je nach Bedarf“, schrieb Paul Buder in seinem Überlebensbericht.283

Himmlers Pläne arteten bald jedoch so aus, dass sein Bauträger in finanzielle Not geriet. Der Reichsführer-SS ernannte daher am 1. September 1941 das Außenlager zum selbstständigen Hauptlager. Damit trat der „Verein“ die Unterhaltungskosten für das Lager an den Staat ab, der ihm sogar noch die Kosten für die Jahre 1939 und 1940 erstattete.284 Am 15. Oktober 1941 legte sich Himmler endlich auf den offiziellen Namen „Konzentrationslager Niederhagen“ fest – vermutlich zur Tarnung, damit der Zusammenhang mit seinem geplanten elitären Versammlungsort auf der Wewelsburg nicht umgehend ins Auge sprang.285 Zumindest in Haas‘ SS-Personalakte tauchte in den nächsten Jahren dennoch immer wieder die eindeutigere Bezeichnung „KL Niederhagen-Wewelsburg“ auf.

Mit der Erhebung zum Hauptlager war Adolf Haas vom Lagerführer offiziell zum Lagerkommandanten aufgestiegen. Trotz seiner Mängel hatte er es im Alter von 46 Jahren in den ausgewählten Kreis von insgesamt rund 50 SS-Führern geschafft, die mit der KZ-Leitung beauftragt wurden. Es war der Höhepunkt seiner Karriere, die der Krieg wieder in Schwung gebracht hatte. Auch wenn Niederhagen/Wewelsburg das zweitkleinste Hauptlager286 im deutschen Herrschaftsbereich war, so war er doch sichtlich stolz auf seine neue Machtposition. „Eines guten Tages“, berichtete der Überlebende Otto Preuss, „hat er sich hingestellt, breitbeinig“, und gerufen: „Ich bin der Herrgott von Wewelsburg!“287 Und wie ein Gott spielte er sich auf. Hier entschied er über Leben und Tod.

4.2 Der Sklaventreiber: Zwangsarbeit und Prügel, 1941–1942

In Wewelsburg kam alles zusammen, was die SS ausmachte: rassistische Weltanschauung und Größenwahn, Kult und Terror, Ausbeutung und Mord.288 Während sich Himmler seine „trutzige“ Burg zum pompösen Versammlungsort ausbauen ließ, schufteten sich seine preiswerten „Arbeiter“ in unmittelbarer Nähe für seine Pläne nicht selten zu Tode. Die „Herrenmenschen“ auf der Wewelsburg brauchten nicht einmal aus dem Fenster auf das knapp 800 Meter entfernte Konzentrationslager zu schauen, um sich an ihrem Überlegenheitsgefühl zu ergötzen. Sie ließen die Häftlinge, die sie als „Untermenschen“ verachteten, direkt vor ihren Augen auf der Burg arbeiten. Die Arbeitssklaven schickte der selbst ernannte „Herrgott von Wewelsburg“. „Wewelsburg? Das war das schlimmste Lager. Zwar war es klein, nicht groß, aber alles war von dem Kommandanten abhängig“, bezeugte ein ehemaliger Häftling. „Hier hat man uns geschlagen. Richtig geschlagen. Man schrie ‚Arbeit! Arbeit! Schnell! Schnell!““289 Als Lagerkommandant hatte Adolf Haas die uneingeschränkte Macht im Lager. Er leitete nicht nur den Kommandanturstab und hatte die Befehlsgewalt über die Wachtruppe, er war auch für den Lageralltag zuständig, einschließlich der Lebensbedingungen, der Arbeitseinsätze und der Behandlung durch die SS.

Die „Täterakten“, vor allem Haas’ eigene SS-Personalakte, geben so gut wie keine Auskunft, wie er das Lager führte. Aussagekräftig sind dagegen einige Zeitzeugenberichte, die nach dem Krieg entweder in Folge von NS-Prozessen oder als mündliche oder schriftliche Erinnerungen entstanden sind. Im Gegensatz zu den meisten Überlebenden von Bergen-Belsen, deren Zahl weitaus größer war, erinnerten sich verhältnismäßig viele ehemalige Wewelsburg-Häftlinge sehr viel detaillierter an den Kommandanten Adolf Haas. Das lag vor allem daran, dass Wewelsburg ein deutlich kleineres Lager war, die Häftlinge ihn also viel öfter zu Gesicht bekamen. Keineswegs blieb er ihnen als barmherziger „Herrgott von Wewelsburg“ im Gedächtnis, sondern als unberechenbarer und rücksichtsloser Lagerkommandant mit geringer Intelligenz und großer Gier.290 Otto Preuss, der berichtete, wie sich Haas seinen göttlichen Beinamen gab, beschrieb ihn selbst so: „Ach der Haas war ein Nichts. Das war viel Fleisch und wenig Geist.“291 Arrogant sei er gewesen, bezeugte ein Häftling. „Er ging immer wie ein ‚Pascha‘ durch das Lager.“292 Selbst seine eigenen SS-Männer „gingen ihm gerne aus dem Wege“, erinnerte sich ein anderer Überlebender.293

Bereits damals galt das Konzentrationslager Niederhagen/Wewelsburg unter den Häftlingen als besonders brutales und grausames Lager – auch da es aufgrund seiner relativ geringen Größe nur wenige Möglichkeiten zum „Untertauchen“ vor den Schikanen der SS bot.294 Der Bibelforscher Leopold Engleitner versuchte sich einmal im Winter bei dem Mithäftling Max Gartenschläger in der Werkstatt zu verstecken, weil er mit seinen geschwollenen und schmerzenden Händen nicht arbeiten konnte. Ausgerechnet der Lagerkommandant, in Begleitung einiger Besucher, erwischte ihn hinter einem Ersatzstromaggregat. „Was machst du hier, du elendige Kreatur?“, schrie er Engleitner an, der sofort die Flucht ergriff.295 Haas wollte ihm noch einen Fußtritt versetzen, rutschte aber aus und fiel auf eine nicht isolierte Schaltung. Ein Kurzschluss und das Licht ging aus. Der Kommandant erschrak so sehr, dass er sogar vergaß, den Häftling zu bestrafen.

Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), eines der zwölf Hauptämter der SS, ordnete das KZ Niederhagen/Wewelsburg der Stufe 1 für die „wenig belasteten und unbedingt besserungsfähigen Schutzhafthäftlinge, Sonderfälle und Einzelhaft“ zu – die Realität des Lageralltags sah anders aus.296 Ein Großteil der Häftlinge bekam keine Chance, sich zu „bessern“. Hunger, Entkräftung, Kälte und die Gewalt der SS mussten sie aushalten. Wer in Wewelsburg am Leben blieb, hing vor allem davon ab, welcher Häftlingskategorie man angehörte und welche Fähigkeiten man besaß. Manchmal auch, woher man kam: Als ein Bibelforscher aus dem Oberwesterwald im Frühjahr 1941 ins Lager kam, erkannte ihn Haas sofort und setzte ihn im Zimmerer-Kommando ein, das offenbar weniger brutal war.297

Das Glück, aus Haas‘ Heimat zu kommen, hatten natürlich die wenigsten. Der Kommandant und die SS behandelten allerdings qualifizierte Facharbeiter und Handwerker rücksichtsvoller, da ihre Arbeitskraft nicht leicht ersetzt werden konnte. Den Bibelforschern ging es daher im Allgemeinen weitaus besser als den übrigen Häftlingen, da sie größtenteils der Arbeiter- und Handwerkerschaft angehörten und ja gerade aus diesem Grund für die Wewelsburg ausgesucht worden waren. Der Kommandant vertraute ihnen sogar so weit, dass er sich von ihnen regelmäßig rasieren ließ. Max Hollweg erinnerte sich später, wie Haas zum ersten Mal bei ihm auf den Frisierstuhl kam:

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