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Melusine: Ein Liebesroman

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

IX

Es war wenige Tage nach Weihnachten. Das Geläute der Sonntagsglocken erweckte Fräulein von Erdmann aus ihrem Morgenschlummer. „O Gott,“ murmelte sie zerstört, „diese katholischen Städte sind fürchterlich!“ Und sie stieß die Arme in die Höhe und schüttelte die Fäuste.

Das Mädchen brachte den Kaffee. Auf dem Servirbrett lag ein Couvert. Das Fräulein öffnete es: Frau Bender bat dringend um die Bezahlung der rückständigen zweihundertfünfzig Mark, oder wenigstens eines Teils. „Wisch!“ machte die übelgelaunte Dame, zerknitterte das Papier und warf es von sich.

Bald erschien Fräulein von Mahnke, um ihre Morgenvisite abzustatten. Vorsichtig zwischen den herumliegenden, schmutzigen Wäschestücken, Zigarrenschachteln, Unterröcken und Briefschaften hindurchschreitend, gelangte die greise Dame zum Bett des Fräuleins.

„Nun, Sie haben sich recht hübsch da eingenistet,“ bemerkte sie anerkennend. Bei sich jedoch dachte sie: Welch ein Stall! Und die Bewohnerin ist die reinste Vogelscheuche. Die starrenden Haare, dies dicke Gesicht – puh. Ein Schwamm, eine Fettblase.

„Wie mich das freut, daß Sie gekommen sind,“ versicherte Fräulein von Erdmann. „Und wie reizend Ihnen das Kleidchen steht – berauschend – parole d’honneur.“ Sie dachte jedoch: was thut denn die alte Schachtel jetzt schon da? Dies Kleid ist für einen Backfisch. Kurze Ärmel, – lächerlich! Dabei braucht sie einen Stock, um gerade gehn zu können. Puh, ihr ganzes Gesicht ist eine Malerei. Diese alten Jungfern sind schrecklich.

„Sie bewundern meine schönen Arme?“ fragte sie, als sie den Blick des Fräuleins von Mahnke auf ihren entblößten Armen ruhen sah. „Ja, das kann ich Ihnen nicht verdenken,“ fügte sie seufzend hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten und sah mit heimlicher Ironie auf die dünnen Ärmchen des alten Fräuleins.

Das sollen Arme sein? dachte die Mahnke. Würste sind es, dicke, plumpe Würste. „O der Begriff: schön ist doch sehr individuell, man kann schon sagen willkürlich,“ sagte sie mit einer seltsamen Mischung von Demut und Haß.

Fräulein von Erdmann streichelte liebevoll ihren Arm. „Vergessen Sie nicht, meine Teure,“ erwiderte sie, überlegen lächelnd, „daß der berühmte Bildhauer – na! sein Name ist mir jetzt entfallen – vor meinen Füßen gelegen hat und mich bat, ihm meinen Arm für eine Venusbüste modelliren zu lassen. Ich schlug es aber aus. Warum den profanen Augen der Menge preisgeben, was solange unentweiht in stolzer Heimlichkeit keinem menschlichen Auge zu sehen vergönnt war? Das war zu jener Zeit, wo Fürst Lubanoff, – ein Kavalier ersten Ranges – mir seine Hand anbot und Graf Lajos Waldenburg mit dem Marquis Etienne de Grève jenes berühmte Duell hatte. Und wissen Sie warum? Es ist lächerlich, es zu erzählen. Ich hatte im Theater meinen Handschuh aus der Loge ins Parterre fallen lassen und dem Marquis, der ihn mir brachte, eine Blume ins Knopfloch gesteckt. Komisch wie?“ Mit teuflischem Lächeln musterte sie die gebrechliche Gestalt des Fräuleins von Mahnke. Dann aber begann sie plötzlich zu wimmern. „Ach, das ist vorbei! Was ist aus mir geworden! Ich kann keine Nacht mehr schlafen. Heute Nacht, – sehen Sie die verbrannten Papiere in der Waschschüssel? – heute Nacht wollte ich meinem Leben ein Ende machen. Sie erschrecken?“ Mit einem Satz sprang Fräulein von Erdmann aus dem Bett und wanderte unbeschuhten Fußes aufgeregt umher. „Erschrecken Sie nur. Aber ich habe dies Leben gründlich satt! Dreimal verflucht sei dies unerbittliche Schicksal, das mich verfolgt, dieser Vampyr, – o Gott!“ Und sie stampfte auf den Boden, daß die Fenster klirrten und die Tassen auf dem Servirbrett tanzten. Fräulein von Mahnke machte sich immer kleiner, sie schrumpfte förmlich zusammen. „Liebstes, bestes Fräulein!“ fuhr die dicke Dame fort, „ich habe Romane hinter mir, – die Phantasie eines Dante ist kindisch dagegen. Immer bin ich nur einem nichtigen Phantom nachgerannt und das Glück habe ich von mir gestoßen, bis es – futsch! – nie mehr kam. Amphimelas! Amphimelas! Das ist der Hohn des Lebens!“

„Um Gotteswillen, mäßigen Sie sich doch, Teure!“ beschwichtigte die Mahnke beinahe heulend. „Bedenken Sie doch Ihre Nerven!“

„Und nicht schlafen können, nicht essen können, – wenn man so jung ist, so lebenskräftig, so liebeskräftig, – o es ist grausam! Und dann noch die Sorge ums Allernötigste, der Kampf mit dem Drachen Not, – es ist himmelschreiend. Ich habe ja nichts mehr“ – plötzlich wurde ihre Stimme ganz sanft und schmelzend – „nichts woran ich mich aufrichten kann, außer einem. Wissen Sie, daß ich ihn liebe, daß ich ihn anbete, vergöttere, – den jungen melancholischen Zigeuner, Vidl Falk –? Ich liebe ihn wahnsinnig!“ Und sie schleuderte einen Strumpf, der auf dem Tisch lag, durchs Zimmer, daß er am Spiegelrahmen hängen blieb. „Aber wissen Sie auch, daß dieses Haus eine Schlange beherbergt, ein niedriges und verworfenes Geschöpf, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, diesen jungen, herrlichen Menschen in ihre Netze zu locken? Wir, bestes Fräulein, wir, die wir Vertreterinnen der Intelligenz, der Bildung und Moral hier sind, wir müssen dafür sorgen, daß dem Treiben dieser Dame Einhalt gethan werde. Meinen Sie nicht? Sie stimmen mir doch bei?“

Die gepuderten Wangen des älteren Fräuleins färbten sich mit dem Rot sittlicher Entrüstung.

„Denken Sie,“ fuhr Emilie von Erdmann fort, „neulich kam diese nette Dame zu mir herein. Weinend fällt sie auf die Ottomane und als ich sie frage, was denn los sei, antwortet sie schluchzend, der Herr Oberst, – ich bitte Sie, der „Herr“ Oberst – sei ihrer überdrüssig geworden und darüber sei sie ganz verzweifelt. Stellen Sie sich meine Indignation vor. Natürlich, jetzt geht sie einer höchst unsicheren Zukunft entgegen und da heißt es: einen Mann angeln. Was sagen Sie dazu? Frau Bender kann Ihnen übrigens die ganze Komödie ausführlich berichten.“

Erregt und empört verließ Fräulein von Mahnke das Zimmer der noch immer im Hemd promenirenden, verliebten Dame. Das erste, was sie unternahm, war: bei Frau Bender die Wohnung zu kündigen. „Es ist mir unmöglich, mit Personen obskuren Charakters in einem Hause zu logiren, liebe Frau Bender,“ sagte sie bekümmert. Dann flüchtete sie in ihr Gemach und griff mit tendenziöser Hast nach dem Riechfläschchen.

Eintönig verlief das Mittagsmahl. Selbst Fräulein von Erdmann sprach wenig. Der Pole war der Einzige, der redete, obwohl ihm niemand zuhörte. Um zwei Uhr waren Mely und Falk allein. Helene war ausgegangen. Frau Bender schlief; sie schlief wohl vierzehn Stunden im Tag.

Sie sprachen nichts, beide. Wieder entstand jene wortlose Konversation, die nur in Blicken besteht. Es ist ein stilles Hinüber- und Herüberträumen, so wie die Welle von Ufer zu Ufer schaukelt.

„Was für eine schöne Hand haben Sie,“ sagte endlich Falk. Er stand auf wie unter einem glücklichen Gedanken und nahm eine Feder vom Schreibtisch. Dann ergriff er lächelnd ihre Hand und sie ließ es willenlos geschehn. Er schrieb auf die zarte Haut des Handrückens in kleinen, feinen Buchstaben: „Hier ruhten zwei Wandrer aus nach hartem Kampfe.“

Verständnislos und ängstlich sah ihn Mely an. „Wissen Sie nicht, was ich meine?“ neckte Falk. Da begriff sie. Aber sie zeigte nicht, daß sie es verstehe, sondern that, als könne sie es immer noch nicht fassen. Da nahm er noch einmal ihre Hand und drückte die Lippen auf die Stelle, die er beschrieben hatte. Mely sträubte sich nimmer. Sie seufzte tief auf und grub die Zähne in die Unterlippe, starr auf das weiße Tischtuch blickend. Ihr Gesicht erschien noch blasser durch den Reflex des Schnees auf den Dächern.

„Ich muß fort,“ sagte Falk nach langem Schweigen. „Ich darf es nicht aufschieben; es handelt sich um einen wichtigen Gang.“

„Aber wann kommen Sie wieder?“ fragte Mely beunruhigt.

„Vor neun, halb zehn kaum.“

Sie entgegnete nichts. Sie senkte den Kopf so tief, daß Falk von ihrem Gesicht nichts mehr sehen konnte. In ihrer Hand ließ sie eine der kleinen Thonkugeln, mit welchen die Kinder spielen, unausgesetzt hin- und herlaufen. Bisweilen bebte sie wie vor Frost.

„Was haben Sie denn, Mely?“ fragte Falk und nahm ihre Hände zwischen die seinen. Die kleine Kugel rollte zu Boden.

Mit einer schmerzlichen und gänzlich verzweifelten Geste erwiderte Mely: „Ach! – weil Sie jetzt schon wieder fortgehn!“ Ungestüm erhob sie sich, ging zum Fenster und legte dort die Hand vor die Augen. Sie nahm ihr Taschentuch und zerknüllte es. Ihr Herz war voll zum Zerbrechen. Wie einen Strom bittern Leids fühlte sie es in der Brust und dies gab sich als körperlicher Schmerz kund. Sie bereute, was sie gesagt und sie fürchtete Falks Erwiderung. Zugleich aber wartete sie angstvoll darauf. Er trat zu ihr und legte schüchtern seinen Arm um ihre Taille. „Sei vernünftig,“ sagte er sanft und rasch. „Nicht zürnen, bitte! – nicht böse sein,“ (offenbar wollte er das du nicht wiederholen). „Ich muß ja wirklich fort.“

„Nein – nein!“ erwiderte Mely mit dem Ausdruck eines Kindes, das gezüchtigt zu werden fürchtet. Der Kummer, den sie empfand, machte Falk ratlos. „Dann will ich bis sechs wieder da sein,“ sagte er nachgiebig.

Mely entzog sich ihm hastig und setzte sich auf den Divan, wo sie das Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Ihr war, als hinge all das junge Glück davon ab, daß er bliebe. Und doch fühlte sie auch, wie kindisch das sei, und daß er nicht nachgeben dürfe, um von dem Unnahbaren, Bewunderungswürdigen, das er – Gott weiß wodurch – in ihren Augen besaß, nichts zu verlieren.

Aber Falk war schwach; er gab nach. Er bat sie, mitzugehen; im Vorbeigehen wollte er sich bei den Leuten entschuldigen. „Und dann streunen wir ein wenig,“ meinte er lächelnd. Mely sah ihn von unten herauf mit einem schnellen, leuchtenden, verheißungsvollen Blick an.

Falk trat dicht vor sie hin und berührte mit den Lippen ihr Haar. „Nicht doch! Um Gotteswillen nicht hier!“ rief Mely erschrocken. Aber er machte nur eine gleichgiltige Handbewegung.

 

„Wie seltsam duftet das Haar,“ sagte er. „Ich glaube, das kann man nie vergessen. Und wie es aussieht, – dies dunkle Wirrsal, ein wahrer Strudel, – und doch geordnet. Es ist eine sehr ordentliche Unordnung. Und diese eine, dicke Locke auf der Stirn sieht aus wie ein Fragezeichen. Sie kommen mir vor wie ein Buch und diese Locke ist der Titel: ein Fragezeichen.“

Wie ein glückliches Leuchten huschte es über ihr Gesicht und aller Kummer verschwand auf einmal.

„Kennen Sie das Märchen von der Prinzessin?“ begann er wieder. „Die kommt an die Stadt und das Thor ist geschlossen. Und der König selbst geht und öffnet das Thor, damit die Prinzessin herein kann ..... das kennen Sie nicht? Sehen Sie, das sind wir. Nur bin ich in diesem Fall die Prinzessin und Sie der König. Wie hätte ich auch sonst zu Ihnen kommen können, wenn Sie nicht eigenhändig das Stadtthor aufgemacht hätten! Ach, es ist närrisch, nicht? Es ist phantastisch,“ murmelte er, sich selbst bespöttelnd und wie zerknirscht von dieser Kritik.

Die Thür öffnete sich und die Leisetreterin Helene in Hut und Mantel kam herein. Und obwohl sie ganz harmlos bei einander saßen wie Leute, die sich vom Wetter unterhalten, erröteten Falk und Mely zu gleicher Zeit. Diese Verlegenheit steigerte sich so sehr, daß Falk, der aufgestanden war, mit den Fingern das Rad der Nähmaschine so lange drehte, bis die Nadel knackend brach. –

Später saßen sie allein in einem Seitenzimmerchen des „Marco Polo“. Sie sprachen über die Zukunft, – immer in einer lächelnden und fast romantischen Weise, als ob keines von beiden so recht von Herzen daran glaube und es nur ein Wettstreit sei: wer den schönsten Traum erzählen könne. Mely war innerlich ruhig. Keine Sorge bedrückte sie, obwohl ihr stets gegenwärtig war, daß sie gestern das letzte Geld, das sie besessen hatte, Frau Bender gegeben und daß sie nun aller Mittel entblößt war. Sie war nicht leichtsinnig, aber wie die Wärme des Frühlings das Eis auftauen läßt, so schmolz all das Harte, Winterliche, Frostige ihres Lebens dahin vor dieser Wärme, die jetzt ihre Seele erfüllte. Bisweilen nur fühlte sie ein schweres Entsetzen, – ein kurzes Erwachen aus tiefem Schlaf. Oftmals brachte sie den größten Teil der Nacht wachend zu und da war sie voll von einer Schwermut, die sie weit emporhob über die Nahrungssorgen.

Als sie den Theesalon verließen, dämmerte es schon und schon brannten die elektrischen Bogenlampen. Rötliche Leuchtkugeln, hingen sie mitten im Winternebel, und oft flackerten sie und wurden rot oder violett. Dies Aufflackern und Zusammensinken hatte etwas von dem Flügelschlag eines sterbenden Vogels.

„Was haben Sie denn?“ fragte Falk das junge Mädchen, das sichtlich zitterte und wie eine Schlafwandelnde dahin ging.

„Mir ahnt ein Unheil,“ sagte sie leise und trostsuchend.

Als sie um die Ecke der Maffeistraße bogen, wurden sie durch das heftige Gebell eines Hundes erschreckt. Es war Pitt, der auf ungestüme Art seine Freude zu erkennen gab und an Mely emporzuspringen versuchte. Sie lächelte zuerst dem Tiere ein wenig zerstreut zu. Falk wollte sich niederbeugen, um den Hund zu streicheln, als er voll Entsetzen die Veränderung in Melys Gesicht wahrnahm. Sie war so weiß geworden wie der Schnee und ihre Augen starrten wie trunken, ja wie blöde auf einen einzigen Punkt. Und plötzlich wurde sie so rot, wie Falk sie noch nie gesehen hatte. Ihr Gesicht wurde purpurn, Ohren, Stirn und Hals waren von glühender Röte bedeckt. „Der Oberst,“ sagte sie, mühselig lächelnd. Dieses mühevolle, bedrückende Lächeln empfand Falk wie einen Schnitt ins Fleisch. Die Angst, die Scham und die Verzweiflung und der Trotz waren so deutlich darin ausgeprägt, daß sie wie ein Bild der Zerrissenheit aussah. Der Oberst war jetzt auf vier Schritte nahe gekommen und blickte Mely an. Nie in ihrem Leben vergaß sie diesen Blick. Weder Hohn, noch Zorn, noch Bitterkeit lagen darin; aber durch die namenlose Verachtung, die er enthielt, erschien er ihr wie ein Hieb mit der Peitsche. Einer seiner Freunde ging mit ihm, den Mely kannte. Und dieser Mensch stierte sie frech an mit einem breiten, lustigen Lachen, und sein rotes Gesicht glänzte wie bei einem guten Spaß. Wie der Oberst ging auch er vorbei, ohne zu grüßen. Dieser eine Umstand machte Mely ganz schwindlig vor Schmerz. Sie schämte sich so sehr, daß sie nichts thun konnte, als das mühselige Lächeln auf den Lippen behalten. Vor der ganzen Straße voll Menschen, von denen doch keiner auf sie achtete, schämte sie sich, und das Lächeln, das etwas Irrsinniges hatte, schien auf ihrem Gesicht erstarrt zu sein.

Falk ging mit ihr in einen Hausflur, wo sie sich an die Mauer lehnte und in die Höhe starrte. Wieder bedeckte eine große Blässe ihr Gesicht, das einen grauen, mehligen Ton hatte. Kraftlos stand sie da. Pitt war ihr gefolgt; das kluge Tier wandte keinen Blick von ihr. „Alles ist aus!“ sagte sie leise.

Falk war ratlos. „Was ist aus?“

„Nun er hat mich gesehen mit Ihnen, – und“ …

„Aber das macht ja nichts. Er weiß doch nicht, wer ich bin. Sie können ihm doch sagen …“

„Ach, wenn Sie wüßten! Er vermutet jetzt das Allerschlimmste. Er hat mir ja auch streng verboten, auf der Straße mit jemand zu gehen. Selbst mit einer Dame darf ich nicht gehen. Ich darf keine Freundin haben, nichts. Bah, es ist mir wirklich gleich; jetzt lach ich dazu. Es hat eben so sein sollen, das tröstet mich. Ja wirklich, das tröstet mich. Es wäre ja ohnehin zu Ende gewesen, – natürlich. Aber jetzt ist alles aus.“

Diese verworrenen Sätze fielen wie eine wilde Klage von ihren Lippen. Was soll jetzt mit mir werden? dachte sie. Diese Frage folterte sie, daß sie Kopfschmerz bekam. Sie war froh über diese Schmerzen; jetzt verschwand doch das aufdringliche Bild: der lachende Freund mit seinen gelben Zähnen, seinem grinsenden Gesicht. Sie seufzte.

Vidl Falk sah seinen Argwohn plötzlich groß geworden. Dieser Argwohn sah mit finsteren Augen aus seinem Versteck heraus. Er war hungrig und verschlang auch Nichtigkeiten, um sich zu sättigen. Aber er wurde niemals satt.

X

Eine Stunde darauf hatte Mely den Vorfall vergessen. Der Abend kam, und Falk mußte fortgehen, da er nachmittags die Leute nicht zu Hause getroffen hatte. Er hatte sich verspätet. Als das Nachtmahl vorbei war, stand er auf, verbeugte sich gegen die Damen und wollte hinaus. Da sah er Melys blasses Gesicht mit einem bekümmerten Ausdruck auf sich gerichtet. Lange zögerte er; er wußte nicht, was er sagen sollte, um Frau Bender und Helene dies auffällige Warten zu erklären. „In einer Stunde bin ich wieder da,“ murmelte er endlich, ganz zu sich redend, und stürmte hastig hinaus. Helene lächelte spöttisch. Mely war gereizt und fuhr sie schroff an. „Warum lachen Sie denn? Was soll das bedeuten?“ Helene zuckte die Achseln. „Wie mißtrauisch sind Sie,“ fuhr Mely leiser fort. „Sie sind mißtrauisch, ich glaube aus Vorsatz.“ Helene schüttelte den Kopf. Das wollte sagen: Ich habe so viele Erfahrungen, daß ich dergleichen riskiren darf. Ihre glatte, übergroße Stirn leuchtete wie eine geschliffene Platte, und die Augen blitzten streitlustig. Aber sie war viel zu bequem, um zu reden. Sie verschränkte die Arme und sah vor sich hin mit dem unveränderlich klugen Gesichtsausdruck, der ihr eigen war. Frau Bender nähte, besserte die Wäsche aus und seufzte oft aus schwerem Herzen. „Meine Tochter thut gar nichts,“ klagte sie etwas schüchtern, als fürchte sie Helenes Erwiderung. Aber die runzelte bloß die Stirn.

Mely hatte sich auf den Divan gelegt, mit dem Gesicht gegen die Wand. „Eine Stunde ist lang,“ flüsterte sie in sich hinein und horchte auf das Ticken der Wanduhr. Der Wind sauste und Schneekörner knatterten gegen die Fenster. Die Nacht war schwer und kalt. Es war ganz ruhig im Zimmer. Ein Schloß im Schwarzwald, dachte Mely, wie fein! Aber wie kann das sein! Wie kann das jemals Wirklichkeit werden? Er ist so arm wie ich, und wie will er so viel Geld erwerben? Allerdings, wenn er Arzt sein wird … Aber was thu’ ich da, was für närrische Gedanken sind das! Ich muß mich schämen. Er spielt ja nur mit mir. Ein bischen Zeitvertreib, die Männer lieben das, und alle sind sie gleich; einer ist wie der andere. Wie komisch, – und wozu kann das alles führen. Wie unbegreiflich ist die Liebe, ich verstehe sie nicht. Es ist etwas so Märchenhaftes dabei, so erstaunlich ist es. Nein, ich könnte lachen, und wenn ich an ihn denke, muß ich erröten. Ob er wohl noch so nett ist, wenn wir verheiratet sind? Wie dumm bin ich! Früher einmal, da hatte ich den Oberst ganz gern, aber wie anders ist die Liebe! Ich fürchte mich eigentlich. – Ach, ist denn die Stunde noch nicht vorbei?

Die Stunde verflog und Falk kam nicht. Da fühlte sie sich tief unglücklich. Jede Minute, die verstrich, ohne daß er kam, machte sie unglücklicher. Ihr Herz preßte sich zusammen wie unter einem unwiderstehlichen Schmerz, und das Tapetenmuster flimmerte vor ihren Augen. Endlich krachte das Hausthor, und atemlos, immer noch das Gesicht der Wand zugekehrt, lauschte sie den allmählich lauter werdenden Schritten auf der Treppe.

Pustend und die Hände reibend, trat Falk ein. „Ah, Fräulein Mirbeth schläft!“ sagte er leise, wie um sie nicht zu wecken. Sie wünschte, daß er in diesem Glauben bleibe, und regte sich nicht. Sie glaubte, er müsse sonst die überstandenen Leiden von ihrer Stirn lesen können.

„Sehn Sie!“ sagte Falk frohlockend: „Gerade eine Stunde.“

Schlaftrunkenheit heuchelnd, wandte sich Mely schwerfällig um und gähnte, wie Erwachende zu thun pflegen. „Gar nicht wahr,“ sagte sie vorwurfsvoll, „das war viel länger als eine Stunde.“

„Neun Minuten mehr,“ bestätigte Helene ernsthaft.

Lange konnte Mely in dieser Nacht nicht schlafen. Und sie wünschte es auch nicht. Die Nacht war so still, und ihre Sinne waren durch die Ruhe, wie durch das Erlebte so geschärft, daß sie die pfeifenden Atemzüge der Erdmann vom Nebenzimmer vernahm. Es war nichts Bestimmtes, an das sie dachte, kein verlockendes Phantasiebild, sondern eine unterdrückte Erregung hielt sie wach, eine bohrende Unruhe, die sie mit Spannung gegen die kommenden Ereignisse erfüllte. Alle anderen Lebensinteressen waren für sie unbedeutend geworden. Es war nicht der Mühe wert, darüber zu sinniren.

Als sie einschlief, war es drei Uhr und erst gegen elf Uhr vormittags wachte sie auf. Dann lag sie noch über eine halbe Stunde mit offenen Augen und mühte sich ab, einem Traum, der ihr entfallen, auf die Spur zu kommen. Sie lächelte in der Erinnerung an diesen Traum, aber sie wußte durchaus nicht, welcher Art er gewesen.

Nach dem Mittagessen verwickelte das Fräulein von Erdmann Vidl Falk in ein sinniges Gespräch über die Rubenssche Amazonenschlacht. Mely saß am Fenster. Sie war verstimmt, und die dicke Dame bemerkte es. Instinktiv erriet sie auch den Grund und war um so mehr bemüht, den jungen Mann in die Fäden ihrer Konversation zu ziehen.

Plötzlich sprang sie von ihrem Thema ab und sagte: „Ach, beantworten Sie mir einmal eine Frage: haben Sie sich schon einmal verliebt?“ Und sie legte vorsichtig ihre Hand auf die seine. Ihre Ohrlappen waren röter als sonst. Dann lachte sie, während Falk seine Hand in Sicherheit brachte. „Wie er schaut! ach! – Sie sind erstaunt über meine Frage?“

„O nein, – oder vielmehr ja.“

„Reizend! O nein, oder vielmehr ja.“ Und wiederum trällerte sie ihr Lachen wie eine Kadenz herunter. Falk runzelte die Stirn.

„Warum diese Falte?“ fragte die allzulaute Dame; sie schmolz in Hingebung. „Fort damit, sie ist häßlich. Wie kann man ein so finsteres Gesicht machen, wenn man so schöne Augen hat. Nicht wahr, Fräulein Mirbeth? Finden Sie das nicht auch?“

Mely bejahte, dann verließ sie langsam das Zimmer, – zögernd, damit es nicht scheine, als ob sie dieser Scene wegen ging.

Die Erdmann bog sich ganz zu Falk hinüber. „Ich will meine Frage einschränken,“ flüsterte sie. „Sagen Sie: sind Sie verliebt, sind Sie verliebt?“ Es war ihre Gewohnheit, jede Frage oder jeden Ausruf zu wiederholen. Sie war jetzt erregt, und ihre Augen funkelten.

Falk errötete und lächelte kindisch. „Ich bitte Sie, Fräulein,“ stammelte er. Seine Augen blitzten zornig.

„Nein, diese Jugend!“ gellte die Dame spöttisch und schleuderte die geballte Serviette über den Tisch. Es entstand ein langes Schweigen.

„Merkwürdig,“ sagte Falk; „wenn solche Verlegenheitspausen eintreten, bin ich nie derjenige, der sie unterbricht.“

Das Fräulein starrte ihn verblüfft an und bemühte sich, geheimnisvoll zu lächeln.

Als Falk allein war, befand er sich in einer Stimmung, in der ihn jedes Geräusch schmerzte. Wenn streitende Stimmen oder Gelächter von der Straße erschallten, schreckte er zusammen. Wenn ein Hund bellte oder ein Lastwagen rasselte, so versetzte ihn das in unbegreifliche Erregung. Besonders das Hundegebell nahm gar kein Ende.

 

Es dunkelte, als er, von der Stadt zurückkommend, Mely im Korridor traf. Sie stand vor dem Spiegel und richtete das Haar. Sie trug den grüngrauen, großgeblümten Schlafrock, der ihr Gesicht noch bleicher erscheinen ließ. Es war, als wünsche sie mit diesem Kostüm zu sagen, daß es ihr gleichgültig sei, ob sie den Leuten gefalle oder nicht.

„Ich mache Kaffee, Fräulein Mely,“ sagte Falk. „Wollen Sie mittrinken? In meinem Zimmer natürlich. Wir laden auch Frau Bender und Helene dazu ein.“

Mely, die zuerst gezögert hatte, war jetzt freudig dabei. Falk ließ das Zimmer heizen und stellte einen Topf Wasser auf den Spiritusapparat. Als er nach einiger Zeit ins Wohnzimmer trat, saßen Mely und Frau Bender dicht bei einander, und Frau Bender weinte. Sie sah dabei scheu nach ihm, und er hatte das Gefühl, als ob man soeben von ihm gesprochen hätte. Mely stützte den Kopf in beide Hände und sah unbeweglich auf die Tischplatte. Falk rührte sich nicht mehr von der Stelle. Indem er das junge Mädchen ansah, ohne mit den Lidern zu zucken, stieg Zweifel auf Zweifel in ihm auf. Woran er zweifelte, das wußte er nicht. Es war der dunkle Ingrimm eines Menschen, der betrogen zu werden fürchtet, während er bereit ist, sich hinzugeben mit ganzer Seele.

Er sagte nichts, sondern ging, nachdem er sich etwas erstaunt geräuspert hatte, in sein Zimmer zurück und zündete die Lampe an. Bald darauf kam Mely. Sie sah bestürzt aus, und als bereue sie ihre Zusage, blieb sie unentschlossen an der Thüre stehen. Falk, gleichfalls befangen, schob einen Fauteuil zum Ofen und lud sie mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. „Helene kommt gleich,“ sagte Mely, gleichsam sich selbst entschuldigend. „Frau Bender hat zu viel Arbeit.“

„Warum hat denn Frau Bender geweint?“ fragte Falk, mehr um ein Gespräch anzuknüpfen, als aus Neugierde.

Das junge Mädchen lächelte schwermütig und schüchtern. Ihr Blick, sonst ein wenig unstät, war plötzlich sanft und ruhig geworden. „Ich weiß das wirklich nicht,“ sagte sie, und Falk bemerkte, wie sie immer noch erstaunt war über das Benehmen dieser Frau. „Sie sagte, – doch wie kann ich Ihnen das erzählen!“

„O bitte –!“

„Nun gut. Sie lobte Sie, – Sie seien so gescheit und so ein herzlicher Mensch – diesen Ausdruck gebrauchte sie – und ich möchte doch ein wenig lieb zu Ihnen sein. Später bereuen Sie es sonst, sagte sie zu mir. Gar gern läuft das Glück vorbei, auf Nimmersehen. Ja, und auf einmal brach sie in Thränen aus.“

Falk erwiderte nichts darauf. Er blickte an Mely vorbei, aber er sah doch, daß ihr Gesicht rot war; nur konnte er nicht unterscheiden, ob es der Widerschein des roten Lampenschirms oder natürliche Färbung war. Eine schwüle Dämmerung herrschte in dem kleinen Gemach und es war sehr still. Am Kaffeekessel zuckten die blauen Spiritusflämmchen und schlugen manchmal gleich Wellen empor. Das Wasser begann zu sprudeln, und Falk ging, um die Flamme zu löschen. Er verrichtete diese Dinge mit ironischer Wichtigkeit. In seinem Innern hatten sich, während er jetzt den Kaffee bereitete, alle trüben Stimmungen geklärt; sie waren zerflattert. Er war Mely dankbar, – doch weshalb? Vielleicht für ihre Offenheit. Denn ein Geständnis lag in dem, was sie ihm mitgeteilt; daran zweifelte er nicht.

Als Helene eintrat, knixte sie spöttisch, nahm Platz und sah mit wohlwollendem Ernst umher. „Hübsch – stimmungsvoll!“ sagte sie und plötzlich lachte sie in ihrer hölzernen Art. „Nein, – wie Sie dastehen und kochen!“ rief sie und schlug die Hände zusammen. Diese Lustigkeit hatte bei ihr stets etwas Unglaubwürdiges.

Gar bald dampfte der wohlriechende Kaffee aus den Tassen.

„Wie wir jetzt beisammen sitzen, – das ist komisch,“ meinte Helene. „Gerade, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Wenn jetzt wer Fremdes käme und zusähe, – er müßte uns für Geschwister halten, – oder so was Ähnliches,“ fügte sie hinzu, wieder spöttisch werdend. „Derweil ist der eine aus Norden, der andere aus Süden und der dritte vielleicht aus der Hölle.“

„Ich bin doch hoffentlich nicht der Dritte?“ fragte Falk unwirsch. „Was Sie da sagen, ist übrigens ganz gut. Aber seltsam, während Sie reden, habe ich immer das Gefühl, als dächten sie bei sich: ach was, die sind ja doch nicht wert, daß ich was Ordentliches rede.“

„Ja, – ja!“ bestätigte Mely eifrig.

„Das wäre sehr keck von mir,“ gab Helene obenhin zurück.

„Wie verschieden sind Sie von Ihrer Mutter,“ fuhr Falk fort. „Sie haben keinen Zug von ihr. Aber man kann Ihnen Glück wünschen zu dieser Mutter, – eine ideale Frau.“ Weshalb diese Hymne? fragte er sich gleich darauf etwas beklommen. Man muß abwarten. Dieselbe Frage hatte sich Mely gestellt.

In der Küche rief Frau Bender nach ihrer Tochter, und Helene huschte davon.

„Ich fühle mich jetzt ganz glücklich,“ sagte Mely, tief aufatmend. Und dann sah sie scheu zu Falk hinüber, ob er sie nicht verspotte. Sie begegnete seinem nachdenklichen, fast grüblerischen Blick, der sie zu durchdringen schien. Oder nein, er schien nur zu fragen: bist du wirklich so, wie du jetzt scheinst? Ist dies dein wahres Wesen? O, ich möchte in deine Seele sehen – so redete dieser Blick – wie auf den Grund eines klaren Sees.

Falk rückte ihr näher. Sein Schatten fiel auf sie, so daß sie förmlich begraben war in Dunkel. Nur ihre Augen glänzten daraus hervor mit einem feuchten, perlenden Glanz und mit einem kindlich bangen Ausdruck. Nach einer langen Pause sagte sie mit unsicherer Stimme: „Ihr Amor da droben hat ja keinen Kopf mehr.“

Er lächelte. „Das ist natürlich. Wissen Sie denn nicht, daß man in der Liebe den Kopf verliert?“

Sie schaute ihn verwundert und erschreckt an. Diese Verwunderung, dieses Erschrecken, all das war kindlich. Es erregte ihm ungefähr folgende Empfindung. Als Kind hatte ihm die Mutter bisweilen von der märchenhaften Pracht erzählt, die bei dem oder jenem reichen Manne herrschte. Genau das zweifelnde Entzücktsein und die furchtsame Sehnsucht, die er damals empfunden, fand er jetzt bei ihr.

„Sie sind immer so still,“ sagte Mely. „Sie reden so selten. Und wenn ich dann was sage und Sie überlegen so lange, da mein’ ich dann immer, ich hätte eine Dummheit gesagt.“ Sie hielt inne, wie um zu prüfen, welchen Eindruck ihre Worte machten. Dann fuhr sie fort: „Ich denke mir, Sie müssen immer recht allein gewesen sein. Es hat sich vielleicht Niemand um Sie gekümmert –? Nicht?“

„Da haben Sie recht,“ erwiderte er mit so langsamer Stimme, als könne er nicht Raum genug finden, um all die Dankbarkeit durchhören zu lassen, die er für ihre Worte hatte. „Und solche Leute, die immer allein sind, verlieren dann allen Maßstab für sich. Ich hatte wohl einen Freund, aber eines Tages mußte ich Geld von ihm leihen und dann ging das so in die Brüche, sehen Sie.“ (Warum sage ich das? dachte er. Ich will mich nur putzen: will nur zeigen, daß ich für diese Geldborgerei ein feines Gefühl habe.) „Eine Zeitlang hab ich so gut wie gehungert, das dürfen Sie glauben. Kaum, daß ich manchmal Brot hatte. Denken Sie, was ich vor ein paar Monaten für eine sonderbare Leidenschaft gehabt habe. Jeden Mittag besuchte ich den nördlichen Kirchhof, und sah mir im Leichenhaus die Toten an. Ich hatte dafür das größte Interesse. Ich studirte den verschiedenen Gesichtsausdruck bei den verschiedenen Leichen, und wenn ich mich in Not befand, war es mir eine Wohlthat, stets ein Bild des Todes vor Augen zu haben. Aber das entsetzt Sie?“

„Wissen Sie, was ich zuerst gedacht habe, wie ich Sie kennen lernte?“ sagte Mely. „Ich hielt Sie für einen großen Weiberfeind. Erinnern Sie sich, wir sprachen einmal bei Tisch von Schopenhauers Aufsatz über die Weiber, und Sie waren so begeistert dafür –“