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Melusine: Ein Liebesroman

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

VI

„Herr Falk hat sich entschlossen, bei uns zu essen,“ erklärte Frau Bender. „Er will seine Einsamkeit endlich ein bischen verlassen.“

Mely antwortete mit einer höflichen Grimasse. Sie betrachtete ihren grauen Schlafrock und ärgerte sich, daß sie nicht eleganter erschienen war. „Wo ist denn Fräulein von Erdmann heute?“ fragte sie.

„Herr Doktor Brosam besucht mit ihr das Theater,“ erwiderte Frau Bender lachend. „So zum Abschied, wissen Sie. Ach, sie liebt ihn doch so,“ flötete sie mit komischer Innigkeit.

„Ja, denken Sie, und nicht einmal ein Liebesdrama wird aufgeführt,“ sagte die boshafte Helene.

„Wir bekommen jetzt eine noch ältere Dame, ein Fräulein von Mahnke,“ erzählte die Hausfrau. „Auch eine Gelehrte oder so was Ähnliches.“

„Hoffentlich nur was Ähnliches, denn etwas Schlimmeres gibt es nicht,“ bemerkte Falk. Er hatte bis jetzt seine junge Nachbarin noch nicht betrachtet. Nun sah er sie an, wandte aber sofort den Blick wieder ab.

„Wie werden Sie da erst über mich urteilen!“ sagte Mely.

„Warum?“

„Fräulein Mirbeth malt,“ erläuterte Helene, das letzte Wort ironisch betonend.

„Ach, eigentlich nur ein wenig. Ich lerne ja noch,“ setzte Mely hinzu. „Ich habe nicht viel Talent und nicht viel Lust. Aber ich muß,“ fügte sie rasch bei, als sie den erstaunten Blick des jungen Mannes bemerkte. „Ich muß,“ wiederholte sie schüchtern. „Man muß doch etwas sein.“

„So–o! – Was malen Sie? Porträt?“

„Landschaft – nur Landschaft,“ sagte sie mit blitzenden Augen, denn der geringschätzige Ton seiner Stimme reizte sie. „Sie wollen wohl auch, daß die Frauen stumpfsinnig bei der Kocherei und bei der Näherei bleiben?“ fragte sie, schon erschreckend über ihre Kühnheit.

„Nein, nein,“ entgegnete Falk stirnrunzelnd. „Sie müssen schon verzeihen“ – er errötete und machte eine linkische Geste – „aber ich meine, wen es dazu treibt, der soll’s treiben. Das ist ja selbstverständlich. Ich spreche ungern darüber, weil man immer dieselben Dinge sagen muß. Gewiß, die Frau soll nicht beschränkt sein in dem, was sie thut, aber auf zehn talentvolle Männer wird doch höchstens eine talentvolle Frau kommen, die es auch um der Sache willen thut. Bei den meisten Frauen ist die Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst nichts als eine verfehlte Heirat. Aber das ist ja alles so oft gesagt worden und so selbstverständlich.“

„Ja, Sie haben recht,“ pflichtete Mely bei. Sie sah Vidl Falk ein wenig träumerisch an, ohne sich dessen bewußt zu werden. Durch ein verstecktes Lächeln, das um seine Lippen spielte, erwachte sie gleichsam, und errötend pickte sie mit den Fingern die Brotkrumen vom Tischtuch.

Das Mahl ging unter gleichgültigen Gesprächen zu Ende.

„Sie sehen sehr abgespannt aus, Fräulein,“ sagte Falk beim Thee zu Mely. „Als ob Sie eine große Fußreise gemacht hätten.“

„Ja, ich habe Kopfweh,“ entgegnete sie rasch mit gesenkten Lidern. Seltsam, aufs neue, aufs quälendste erwachte gerade in diesem Augenblick die Reue in ihr. Die Worte Falks erwärmten sie. So vergessen von aller Welt erschien sie sich, daß diese in fast besorgtem Ton gemachte Bemerkung, die doch möglicherweise eine bloße Redensart sein konnte, ihr wie eine Liebkosung erschien. Sie preßte die Hand an die Stirn, wie um zu beweisen, daß sie große Schmerzen habe.

Frau Bender hatte um Entschuldigung gebeten. Sie lag auf dem Divan und war dort eingeschlafen. Helene, in der altjüngferlichen Haltung, die ihr oft eigen war, saß im Stuhl zurückgelehnt und hörte zu, bald Beifall lächelnd, bald grundlos errötend. Eine Riesenrose aus Kreppstoff hing über dem Milchglassturz der Hängelampe und hüllte die eine Hälfte des Raumes in Dunkelheit. Der Divan mit der schlafenden Frau Bender, das Pianino, die Thüre nach dem Schlafzimmer der Familie und ihre braunen Portieren, ein Stahlstich nach einem Hobbema und ein Genrebildchen von Horstik, – das alles lag in Dämmerung. Falk rauchte, und der blaue Dunst schwebte in Schlangenlinien, in feinen Schleiern, in verschnörkelten Figuren, gegen das Licht, über welchem er, von dem heißen Luftstrom erfaßt, blitzschnell nach der Decke emporwirbelte.

„Haben Sie sehr große Schmerzen?“ fragte Falk. „Ich kann sie lindern. Oft schon hab’ ich das gethan. Ich brauche nur die Hand auf Ihre Stirn zu legen.“

„Nein –?“

„Gewiß, – gewiß,“ beteuerte er und seine Augen funkelten. Er stand auf und stellte sich vor Mely hin. Dann nahm er ihre beiden Hände in seine beiden und forderte sie auf, ihn unverwandt anzublicken. Sie zögerte lange, mit scheuem Lächeln streifte sie die überlegen dreinschauende Helene, und endlich wagte sie es, den jungen Mann anzusehen. Aber sie ertrug es nicht, sie mußte den Blick zu Boden senken. Auch schämte sie sich, daß sie gelogen hatte, denn in Wahrheit hatte sie gar keine Schmerzen. Doch es war, als ob sein Blick sie zwänge die Augen aufzuschlagen, und sie gehorchte. Sie begegnete seinem Blick und ein paar Sekunden lang sah sie ihn ganz starr an. Dabei lag etwas Staunendes in ihren Augen und zugleich etwas Flehendes.

Er nahm nun ihre zwei Hände in seine Rechte. Ihre Hände waren kalt wie Stein und glatt und trocken. Mit seiner Linken bedeckte er ihre Stirn. Da schüttelte sie energisch den Kopf, und unwillig stand sie auf. Falk war bestürzt, aber nur deshalb, weil er nicht länger in diese glänzenden Augen sehen konnte, in denen sich der Augapfel so überaus rein von dem milchigen Weiß des übrigen Auges abhob.

„Sehen Sie nur her!“ rief Mely am Fenster, Helene und Falk traten zu ihr und schoben die Gardine zurück. Der erste Schnee war gefallen. Er bedeckte die Dächer und die ganze Straße und die Höfe und die Gärten, wie Konditoreiwaren mit Zucker bestreut sind. Auch der Mond stand am Himmel, gerade zwischen zwei Schlöten eines Nachbarhauses. Alles war grün von seinem Licht.

Wie fremd fühlte sich Mely ihren früheren Leiden gegenüber! Es war ihr zu Mute, als lägen Jahre dazwischen. Nicht daß sie gewaltsam die Augen vor Gefahren geschlossen hätte, – sie sah keine Gefahren mehr. Sie kam sich auch gar nicht mehr vereinsamt vor. So schnell wechselte ihre Stimmung, so sehr konnte sie sich der Behaglichkeit eines Moments hingeben.

„Haben Sie immer noch Kopfschmerz?“ fragte Falk.

Sie verneinte und schämte sich aufs neue ihrer Lüge. Dabei fragte sie sich, warum sie eigentlich gelogen und warum ihr diese Lüge gerade jetzt peinlich sei. Wieviel Lügen hatte sie schon gesagt, ohne viel nachzudenken. „Sie wollten mich wohl hypnotisiren?“ fragte sie, den jungen Mann furchtsam anblickend.

„Bei Ihnen wär’ es nicht schwer,“ erwiderte er. „Wollen Sie?“

„Nein, niemals!“ rief sie erschrocken. „Nicht wahr, da kann man einem alle Geheimnisse entlocken?“

„O –!“ machte Falk.

Jetzt denkt er sicher, ich sei dumm, dachte Mely. Ich sehe es deutlich an seinem Lächeln. Bah, das macht ja nichts.

„Es ist komisch,“ meinte Helene, „wenn man so dasteht wie jetzt und man schaut hinaus, und es ist alles so ruhig, – da wünscht man sich doch etwas. Oder, – wie will ich sagen, man fühlt sich besser als in andern Stunden, nicht?“

Wenn sie so sprach, ernst und nachdenklich, berührte alles sympathisch an ihr. Man fühlte, daß es aufrichtig war, was sie sagte, und war ihr dankbar, daß sie dadurch das Innige der Stimmung vermehrte. Sie war klug.

„Das ist wahr,“ antwortete Falk. „Ihnen sieht man zum Beispiel an, was Sie wünschen.“

„Nun was – was?“ drängte sie ein wenig kokett und als sei sie überzeugt davon, daß niemand in ihr Innerstes einzudringen vermöge.

„Ich halte Sie für sehr ehrgeizig.“

„Das mag sein,“ bestätigte Helene geschmeichelt und blickte Falk dankbar an. „Ja, das bin ich auch,“ fuhr sie nach einer Pause eifrig fort. „Ich möchte etwas anderes als andere.“

„Und das wäre –?“

„Ich möchte vielleicht zu meinem Vater, – möchte ihm bei seinen Arbeiten behilflich sein, – Sie wissen ja, er ist Bildhauer, ich möchte vielleicht selbst – ach Gott, was möchte man denn nicht!“ brach sie ab, die Worte fast singend. Es schien, als bereue sie, so offen gewesen zu sein. Aber immer noch lag diese Dankbarkeit gegen Falk in ihrem Gesicht, als hätte er bewiesen, daß er ihre Natur richtig beurteile, und als hätte er durch diese harmlose Äußerung ungewöhnlichen Scharfsinn verraten. „So viel möchte man, so viel!“ wiederholte sie, halb sehnsüchtig, halb ironisch.

Sie möchte, aber sie thut nichts, dachte Mely. Den ganzen Tag faullenzt und träumt sie und ihre Mutter mag sich quälen und abarbeiten. Nicht einmal etwas nähen, nicht einmal bügeln mag sie. „Aber warum zürne ich ihr?“ fragte sie sich gleich darauf. „Vielleicht weil sie etwas Kluges gesagt hat?“ Ja, warum zürnte sie ihr?

„Können Sie auch über mich etwas sagen?“ fragte sie den jungen Mann, indem sie die Ellbogen auf die Kniee stützte und sich weit vorbeugte.

Wieder konnte Falk in ihre Augen blicken, die gespannt und furchtlos auf ihn gerichtet waren; und er vergaß darüber fast, zu antworten. Er wurde verwirrt und strich die schwarzen Haarsträhne aus der Stirn. Er stotterte: „Ich – ich halte Sie für sehr vertrauensselig und – nun ja – für sehr vertrauensselig,“ schloß er, als könne dies eine Wort alle andern in ihrer Charakteristik ersetzen.

Sie lächelte. „Der Herr Oberst sagt immer, ich sei schrecklich mißtrauisch,“ sagte sie leise.

„Der Herr Oberst, – wer ist das?“

„Das – das ist – mein Vormund.“ Ein dunkler Schatten fiel gleichsam über sie und machte sie unruhig.

„Sind Sie hier geboren?“ fragte Falk.

„Nein, ich bin Fränkin. Unterfranken ist meine Heimat. Dort in den Weinbergen, – in Sommerhausen …“

„Da sind wir ja Landsleute, auch ich bin Franke. Und Sie haben keine Eltern mehr? Auch keine Geschwister?“

Beides verneinte sie. Und es trieb sie, die neue Lüge wahrscheinlicher zu machen. „Ganz allein hab’ ich immer gespielt als Kind,“ erzählte sie. „Meine Eltern ließen mich gar nicht mit andern Kindern spielen. Immer vom Fenster aus hab’ ich zugesehn, wenn die andern so vergnügt waren, – wie eben Kinder vergnügt sind. Und ich durfte nicht mitthun. Es ist merkwürdig, – gerade jetzt träum’ ich so oft von der Kinderzeit, – aber ganz genau, wie es damals war. Ich seh’ meine Mutter noch mit ihrem schwarzen, dicken Haar und dem Scheitel in der Mitte. Meine Mutter hatte nämlich herrliches Haar, ganz blauschwarz. Wie oft hat sie mich für nichts und wieder nichts geprügelt. Sie war jähzornig, gerade wie ich. Und denken Sie, davon träum’ ich oft so deutlich, gerade von den Prügeln.“

 

„Träumen Sie denn nicht auch von schönen Dingen? Vom Heiraten zum Beispiel –? Nein? Und Sie denken auch nicht daran?“

„Jetzt nimmer, früher. Früher, als ich noch dreizehn Jahre alt war oder vierzehn, da dacht’ ich mir immer: Wie schön wird es sein, wenn ich einmal zwanzig alt bin. Da könnte ich dann heiraten. O, es wäre fein.“

Sie lachten.

„Haben Sie denn auch ein Ideal gehabt?“ fragte Falk. „Das gehört doch dazu. Ein Dichter oder ein Raubritter, wie?“

Mely ging auf den Scherz ein. „Ach nein,“ sagte sie melancholisch. „Ich hätte am liebsten einen Katecheten mögen.“

„O, wie komisch! Das ist wenigstens originell! Haben Sie immer so aparte Wünsche?“ – –

Es war spät geworden, und Mely erhob sich, um zu gehen. Sie drückte Falk und Helene die Hand, und zündete dann ihre Kerze an, die auf der Kommode stand, und die sie allabendlich dorthin stellte.

In ihrem Zimmer angelangt, war das erste, was sie that, dies: Sie nahm den Revolver, der auf dem Tisch lag, und versteckte ihn sorgfältig in ihrem Wäscheschrank. Dann setzte sie sich auf den Rand des Bettes, stützte die Arme rückwärts auf die Kissen und sah mit halbgeschlossenen Augen ins Licht. „Haben Sie große Schmerzen – ich kann sie lindern,“ sagte sie leise vor sich hin und klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. Jedes Wort, das an diesem Abend gefallen war, hätte sie wiederholen können. Warum bin ich denn nur so heiter? dachte sie. Warum ist mir so leicht? – –

Halb vier Uhr schlug es auf den Türmen, da lag sie noch mit offnen Augen und blickte in die Finsternis. Alle ihre Romane hatte sie schon durchlebt, den Millionenpalast und die Sklavenschar, und die abenteuerlichen Ritte, wobei sie vom Pferde fiel und von einem stolzen Grafen und seiner Mutter verpflegt wurde. Sie konnte keinen Schlaf finden. „Ich möchte einmal so recht von Herzen glücklich sein,“ flüsterte sie in ihr Kissen, und sie drückte einen Kuß auf das weiße Linnen. Das war das letzte, woran sie sich am andern Tag noch erinnern konnte.

VII
Aus dem Tagebuch Vidl Falks

10. November.

Weshalb ich eigentlich ein Tagebuch führe, darüber habe ich mir schon oft den Kopf zerbrochen. Liest man später die Konterfeis von Stimmungen und Hoffnungen, diese scheinbar so zwanglosen, mit müder Eleganz hingeworfenen Aperçus, so liegt darin etwas so Lächerliches, wenigstens für mich. Eitelkeit, Eitelkeit spöttelt jede Zeile, eitle Selbstbespiegelung. Aber ich bin ja ein nutzloser Mensch. Alle sagen es, die mich kennen. So muß es doch wahr sein. Ich möchte doch wissen, welchen Eindruck ich auf andere mache, ob ich ihnen komisch erscheine, oder unbedeutend, oder dämonisch. Wer weiß, vielleicht gerade dämonisch. Das ist ein hübsches Wort. Man empfindet ordentlich Sehnsucht, es zu sein. Aber wie, wie wird man dämonisch, wie macht man das? – Ich muß doch eigentlich ein ganz hübscher Mensch sein. Der Spiegel beweist ja nichts, aber mein Schnurrbart gleicht vielen Schnurrbärten, welche für hübsch gelten. Meine Augen sind sehr geschmackvoll; ich bin zufrieden mit ihnen.

Ein Schwärmer bin ich schon. Ich habe zu nichts Lust, als zum Nichtsthun. Und wie anstrengend ist das bisweilen. Oft kommt mir der Gedanke, warum bin ich so allein? Es ist ja kindlich, darüber zu klagen, aber andere haben ein Vaterhaus, elterliche Sorge umgibt sie, sie wissen, daß jemand da ist, der sich um sie kümmert. Nichts dergleichen ward mir. Ich würde ja ganz gern allein bleiben, aber alles fängt an, mir so nüchtern zu werden. Ich habe häufig das Bedürfnis zu schlafen, tagelang, wochenlang, und ich begreife kaum, warum ich so eifrig mit aller Kraft dem Studium zugedrängt habe. Das Studium ist leer, und es ist die Wissenschaft von der Unwissenheit, besonders was die Medizin anbelangt. Auch beirrt mich das Fachmäßige, Doktrinäre, das Buchstabenrecht in der Wissenschaft. Ich möchte etwas, das mich aufregt, das mich zittern macht, das mich in Bangnis versetzt, kurz etwas, das ich nicht weiß und das ich nicht definiren kann.

15. November.

Ich lese die letzte Eintragung und sage mir, daß dies für einen dreiundzwanzigjährigen Menschen sehr naiv ist. Zum wenigsten ist es ein Zeichen großer Schwachheit.

Wenn nur dieses Wirtshausleben nicht wäre! Das zerstört alles Gesunde und alle Befriedigung über die Arbeit. Aber den ganzen langen Tag und den langen Abend dazu allein im stillen Zimmer und die Gedanken und der Kopfschmerz und das ewige Regengeplätscher, und die Aussicht, daß es jahre-, jahre-, jahrelang so bleiben soll, das ist auch zerstörend. Freilich, ich bin jung und wir Jungen sollten darauf bedacht sein, weniger zu lamentiren und mehr zu arbeiten. Statt Freude darüber zu empfinden, daß wir allein sind, vergießen wir Thränen. Wie absurd und sündhaft, daß ich bisweilen wünsche, krank zu sein, nur damit Jemand um mich sei, der sich bemüht um mich, dem man mehr ist, als eine Figur, um: ‚Ergebener Diener!‘ oder: ‚Wünschen zu speisen?‘ zu sagen. Wenn ich einmal reich sein werde – Traum der Träume – will ich mir ein Schloß im Schwarzwald bauen und mit einem Freund oder einer Freundin dort leben. Aber kann es Jemand geben, der sich mit mir befreundet? Ich muß zu dumm sein, zu unbedeutend, zu häßlich – oder bin ich am Ende das verborgene Veilchen? Der Gedanke ist so poetisch!

17. November.

Es ist spät in der Nacht. Heut hab ich es über mich gebracht, daheim zu bleiben. Und ich bin glücklich im Bewußtsein der Einsamkeit. Die glühenden Kohlen starren zum Ofenloch heraus. Bisweilen zucken kleine, blaue Flämmchen hindurch. Dann werden die Ränder schwarz, und alles versinkt zu Asche. Ich denke mir: Wieviel Schmerz ist in der Welt und wieviel Glück, und alles versinkt zu Asche. Ein oftgedachter Gedanke. Ich sehe hinein in die glühenden Brocken und erblicke mein Schwarzwaldschloß, wie es sein wird, wenn die Abendröte drüber hinfliegt und der Wind um die Parktannen streicht.

Jetzt denke ich mir: wie muß wohl das Weib beschaffen sein, das ich lieben würde. Vor allem müßte es klein sein, zart und heiter. Es müßte blond sein und blaue Augen haben mit dunklen Rändern um den Augapfel und schwarzen Wimpern. (Das soll pikant sein.) Die Haare dürften schließlich auch kastanienbraun sein, ja sogar jene bronzefarbnen, oder jene, die aussehen wie ein schwer mit Kupfer legirtes Goldstück gefielen mir. Gescheiter als ich dürfte sie nicht sein, wohl aber müßte sie besser als ich sein. Sanft, nachgiebig und beständig müßte sie sein. – Es ist nicht sehr weise, sich ein Rezept zu schreiben, bevor man weiß, woran man erkranken wird, – als stud. med. sehe ich das ein.

Diese Frau Bender quält mich so sehr, ich solle Pension nehmen. Aber wozu soll ich so viele Menschen kennen lernen?

19. November.

Frau Bender stellte mir den Doktor Brosam im Korridor vor, und wir gingen zusammen nach der Stadt. Welch ein Ideal von Männlichkeit: kraftvoll, graziös, selbstbewußt. In solche Persönlichkeiten verlegt man unwillkürlich jene Eigenschaften, die zu besitzen man ersehnt. Er muß wegen eines Zwischenfalls ausziehn, wie ich höre: das ist schade. Wir haben verabredet, uns im Café zu treffen. Die ganze Zeit über wohnten wir Thür an Thür, und ich wußte nichts von ihm, als daß er den Geruch der Weihrauchkerzen liebe und beim Studiren Bonbons kaue. Das nennt man durchs Schlüsselloch des Nächsten Thun betrachten, und das ist verächtlich.

20. November.

Ich habe Frau Bender nachgegeben. Heute Abend war ich zum ersten Mal in der Familie. Ich habe mich gut unterhalten. Die kleine Helene scheint ein wenig verliebt in mich zu sein. Das thut mir morschem Jüngling wohl. Komisch, sie ist klein, zart und heiter, blauäugig und blond. Sollte die es sein? Nur hat sie gar keine Augenbrauen. Das Fräulein Mirbeth gefällt mir übrigens. Sie besitzt eine große Natürlichkeit und ihre Augen (nie im Leben sah ich so schwarze, leuchtende Augen: schwärmerisch und leidend) verraten viel mehr als ihr Mund (welch ein weicher, wohlgeformter Mund) verraten könnte. Ihr Lachen verletzt mich, sie schleppt es so eigentümlich nach.

24. November.

Ich bin sehr fortgeschritten auf dem Pfad der Kultur: seit einigen Tagen besuche ich kein Wirtshaus mehr. Allabendlich sitze ich bis elf Uhr bei Benders, und ich gewöhne mich völlig hinein in diesen Kreis. Auch Fräulein Mirbeth ist da, und ich spiele Karten oder Halma mit ihr. Ich weiß nicht, woher es rührt, aber eine neue Lebensfreude ist über mich gekommen.

Wir führen oft träumerische Gespräche da vorn, zu dreien, während Frau Bender auf dem Divan schläft. Und dabei sieht mich Fräulein Mirbeth oft so starr, fast erschrocken an, und ihre Augen glänzen dabei so sehr, daß ich die meinen zu Boden schlagen muß. Aber dieser Blick hat etwas, das einen verfolgt. Er sitzt mir bisweilen gleichsam im Nacken.

Heute Nachmittag war ich beim Kaffee. Frau Bender erzählte aus ihrer Jugendzeit. Sie hat eine bezaubernde Art zu erzählen; kaum sah ich je ähnliches. Selbst ganz hingerissen von ihrem Gegenstand, lächelt sie beständig und zeigt ihre großen, dichten, blitzenden Zähne. Ihre Augen werden größer und leuchtender und ihr Gesicht wird förmlich jung. Sie hat viel erlebt und ist viel in der Welt herumgezogen.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich im Verlauf des Nachmittags auf Fräulein Mirbeth zu sprechen kam. Aber es berührte mich peinlich, wenn sie von ihr redeten. Sie gebrauchten geheimnisvolle Wendungen, sie redeten Gedankenstriche. „Der Herr Oberst meint es eben doch sehr gut mit ihr –“ oder: „Der Herr Oberst ist ein sehr edler Mensch, ein idealer Charakter“ – – Doch was geht das mich an. Ich machte ein ziemlich verblüfftes Gesicht, und Frau Bender stand mit einem konventionellen Seufzer auf. Ich beobachtete ihren Gang, der unsicher, voll Hast und Nervosität ist. Es ist der Gang unterleibskranker Frauen.

26. November.

Zwei Uhr hat es geschlagen, und die Nacht ist sehr still. Der Schnee liegt überall. Ich öffne das Fenster und die frische, klare Luft durchdringt mich völlig. Ich sehe das große, runde Kuppeldach des römischen Panoramas und die neue Pinakothek, die so sehr einer großen Zigarrenschachtel gleicht. Einen schlanken Kirchturm seh ich in der Ferne, der wie ein zugeklappter Regenschirm aussieht.

Ich versuche jetzt, mir das Bild des Fräulein Mirbeth vorzustellen. Aber ich kann es nicht. Ich kann sie nur wie durch dicke Nebelwände wahrnehmen. Ich weiß wohl, daß ihre Haare ganz dunkel sind, daß sie wirr sind und hinten in einen griechischen Knoten geknüpft. Ich weiß, daß sie zu beiden Seiten die Ohren fast ganz verdecken und daß eine einsame Locke mitten auf der Stirn liegt. Ich weiß, daß sie eine unvergleichliche Gestalt besitzt, aber das kann ich alles nicht innerlich sehen. Doch ich bin verwundert, daß ich mich bemühe, es zu sehen. Warum? Sie ist mir fremd. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß sie mehr für mich wäre, als das Fräulein Mirbeth. Doch wer ist eigentlich dieser Oberst? Was will er von ihr?

Die kleine Helene gefällt mir. Übrigens bemerke ich, daß mir Alles und Alle gefallen. Das beschämt mich ein wenig. Ich bin so gar nicht blasirt. Da habe ich wahrlich wenig Aussicht, dämonisch zu werden.

27. November.

Ich traf Doktor Brosam und erwähnte beiläufig Fräulein Mirbeth. Da lachte er verächtlich und sagte: „Na, die –!“ – „Was? Wie meinen Sie das?“ erwiderte ich unwirsch. – „Sie werden doch der ihre Unschuldsmiene nicht für bare Münze nehmen?“ gellte er. Sein Ton verriet solche Kennerschaft, daß ich schweigen mußte. Wir sprachen von etwas andrem. Der Mann hat diese eigentümliche Art zuzuhören: wie man einem Diener zuhört. Vom Fach versteht er nicht viel. Dagegen stellte er mir einen noch jungen Arzt vor, der es in kurzer Zeit zu großer Praxis in der besten Gesellschaft gebracht hat. Er heißt Doktor Wendland und gefiel mir besonders durch den Ausdruck von Güte, der in seinem Gesicht liegt.

 

Am Abend erwähnte ich den Doktor Brosam und daß ich ihn getroffen. Fräulein Mirbeth wurde sehr bleich und fragte, während ihre Augenlider ruhelos zuckten: „Ah, Sie kennen ihn? Was sprach er denn? Hat er etwas von mir gesagt?“ –

Das geht mir im Kopf herum.

1. Dezember.

Beim Abendessen lernte ich Fräulein von Erdmann kennen. Sie imponirt mir, sie hat jenes echt aristokratische Timbre, das ich liebe. Es gleicht dem Bouquet eines guten Weines. Sie ist sehr gebildet und viel gereist. Sie muß viel Schlimmes hinter sich haben, viele Leiden und Leidenschaften. Sie interessirt mich. Zudem sagte sie mir eine solche Menge angenehmer Sachen, daß ich, als ich allein war, lange mit der Kerze vor dem Spiegel gestanden bin. Fräulein Mirbeth schien mir etwas verstimmt an diesem Abend.

2. Dezember.

Die Erdmann ließ mich in ihr Zimmer rufen. Sie habe entsetzliche Kopfschmerzen, ich möchte ihr ein Mittel geben. Etwas exaltirt benimmt sie sich schon, das muß ich sagen. Ihr Haupt war von starrenden Haarbüscheln umrahmt. Weinend zeigte sie mir ihre Gichtfinger und sagte, das werde sie noch zum Selbstmord treiben. Für eine Frau, die noch so frisch in den Dreißigen stehe, sei dies der Wegweiser zum Grab. Ich war überrascht: denn ich hatte sie für viel älter gehalten. Gut, daß sie nicht davon weiß.

„Nun,“ sagte sie gleich nach dieser Scene, „wie ich höre, sind Sie stark um Fräulein Mirbeth bemüht?“ – „Ich?“ fragte ich erschrocken zurück. Sie drohte schalkhaft mit dem Finger, wurde aber plötzlich sehr ernst und ergriff mich beim Handgelenk. (Ihre Hand ist unangenehm weich und klebrig.) „Ich muß Sie warnen,“ sagte sie, und ihre kleinen Augen funkelten lebhaft. „Ich muß Sie warnen vor dieser Schlange. Wenn Sie nicht in ein Gewebe von Lüge, Falschheit und Hinterlist fallen wollen –“ Sie schwieg bedeutsam. Ich schwieg auch, aber das war idiotisch von mir. Wie gewöhnlich fiel mir erst eine Stunde später ein, was ich hätte antworten sollen. Ich dankte kalt und ging.

Mein Gott, warum reden sie mir alle von Fräulein Mirbeth? Ich will nichts mit ihr zu thun haben. So wenig, als ich ihr bin, kann sie mir sein.

5. Dezember.

„Fräulein von Erdmann ist glühend verliebt in Sie,“ sagte das Fräulein Mirbeth diesen Nachmittag und blickte mich mit etwas unsicherer Fröhlichkeit an. Ich lachte. „Halten Sie mich nicht für stark genug, dieses Gefühl zu erwidern?“ fragte ich ernst. Sie nahm es für bare Münze. Helene kicherte. „Die läßt keinen ungeliebt von dannen ziehen,“ sagte sie pathetisch und fügte zöfchenhaft hinzu: „Passen Sie auf, nun werden Sie ins Theater geschleppt. Ins ‚Käthchen von Heilbronn‘ oder in die ‚alten Junggesellen‘.“

Der helle Winterschnee lag draußen, blendend rein und voll Leuchtkraft. Frau Bender ging nach dem Kaffee mit Helene in die Stadt, und ich war mit dem jungen Mädchen allein. Sie trug ihr schwarzes Kleid, das ganz eng am Leibe liegt und das ich meistens an ihr sehe. Zum ersten Mal waren wir allein. Auch auf dem Korridor war es ganz ruhig. Peinliche Minuten des Schweigens entstanden zu Anfang. Sie sah mich oft scheu von der Seite an, doch wenn meine Augen den ihren begegneten, wandte sie hastig den Blick ab.

„Wie kommt es, Fräulein,“ fragte ich, „daß Sie so leidend aussehn? Stets, solang ich Sie jetzt kenne, haben Sie so einen vergrämten Zug im Gesicht. Sie sind doch nicht unglücklich?“ (Dies „unglücklich“ war albern, dachte ich bei mir) – „Ich, ach nein. Jetzt zum Beispiel ist mir so wohl. Ich habe solche Stunden, wo ich die Zeit stillstehn lassen möchte, – wie jetzt.“

Sie lächelte. Ich weiß es mir nicht zu erklären, aber ihr Lächeln berührt mich namenlos wohlthätig. Wie ein lichter Schein verbreitet es sich von den vollen, weichen, schwellenden Lippen aus erhellend über das ganze Gesicht. Ich möchte ihr stets ein dankbares Wort, eine Schmeichelei sagen, wenn sie so lächelt. – „Aber ich täusche mich nicht,“ fuhr ich hartnäckig fort, „Sie leiden. Ich will Sie ja nicht danach fragen, – glauben Sie nicht, daß ich zudringlich sei – –“ Ich schwieg, denn ich sah sie zusammenschrecken. Sie erschien mir in diesem Augenblick ganz hülflos, ganz ein gebrechliches Wesen, und etwas Mitleidsuchendes lag in ihrem Gesicht. Ich dachte an die Äußerung des Doktor Brosam. „Verstellung! Verstellung!“ rief ich mir zu und sah trotzig zu Boden.

Sie stand vom Stuhl auf, setzte sich auf den Divan und bog den Oberkörper zurück. Sie thut das oft. Es ist, als wünsche sie, freier aufatmen zu können. Dann sagte sie mit einem selbstvergessnen Ausdruck in den Mienen: „Ach, wenn ich reich wäre, – wenn ich reich wäre!“ Ich nickte ihr eifrig zu wie einer, der einen Fremden den eignen Traum erzählen hört. „Ich habe ja keinen Mangel,“ fügte sie ein wenig hastig hinzu, „aber ich mag den Luxus riesig gern. Und die Bequemlichkeit, – kurz, ich möchte nichts missen von dem, was das Leben angenehm macht.“ – „Wenn ich eine Million hätte, ich würde mit Ihnen teilen,“ sagte ich leise. – „Wirklich? Das thäten Sie?“ – Sie schien beglückt zu sein, und ihr Gesicht strahlte vor Freude. Nein, hier ist keine Verstellung, dachte ich voll Zorn über meinen Argwohn. – „O, was würden wir dafür alles anfangen!“ sagte sie verträumt. „Das erste, was ich haben müßte, sind ein paar Jucker und die würde ich selbst kutschiren. Und dann – o so vieles, so vieles!“

Ich hörte staunend zu. Ihre Augen wurden immer glänzender, und während sie den Kopf auf die hintere Lehne des Divans legte, wandte sie den Blick nicht von mir ab. Es war schon dunkel geworden, und Dele kam von der Schule. Sie stürzte jubelnd auf Fräulein Mirbeth zu, die sie in die Arme schloß, heftig emporhob und ihr ein paar wilde Küsse auf die Lippen drückte. So heftig, so feurig war sie dabei, daß mir in einer gänzlich unbestimmten Bangnis der Hals wie zugeschnürt war.

Gleich darauf rauschte Fräulein von Erdmann herein. „Nun, die Herrschaften sind ja in einem höchst interessanten Tete-a-tete,“ flötete sie, und ihre Augen funkelten boshaft in der Dämmerung. Niemand von uns beiden antwortete.

13. Dezember.

Etwas Seltsames ist in mir vorgegangen. Ich kann es nicht verstehen und bin bestürzt, daß es mich weich macht, hoffnungsselig und traumsüchtig. Ja, das Gefühl der Bestürzung ist das Herrschende in mir. Wie kam es nur, wie war es möglich, frage ich mich beständig und es passirt mir, daß ich an allen Pflichten des Werktags wie geistesabwesend vorübergehe.

Ich hatte mit zwei befreundeten Medizinern einen Ausflug nach Tirol verabredet. Wir wollten fünf bis sechs Tage fortbleiben. Am Freitag nachmittag faßten wir den Plan, und abends schon, um neun, wollten wir mit dem Schnellzug nach Kufstein fahren, um dort zu übernachten. Die zwei Kameraden wollten mich um halb neun abholen.

Um sieben kam ich zum Abendessen in die Pension. Mit überlautem Triumph verkündete ich mein Vorhaben, und während die Benders neugierig nach Einzelheiten fragten, schwieg Fräulein Mirbeth, die am untern Ende des Tisches saß, still. Und als ich meiner Freude, die Berge nun im Winterschnee sehen zu können, Ausdruck gab, verfinsterte sich ihr Gesicht immer mehr. Sie sah mich gar nicht an. „Was haben Sie denn, Fräulein?“ fragte ich endlich, und eine dumpfe Besorgnis erwachte in mir.

Zuerst erwiderte sie nichts. Dann stand sie auf und setzte sich auf den Divan. Sie legte die Hände in den Schoß und starrte vor sich nieder. Niemals hatte ich einen so verzweifelten und fassungslosen Ausdruck in ihrem Gesicht beobachtet. Ich setzte mich neben sie. Frau Bender war in der Küche; nur Helene war noch im Zimmer. „Aber was haben Sie denn?“ fragte ich nochmals. – Sie sah mich schnell und mit einem vollen Blick an. „Nein, nein! Sie dürfen nicht fort, Herr Falk,“ sagte sie so flehend, daß meine Augen feucht wurden. Sie betonte das ‚dürfen‘, und ihre Stimme zitterte sonderbar. Sie war heiser.

Ich war weit davon entfernt, hinter dieser Bitte etwas zu suchen. Nur meine Eitelkeit war geschmeichelt. Ich bewies ihr, daß es unmöglich sei, jetzt zurückzutreten. „Ich werde Ihnen schreiben,“ sagte ich lächelnd und auf die Gefahr hin, abgewiesen zu werden. Aber sie sagte nichts.