Die Belagerung von Krishnapur

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In Kalkutta ordnete die Regierung Ermittlungen an, aber es kam kein Grund für das Phänomen ans Licht und die Aufregung, die es verursachte, flaute innerhalb von ein paar Tagen ab. Man vermutete, es sei vielleicht ein abergläubischer Versuch, eine Choleraepidemie abzuwenden. Nur der Collector blieb überzeugt, dass sich Unruhen anbahnten. Er erinnerte sich dunkel, im Zusammenhang mit einer anderen Gelegenheit von einer ähnlichen Chapati-Verteilung gehört zu haben. Hatte es nicht vor der Meuterei von Vellore etwas Ähnliches gegeben? Er fragte jeden, den er traf, aber niemand hatte davon gehört.

Bevor er Krishnapur verließ, um seine Frau nach Kalkutta und zu ihrer Einschiffung nach England zu geleiten, fasste der Collector einen seltsamen Entschluss. Er ordnete an, »zur Entwässerung während des Monsuns« solle rund um den gesamten Gebäudekomplex der Residenz ein tiefer Graben in Verbindung mit einem dicken Erdwall ausgehoben werden.

»Den Collector scheint sein schwacher Punkt erwischt zu haben«, bemerkte der Magistrate leichthin gegenüber Mr. Ford, einem der Eisenbahningenieure, während sie schmunzelnd den Fortschritt dieser Arbeit überwachten.

II

Es ereignete sich in diesem Winter, dass George Fleury mit seiner Schwester nach Kalkutta kam und Louise Dunstaple zum ersten Mal erblickte. Man hoffte, aus ihrer Begegnung könne etwas werden, denn Fleury war nicht verheiratet und Louise, wenngleich gesellschaftlich nicht ganz ebenbürtig, stand nach allgemeinem Dafürhalten in der Blüte ihrer Schönheit … wahrlich, in ganz Kalkutta sprach man von ihr als von der Schönheit der kühlen Jahreszeit. Sie war sehr hold und bleich und ein wenig unnahbar; der eine oder andere hielt sie für »dumm«, wie es blonden Menschen manchmal so ergeht. Jedenfalls war sie unnahbar, zumindest in Fleurys Gegenwart, aber einmal, als er während eines Pferderennens einen Blick auf sie erhaschte, sah er sie keusch mit einigen jungen Offizieren flirten.

Dr. Dunstaple war zu dieser Zeit der zivile Wundarzt von Krishnapur. Doch irgendwie hatte er es eingerichtet, sich mit seiner Familie für die kühle Jahreszeit nach Kalkutta abzusetzen, während er Krishnapurs Zivilisten den süßen Gnaden von Dr. McNab überließ, der gerade den Posten des Regimentsarztes übernommen hatte und dafür bekannt war, einige der extremsten, alarmierend direkten Methoden der zivilisierten Medizin überhaupt zu vertreten.

Seinen Sohn Harry hatte der Doktor allerdings in Krishnapur zurückgelassen. Dank der Hilfe eines Freundes aus Fort William* war der junge Harry als Ensign bei einem der in Krishnapur (oder vielmehr in dem fünf Meilen entfernten Captainganj) stationierten Eingeborenenregimenter der Infanterie untergebracht worden, wo seine Eltern ihn im Auge behalten und aufpassen konnten, dass er sich nicht verschuldete. Harry, der inzwischen Leutnant war, blieb sogar recht gern zurück, als seine Familie, einschließlich der zwölfjährigen kleinen Fanny, fortging, um sich in Kalkutta zu vergnügen; als »Militär« neigte er dieser Tage dazu, mit Herablassung auf Zivilisten zu blicken, und Kalkutta war zweifelsohne voll von diesen Gesellen.

Umgekehrt war es Mrs. Dunstaple nicht unrecht, dass ihr Sohn in Krishnapur zurückblieb, auch wenn das bedeutete, ihn nicht an ihrer Seite zu haben. Harry war in einem empfindlichen Alter, und in Kalkutta wimmelte es von ehrgeizigen Müttern, die nur darauf aus waren, junge Offiziere wie Harry dem Charme ihrer Töchter auszusetzen. Ach, Mrs. Dunstaple wusste nur allzu gut, dass Indien voller junger Leutnants war, die ihre Karrieren gleich am Anfang durch desaströse Ehen ruiniert hatten. Doch diese Überlegung, was Harry betraf, hinderte sie nicht daran, auf Gelegenheiten zu hoffen, um Louises Charme geeigneten jungen Männern vorzuführen. Im Osten verfliegen die roten Wangen eines Mädchens so schnell, so unglaublich schnell (obwohl dies, streng genommen, auf Louise nicht zutraf, da ihre Schönheit von der blassen Sorte war).

Die Saison war außerordentlich erfolgreich gewesen, und nicht nur für Louise (die sich allerdings in Sachen Anträge als schwer zufriedenzustellen entpuppt hatte). Es hatte viele glänzende Bälle und ungewöhnlich zahlreiche Hochzeiten und andere Vergnügungen gegeben. Überdies war der Turf, in den letzten Jahren im Niedergang begriffen, wunderbar wiederaufgelebt. Natürlich sah man wohl beim Planters’ Handicap dieselben Tiere laufen wie beim Merchants’ Plate oder beim Bengal Club Cup, aber die Saison zeichnete sich durch bemerkenswerte Pferde aus, denn es war die Ära von Legerdemain, Mercury und der großen Stute Beeswing. Aber die kühle Jahreszeit neigte sich dem Ende zu, als Fleury und seine Schwester Miriam eintrafen, und in den Gesellschaftszimmern von Kalkutta sehnte man sich nach neuen Gesichtern wie den ihren (all die alten Gesichter waren mittlerweile so vertraut, dass man sie kaum noch sehen konnte). Im Übrigen war bekannt, dass ihr Vater ein Direktor der Company* war, mit allem, was das im Indien der Handelskompanie an gesellschaftlichem Ansehen bedeutete. Es ging auch das Gerücht, der junge Fleury sei kaum eine halbe Stunde in Indien gewesen, als Lord Canning* ihm schon eine Zigarre angeboten habe. Kein Wunder, dass die Nachricht von seiner Ankunft im Haus der Dunstaples in Alipore für einige Aufregung sorgte.

Ungeachtet der sehr unterschiedlichen Ränge, die sie jetzt in der Gesellschaft einnahmen, waren Dr. Dunstaple und Fleurys Vater vierzig Jahre zuvor miteinander in die Schule gegangen und tauschten, nach all dieser Zeit, immer noch ein oder zwei Mal im Jahr derbe kleine Briefe über Sportfreuden aus, wie Schuljungen. Der Doktor hatte guten Grund, sich über diese Freundschaft zu freuen, denn es war Sir Herbert Fleury zu danken, dass dem jungen Harry eine Kadettenstelle in Addiscombe, an der Militärschule der Ostindien-Kompanie, gewährt worden war; es lag bei den Direktoren, die Kadettenstellen zu vergeben.

Im Lauf ihres Briefwechsels hatte der ältere Fleury oft seinen Sohn, George, erwähnt, mitten unter den Sumpfhühnern, den Fasanen und den Füchsen … George studierte in Oxford und sollte zu gegebener Zeit vielleicht nach Indien kommen. Aber die Jahre vergingen, ohne ein Zeichen vom jungen Fleury. Auch in den Briefen seines Vaters wurde er nicht mehr erwähnt. Irgendeine häusliche Tragödie ahnend, hatte der Doktor seine Briefe taktvoll aufs Sauspießen und Ortolane beschränkt. Weitere zwei oder drei Jahre waren vergangen, und nun, plötzlich, als der Doktor es nicht mehr erwartete, war der junge Fleury wieder aufgetaucht unter den Füchsen. Wie es schien, kam er nach Indien, um das Grab seiner Mutter zu besuchen (zwanzig Jahre zuvor, während Sir Herbert persönlich in Indien weilte, war seine junge Frau gestorben und hatte ihn mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen); gleichzeitig hatte das Direktorium ihn beauftragt, ein Büchlein abzufassen, in dem er beschreiben sollte, welche Fortschritte die Zivilisation unter der Herrschaft der Company in Indien gemacht hatte. Aber das waren nur die vorgeschobenen Gründe seines Besuchs … der wahre Grund, warum der junge Fleury nach Indien kam, war das Bedürfnis, seine jüngst verwitwete Schwester Miriam, deren Ehemann, Captain Lang, vor Sewastopol getötet worden war, ein wenig abzulenken.

Nun waren George Fleury und seine Schwester in Kalkutta eingetroffen, und Mrs. Dunstaple hatte gehört, dass er ziemlichen Eindruck machte. Sogar seine Kleidung, nach der allerneusten Mode, wie es hieß, war Stadtgespräch. Anscheinend hatte man ihn etwas tragen sehen, was definitiv die erste »Tweedside«-Loungingjacke war, die in der Präsidentschaft Bengalen in Erscheinung trat; dieses Kleidungsstück, waghalsig untailliert, hing gerade herunter wie ein Kartoffelsack und erregte den Neid jedes Beau auf der Chowringhee Road. Auf Geheiß seiner Frau setzte sich der Doktor unverzüglich hin und schrieb eine warmherzige Einladung an Fleury und Miriam, den Dunstaples bei einem Familienpicknick, das sie im Botanischen Garten einzunehmen planten, Gesellschaft zu leisten. Aber selbst als er den Brief versiegelte, kam Dr. Dunstaple nicht umhin, sich zu fragen, ob Fleury sich wirklich als das erweisen würde, was seine Frau erwartete. Tatsache war, dass Harry während seiner Zeit in Addiscombe einmal ein paar Tage bei den Fleurys auf dem Land gewesen war und seinem Vater später davon erzählt hatte. Im Lauf seines Aufenthalts hatte Harry den jungen George nur selten zu Gesicht bekommen, aber eines Abends, als er zu Bett ging, angenehm müde, nachdem er den ganzen Tag mit dem älteren Fleury auf der Jagd gewesen war, hatte er der schwirrenden, mondhellen Nacht sein Fenster geöffnet und, sehr schwach, die Klänge einer Geige gehört. Er war sicher, es müsse George gewesen sein. Am nächsten Morgen hatte er die besagte Geige, ein paar taufeuchte Notenblätter auf einem Musikpult sowie einen hohen, mittelalterlichen Kandelaber entdeckt … und das alles in einer »zerfallenen« Pagode am Ende des Rosengartens.

Dem Doktor kam dies wie ein Beweis der häuslichen Tragödie vor, die er für seinen Freund befürchtet hatte. Vielleicht war George verrückt? Jedenfalls schien es beunruhigend, dass er nicht mit Harry auf die Jagd gegangen war. Und dann, Geige spielen für die Eulen, die aus dem Sternenhimmel stoßen, nun ja, das schien auch nicht ganz normal.

Am nächsten Morgen spähten die Ladies diskret aus einem der oberen Fenster, als eine ziemlich verdreckte gharry* vor dem Haus der Dunstaples in Alipore hielt. Sogar Louise spähte hinaus, obwohl sie leugnete, an der Art von Kreatur, die da herauskommen mochte, auch nur im Geringsten interessiert zu sein. Wenn sie zufällig am Fenster stand, dann nur, weil Fanny auch dort stand und sie versuchte, Fannys Haar zu kämmen.

 

»O Liebes, lass dich nur nicht blicken, was würde er denn denken!«, stöhnte Mrs. Dunstaple. »Sei vorsichtig.« Aber sie selbst starrte begieriger hinaus als alle anderen.

»Da ist er!«, schrie Fanny, als ein ziemlich zerknittert aussehender junger Mann aus der gharry kletterte und sich benommen umsah. »Sieh doch, wie dick er ist!«

»Fanny!«, schalt Mrs. Dunstaple, allerdings etwas halbherzig, denn es stimmte, er sah ziemlich dick aus; aber seine Schwester sah schön aus, und ihre schlichte Eleganz ließ den Ladies kleine Seufzer entfahren.

Während die Frauen von ihrem ersten Blick auf Fleury ein wenig enttäuscht waren, war der Doktor eindeutig erfreut. Seine Befürchtungen hatten über Nacht zugenommen, sodass er sich nun, da Fleury sich als ein relativ normaler junger Mann erwies, darauf einstellte, dem Sohn seines Freundes mit vorsichtigem Optimismus zu begegnen. Doch im Nu wich die Vorsicht unverhohlener Befriedigung, und er fühlte sich so erleichtert und zuversichtlich, so dankbar, dass Fleury nicht das verweiblichte Individuum war, welches er erwartet hatte, dass er sogar begann, Fleury auf die männlichen Lustbarkeiten hinzuweisen, die er in Kalkutta finden könne … Junge Männer müssen sich die Hörner abstoßen, wie er sehr wohl aus seinen eigenen wilden Zeiten wusste … und er begann, die Vergnügungen der Stadt aufzuzählen: die Pferderennen, die Bälle, die schönen Frauen, die Tafelgesellschaften und guten Kameradschaften und anderes mehr. Er selbst, deutete er an, vergessend, dass Fleurys Schwester Witwe war, habe als junger Mann viele glückliche Stunden in der Gesellschaft lustiger junger Witwen und dergleichen verbracht.

»Aber nicht mit Eingeborenen«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. »Die hab ich nie angerührt, nicht mal als junger Draufgänger.«

Bestürzt, den Freund seines Vaters in Person dieses jovialen Libertin zu finden, tat Fleury sein Bestes, um zu antworten, wünschte sich aber insgeheim, Miriam wäre dabei, um das Gespräch auf einem allgemeineren Niveau zu halten. Miriam jedoch wurde von den Ladies oben empfangen. Allem Anschein nach waren sie noch nicht fertig mit dem Ankleiden.

Der Doktor erklärte unterdessen, während sie im Gesellschaftszimmer auf und ab spazierten, leider würden er und seine Familie demnächst wieder nach Krishnapur abreisen … was allerdings, genau genommen, eher für die Ladies zum Verzweifeln sei als für ihn, weil die Jagdsaison fürs Sauspießen schon seit Februar lief und nur bis Juli dauerte … in der Tat sei das Beste schon vorbei, denn bald würde es zu heiß sein, um auch nur einen Finger zu heben. Abgesehen davon müsse er zurück, um das Kantonnement vor den Behandlungen eines neumodischen Arztes namens McNab zu bewahren, den sie der Militärgarnison von Captainganj unlängst aufgezwungen hätten. Seine Miene verdüsterte sich etwas beim Gedanken an McNab, und er begann, wie geistesabwesend mit den Fingern zu knacken. »Was Louise und ihre Anwärter betrifft«, fügte er vertraulich hinzu, vergessend, dass auch Fleurys Name genannt worden war, »wenn sie so schwer zufriedenzustellen ist, soll sie es eben nächstes Jahr nochmal versuchen.« Fleury geriet durch diese Information irgendwie in Verlegenheit, und um weitere Vertraulichkeiten zu vermeiden, erkundigte er sich, ob es in Kalkutta viele weiße Ameisen gebe.

»Weiße Ameisen?« Der Doktor erschrak einen Augenblick, in Erinnerung an die Geigen und die Eulen. »Nein, ich glaube nicht. Zumindest, nun ja, es mag wohl welche geben, irgendwo –«

»Ich habe eine Menge Bücher mitgebracht. Darum habe ich mich nur gefragt, ob ich Vorkehrungen treffen sollte, um sie zu schützen.«

»Oh, ich verstehe, was Sie meinen«, rief der Doktor erleichtert aus. »Ich glaube, darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. In Krishnapur, vielleicht, aber nicht hier.« Da hatte er sich einen solchen Schrecken eingejagt, wegen nichts und wieder nichts! Es hätte ihn kaum mehr durcheinanderbringen können, wenn Fleury ihn geradewegs nach gedünsteten weißen Ameisen in einer Pastete gefragt hätte! Was für ein alter Trottel er doch wurde, aber wirklich.

Jetzt endlich hörte man die Ladies herunterkommen, und der Doktor und Fleury bewegten sich auf die Tür zu, um sie zu begrüßen. Dabei streifte der Ärmel des Doktors eine Vase, die auf einem kleinen Tisch stand und am Boden zerschellte. Die Ladies traten unter Jammergeschrei und erregten Rufen über den Anblick der beiden Scherben auflesenden Gentlemen ein.

»Mein junger Freund«, sagte der Doktor tröstend zu Fleury. »Bitte, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war ganz und gar nicht Ihre Schuld, und im Übrigen war es kein wertvolles Stück.« Er lächelte Fleury gütig an, der verdutzt zurückstarrte. Was zum Teufel meinte der Doktor? Natürlich war es nicht seine Schuld. Wie sollte es?

Dieses Unglück mit der Vase, also ja, das hätte nicht viel ausgemacht, erklärte Mrs. Dunstaple ziemlich steif, wenn es ihre gewesen wäre; nur unglücklicherweise gehöre sie den Leuten, die ihnen das Haus überlassen hätten. Aber nun, es helfe nichts, sich jetzt zu grämen.

»Es tut mir schrecklich leid«, murmelte Fleury wider Willen. Er war sich der Schönheit Louises, die nähergetreten war, um dieses bedauerliche Schauspiel zu beobachten, schmerzlich bewusst.

»Wirklich, Dobbin!«, sagte Miriam verärgert. »Du bist so ein Tollpatsch. Kannst du nicht aufpassen, was du tust?« Fleury errötete und blitzte seine Schwester an; er hatte ihr schon hundertmal gesagt, ihn nicht »Dobbin« zu nennen. Und dies war der denkbar schlechteste Moment, es zu vergessen, vor der hübschen, leicht verächtlich dastehenden Louise. Aber vielleicht war es Louise entgangen.

Das leicht missliche Gefühl, das sich mit Fleurys Tollpatschigkeit verband, verlor sich jedoch schnell in der Nachricht, Mr. Hopkins, der Collector von Krishnapur, und seine Frau Gemahlin hätten sich soeben angekündigt, um den Dunstaples ihre Aufwartung zu machen und Mrs. Hopkins zu erlauben, sich vor ihrer Abreise nach England von ihren lieben Freunden zu verabschieden. Gewissermaßen auf dem Fuße folgend erschien Mrs. Hopkins in Person, und beide, Fleury und Miriam, waren betroffen, wie gequält und vergrämt sie aussah. Sie schluchzte bereits, als sie vortrat, um Louise und Mrs. Dunstaple zu umarmen.

»Carrie, Liebste, du darfst dich nicht aufregen. Wenn du so weitermachst, muss ich dich hinausbringen.« Der Collector war seiner Frau auf so leisen Sohlen in das Gesellschaftszimmer gefolgt, dass Fleury bei diesen Worten, die ohne Vorwarnung an seiner Seite gesprochen wurden, zusammenfuhr. Als er sich umwandte, stand neben ihm ein Mann, der aussah wie eine massive Katze; ein Hauch Verbenaduft entströmte seinen eindrucksvollen Koteletten.

Mrs. Hopkins löste sich schwach von Mrs. Dunstaple, immer noch weinend, aber bemüht, ihre Augen zu trocknen. Ohne Rücksicht auf die Versuche des Doktors, seine Gäste einander vorzustellen, sagte sie zu Miriam: »Es tut mir leid, Sie müssen mir verzeihen … Ich bin so mit den Nerven herunter, wissen Sie, mein jüngstes Kind, ein Junge, starb erst vor sechs Monaten während der großen Hitze … und seitdem regt jede Kleinigkeit mich auf. Er war noch ein Baby, wissen Sie … und als wir ihn begruben, kam uns nichts anderes in den Sinn, als ihm eine Daguerrotypie von seinem Vater und mir in die winzigen Ärmchen zu legen. Einer der einheimischen Gentlemen hatte sie gemacht, eigentlich, um sie nach Hause, nach England zu schicken, aber dann befanden wir es für besser, sie dem Baby mit ein paar Rosen in den Sarg zu geben … Wissen Sie, Sie mögen mich für töricht halten, aber es macht mich genauso traurig, das Land mit seinem Grab zu verlassen, wie alle meine liebsten Freunde zu verlassen …«

Fleury hatte das Gefühl, dass Mrs. Hopkins wohl noch eine Weile auf diese Weise fortgefahren wäre, hätte der Collector nicht recht scharf gesagt: »Caroline, du darfst nicht daran denken, sonst geht es dir wieder schlecht. Ich glaube sicher, Mrs. Lang würde lieber etwas Fröhliches hören.«

»Im Gegenteil, Mrs. Hopkins hat mein tiefstes Mitgefühl … umso mehr, als ich selber erst kürzlich jemanden verloren habe, der mir sehr teuer war.«

Die Augenbrauen des Collectors zogen sich zusammen; er blickte mürrisch und missmutig drein, sagte aber weiter nichts.

Obwohl Fleury sich im Allgemeinen gern mit traurigen Dingen wie dem Herbst, dem Tod, Zerfall und unglücklichen Liebesgeschichten befasste, war er doch bestürzt über die morbide Wendung, die das Gespräch genommen hatte. Abgesehen davon, dass es genau das war, was er Miriam hatte ersparen wollen, indem er sie nach Indien brachte. Aber Mrs. Hopkins hatte sich wieder gefasst, und auch Mrs. Dunstaple hatte ihre Augen getrocknet, denn sie ließ sich leicht von den Tränen anderer anstecken, und allein der Gedanke an die Rötung ihrer Augen hatte sie davon abgehalten, sie ebenso reichlich zu vergießen wie ihre Freundin. Was Louise betrifft, so hatte sie sich zwar tränenreich umarmen lassen, aber sie war beherrschter als ihre Mutter, und ihre Augen waren nicht feucht geworden.

Wie dem auch sei, es blieb keine Zeit zum Weinen. Es gab jede Menge Neuigkeiten auszutauschen, denn die Dunstaples hatten Krishnapur im Oktober verlassen, und seither war viel passiert. Außerdem wollten sie so vieles wissen … Wie es dem Padre ging? Und dem Magistrate? Und ob Dr. McNab noch niemanden ins Jenseits befördert hatte? Umgekehrt musste Mrs. Dunstaple alles berichten, was in Kalkutta passiert war. Sie hätte gern die verschiedenen Freier, die Louise umworben hatten, im Einzelnen aufgeführt, aber sie tat es ungern in Fleurys Anwesenheit, damit er nicht den Mut verlor. Überdies neigte Louise zu schlechter Laune, wenn offen über ihre Anwärter geredet wurde. Doch während sich Fleury und Miriam mit dem Collector unterhielten, hatte Mrs. Dunstaple gerade Zeit genug, Mrs. Hopkins anzuvertrauen, dass es einen Anwärter gab, einen gewissen Leutnant Stapleton, Neffe eines Generals, der tatsächlich sehr vielversprechend schien.

Der Collector war nicht in guter Stimmung. Er fand Verabschiedungen bestenfalls grauenhaft, und er sorgte sich um seine Frau, die übermüdet war von der beschwerlichen langen Reise in einer dak gharry* von Krishnapur bis zur Endstation der Eisenbahn; aber er machte sich auch Sorgen darum, was während seiner Abwesenheit in Krishnapur geschehen mochte, denn seine Vorahnung einer nahenden Katastrophe verstärkte sich von Tag zu Tag. Hinzu kam, dass er sich von Miriam, die ihm offenbar einen Mangel an Gefühlen hatte vorwerfen wollen, missbraucht fühlte. »Sie kann nicht wissen, wie ich unter dem Tod des Babys gelitten habe! Und wie hätte ich wissen sollen, dass sie auf der Krim einen Ehemann verloren hat?« (Der Doktor hatte es ihm zugeflüstert.) … »Wie sieht es einer Frau doch ähnlich, sich so unredlich einen Vorteil zu verschaffen, den toten Ehemann herbeizuzerren, um einen ins Unrecht zu setzen!« Der Collector fuhr sich gegen den Strich über seine Koteletten und setzte erneut eine Wolke Zitronenverbena frei. »Wie war noch dieser Satz von Tennyson? ›… das sanfte und milchige Weibsgezücht …!‹«

Aber der Collector bewunderte schöne Frauen und konnte ihnen nicht lange böse sein. Wenn sie schön waren, entdeckte er rasch andere Tugenden in ihnen, die er nicht bemerkt hätte, wenn sie hässlich gewesen wären. Bald begann er, Miriam vernünftig und reif zu finden, was nur bedeutete, dass er ihre grauen Augen und ihr Lächeln mochte. »Sie hat ihren eigenen Kopf«, beschloss er. »Warum können nicht alle Frauen Witwen sein?«

Fleury und Miriam saßen den älteren Dunstaples in der Kutsche gegenüber, neben der kleinen Fanny. Ihr Raum war begrenzt, da die aufgeblähten Krinolinen der Ladies aneinanderstießen und einem Gentleman sehr wenig Platz ließen, mit Anstand seine Beine auszustrecken. Sogar Fannys schlanke Beine verloren sich in Bergen schneeweißer, stufiger Petticoats*. »Wie wohltuend, nach diesen endlosen fünf Monaten auf See wieder an Land zu sein! Wie man die Bäume, die Felder, das grüne Gras vermisst! Aber natürlich haben Sie, Miss Dunstaple, diese Wasserprobe schon selber durchgemacht, und ich rede daher, als wäre ich der Einzige, der je von England herübergekommen ist.«

Fleury hatte dies als den Anfang einer angenehmen Unterhaltung betrachtet, aber irgendwie kamen seine Worte nicht gut an. Louises Lippen bewegten sich kaum zu einer Antwort, und ihre Mutter sah geradezu entrüstet aus. Hatte er einen Fauxpas begangen? Es konnte doch sicher nicht sein, dass Louise »im Land geboren« und daher nie in England gewesen war, was, wie er gehört hatte, von der indischen Gesellschaft sehr verachtet wurde. Aber ach, ebendas schien der Fall zu sein.

 

Die Kutsche hatte ihr Tempo verlangsamt, um einen dicht bevölkerten Basar zu durchqueren. Fleury starrte hinaus in ein Meer brauner Gesichter, schamerfüllt ob seines Patzers. Ein paar Zoll entfernt saßen zwei Männer, die Beine überkreuz, in einem Schrank, einer mit schmutzigem Wasser den Schädel des anderen rasierend. Ein Käfig voll winziger zitternder Vögel mit schwarzen Federn und roten Schnäbeln kroch vorbei. Für Fleury war Indien eine Mischung aus Exotik und äußerster Langeweile, die er, ein Verehrer Chateaubriands, unwiderstehlich fand. Jetzt gab es Geschrei. Sie hatten das ghat* erreicht.

Das Boot, das der Doktor angeheuert hatte, erwies sich in der Tat als eine sehr zweifelhafte Aussicht; ein Haufen undichter, fauliger Hölzer, grob länglich und bemannt mit dravidischen Halsabschneidern. Aber egal, es war nicht weit über den Hoogly; jenseits des Wassers waren die hoch aufragenden Bäume des Botanischen Gartens zu sehen.

»Seht nur, da ist Nigel!«, schrie Louise genau in dem Moment, als sie einstiegen, und klatschte freudig in die Hände. Man sah eine scharlachrote Uniform bald hier, bald dort durch den weißen Musselin der Menge schimmern, und nun sprengte ein junger Offizier zu Pferde mit einem barfuss nebenherrennenden Stallknecht zum ghat hinauf. Er stieg hastig ab, überließ es dem sais*, das Pferd zu bändigen, und kletterte aufs Boot, während er atemlos sagte: »Tut mir schrecklich leid, die Verspätung!«

Mrs. Dunstaple begrüßte ihn etwas unterkühlt. Offensichtlich hatte Louise ihr nichts von ihrer Absicht gesagt, Leutnant Stapleton einzuladen, und Mrs. Dunstaple war nicht sehr begeistert, ihn zu sehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Fleury, wie sie ihrer Tochter grollte und heimlich in seine Richtung nickte. Plötzlich erinnerte er sich daran, was der Doktor über Louise und ihre Anwärter gesagt hatte. Das war es also! Mrs. Dunstaple fürchtete, dass einer der geeigneten jungen Männer durch die Anwesenheit des anderen entmutigt werden könnte. Es schmerzte Fleury, Louise flüchtig in seine Richtung blicken, dann ihren Kopf zurückwerfen und wegschauen zu sehen, wie um zu sagen: »Was kümmert es mich, ob er entmutigt ist oder nicht?« Obgleich entmutigt, starrte Fleury auf den Fluss und gab vor, den Anblick zu bewundern. Leutnant Stapleton, der offenbar erwartet hatte, der einzige Vertreter der männlichen Jugend auf diesem Ausflug zu sein, wirkte seinerseits ziemlich verblüfft; als die beiden jungen Männer einander vorgestellt wurden, murmelte er nur lustlos und schielte mit missgünstigem Neid auf Fleurys zerknautschte, aber gut geschnittene Kleidung.

Kaum hatten sie das schlammige Ufer auf der anderen Seite erreicht, erhob sich ein Tumult; die Ladies entdeckten, dass die Saumränder ihrer Kleider einiges an Bilgewasser aufgesogen hatten. Unter viel Jammern und Klagen zogen sie sich mit einem Dienstmädchen zum Auswringen auf eine Lichtung in angemessener Entfernung zurück. Als sie endlich wiederkamen, zog die Gesellschaft los, einen Haufen grinsender Diener im Gefolge. Der botanische Garten stellte wenig Blumen, aber viele gewaltige Bäume und Sträucher zur Schau. Ihr Weg führte an dem Riesenbanyan vorbei, und beim Anblick seiner zahlreichen Stämme, die sich über das Geäst zu einer Reihe spektakulärer gotischer Bögen verbanden, war Fleury von Ehrfurcht erfüllt. Er hatte noch nie einen Banyanbaum gesehen.

»Das ist wie eine verfallene Kirche, geschaffen von der Natur!«, rief er aufgeregt; aber die Dunstaples ließen jede Reaktion auf diese Erkenntnis vermissen, und während alle damit beschäftigt waren, einen günstigen Platz für ihr Picknick zu finden, glaubte er Louise und Leutnant Stapleton ein verstohlenes Lächeln austauschen zu sehen.

Von Zeit zu Zeit, derweilen sie zwischen den Bäumen weitergingen, kamen sie an grüne Lichtungen, wo junge Offiziere schon mit ihren Ladies picknickten; doch als sie schließlich eine unbesetzte Lichtung fanden, erklärte Mrs. Dunstaple, dort sei es zu sonnig. Auf der nächsten Lichtung war eine weitere Gesellschaft junger Offiziere, die mit Geschöpfen, welche der Doktor eindeutig für lustige junge Witwen hielt, Moselle Cup tranken. Fleury sah, wie sehnsüchtig die Blicke des Doktors an ihnen hingen, als er sich mit seiner eigenen Gesellschaft zum Weitergehen anschickte … aber die jungen Offiziere riefen ihn herbei, fragten lachend, ob er sie nicht erkenne? Und es stellte sich heraus, dass sie nicht nur flüchtige Bekannte, sondern beste Freunde waren, denn diese jungen Männer waren normalerweise in Captainganj stationiert; sie waren an der Waffenschule von Barrackpur gewesen, zur Ausbildung an den neuartigen Enfield Gewehren, derentwegen die Sepoys so entrüstet waren, und hatten die Gelegenheit genutzt, in Kalkutta ein bisschen Zivilisation zu genießen, sodass sie natürlich entzückt waren, ausgerechnet Dr. und Mrs. Dunstaple zu treffen, und natürlich Miss Louise, und was war eigentlich mit diesem jungen Lumpenhund Leutnant Harry Dunstaple, der hoch und heilig versprochen hatte, er würde ihnen schreiben, und keinen Federstrich zu Papier brachte? Sie würden sich den Bengel vorknöpfen, wenn sie in ein paar Tagen nach Krishnapur zurückkehrten … und nichts käme ihnen mehr gelegen, als dass die Schar der Dunstaples sich zu ihnen gesellte.

Ihre Ladies, stellte sich heraus, waren mitnichten lustige junge Witwen, sondern Mädchen von der achtbarsten Sorte, Schwestern des einen oder anderen Offiziers; so fand alles mit höchstem Anstand statt.

Die Offiziere hatten schon mehrere stürmische Angriffe auf ihren Picknickkorb verübt, einen umfunktionierten Wäschekorb, der nichts anderes zu enthalten schien als Moselle Cup in den unterschiedlichsten Flaschen und Gefäßen. Die Dunstaples brachten etliche Körbe mit, von denen mehr als einer das stolze Abzeichen von Wilsons »Hall of all Nations« (bestellter Lieferant des Rt Honourable Viscount Canning) trug, denn der Doktor glaubte offenbar an die ordentlich gemachten Dinge. Die jungen Männer konnten sich kaum zurückhalten, als die Träger der Dunstaples vor ihren Augen einen echten Yorker Schinken, zart und rosig wie Klein Fannys Wangen, Austern, eingelegtes Gemüse, Lammpasteten, Cheddar-Käse, Ochsenzungen, kalte Hühnchen, Schokolade, kandierte und kristallisierte Früchte und Biskuits aller Art aus dem besten frischen Kap-Getreide auspackten: Abernethy’s Kekse, Tops & Bottoms, Pfeffernüsse und was man sich an köstlichem Gebäck nur vorstellen konnte.

Mit den Händen an seine Rockschöße klopfend, beobachtete der Doktor die Träger bei der Arbeit, ganz so, als hätte er das Interesse der jungen Männer nicht bemerkt, und wartete bis zum letzten Moment, ehe er mit scheinbarer Zurückhaltung erklärte: »Ich bin sicher, ihr jungen Leute werdet wohl kaum Lust auf Essen haben, aber wenn ihr möchtet …«, woraufhin ein gewaltiges Hurra ausbrach, das Mrs. Dunstaple veranlasste, sich umzublicken, ob sie nicht zu viel Aufmerksamkeit erregten, doch von den Waldwiesen ringsum hallten ähnlich fröhliche Geräusche wider; nur ein paar zerlumpt aussehende Eingeborene, die aufgetaucht waren, saßen am Rand der Lichtung auf ihren Fersen und starrten die weißen Sahibs an.

Im Gegenzug bestanden die jungen Offiziere darauf, dass alle ihren Moselle tranken, von dem sie reichlichen Vorrat hatten; in der Tat genug, um sich und ihre Ladies mehrfach in Bewusstlosigkeit zu versetzen. Bald herrschte allgemeine Heiterkeit.

Was Louise anbelangt, so sah sie ziemlich ätherisch aus im gesprenkelten Licht von Sonne und Schatten, doch es machte Fleury traurig, sie von Völlerei und Gelächter umgeben zu sehen; sie hielt einen am unteren Ende in eine Serviette gewickelten Entenschenkel hoch, aber nicht, um selbst daran zu knabbern, sondern um ihn in übertriebener und komischer Manier von den mit wüsten Schnauzbarthaaren bedeckten Lippen und gelblichen Zähnen eines der Offiziere abfressen zu lassen, seines Namens Leutnant Cutter, der, wie es schien, einer ihrer besonderen Vorjahreslieblinge in Krishnapur gewesen war. Und nicht genug damit, dass alle sich vor Lachen über sein Benehmen nicht mehr halten konnten, wurde Leutnant Cutter komischer denn je, warf den Kopf zurück und heulte zwischen seinen Bissen wie ein Wolf.

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