Die Belagerung von Krishnapur

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V

Der Maharaja verfügte über eine eigene Armee, die, obwohl ihr per Gesetz verboten war, Feuerwaffen zu tragen, mit ihren Säbeln und eisenverstärkten Bambusstäben, lathees genannt, mit denen traditionell die meisten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden zemindars* ausgetragen wurden, doch von Nutzen sein konnte. Sollte es zu einem Kampf kommen, auf wessen Seite würden die Truppen des Maharaja stehen? Natürlich wären sie den Sepoys nicht gewachsen, aber sie könnten durchaus gelegen kommen, um die badmashes im Basar das Fürchten zu lehren. Der Collector musste zu einem Routinebesuch in die Opiumfabrik, die etwas außerhalb von Krishnapur gelegen war, und so wurde beschlossen, dass Fleury und Harry Dunstaple ihn einen Teil des Weges begleiten sollten, um im Palast des Maharaja unweit der Opiumfabrik vorzusprechen … unter normalen Umständen hätte man erwarten können, dass ein Neuling wie Fleury dem Maharaja einen Höflichkeitsbesuch abstattete, um ein paar exotische Elemente mit Lokalkolorit für sein Tagebuch zu sammeln und sie später vielleicht unter dem Titel Highways and Byways of Hindustan oder etwas in der Art zu veröffentlichen. Zugleich könnten die beiden jungen Männer versuchen, die Lage in Hinblick auf die Truppen zu sondieren. Es kam natürlich nicht infrage, den Maharaja offen um Unterstützung zu bitten, weil eine derartige Bitte einen drastischen Mangel an Zuversicht bedeutet hätte. Abgesehen davon hätte man von Harry, der beim Militär und dem General treu war, nicht verlangen können, ein solches Ersuchen zu übermitteln. Aber man weiß nie … vielleicht würde sich der Sohn des Maharaja, Hari, dem Harry schon mehrfach begegnet war und der hoch in der Gunst des Collectors stand, auch ohne gefragt zu werden für diese Unterstützung einsetzen.

Im letzten Moment erfuhr Fleury, dass Miriam eingeladen worden war, ihre Gesellschaft zu begleiten; wie es schien, hatte sie ein plötzliches Interesse an den Arbeitsvorgängen in einer Opiumfabrik bekundet, woraufhin der Collector beschlossen hatte, sie solle sich persönlich eine ansehen. Fleury war darüber irgendwie verstimmt.

»Es könnte gefährlich sein«, grummelte er.

»Es ist sicher nicht gefährlicher, liebster Dobbin, als allein in diesem Bungalow zu bleiben, umgeben von eingeborenen Dienern, die uns kaum bekannt sind«, erwiderte Miriam lächelnd. »Im Übrigen werde ich in Begleitung von Mr. Hopkins sein. Das ist mit Sicherheit Schutz genug.«

»In Kalkutta sagtest du, er sei von allen guten Geistern verlassen.«

»Im Gegenteil, Sir, das hast du gesagt.«

Fleury hatte schon bemerkt, dass seine Schwester in Gegenwart des Collectors aufzublühen schien, und er argwöhnte irgendwelche koketten Absichten. Während sie darauf warteten, von der Kutsche des Collectors abgeholt zu werden, bemerkte er ferner, dass Miriam ihren Lieblingshut trug, den sie selten aufsetzte, und wenn, dann nur in seiner Begleitung. Sein Gefühl für Anstand war verletzt, wie so oft, in der Tat, aber mehr durch Miriams Meinungen als durch ihr Verhalten. Obwohl in mancher Hinsicht wagemutig, hatte Fleury ziemlich strenge Vorstellungen, wie seine ältere Schwester sich benehmen sollte. Aber er fand nichts Rechtes, was er ihr konkret hätte vorwerfen können. Miriams Verhalten zu reglementieren wurde außerdem noch durch die Tatsache erschwert, dass sie in seiner Kindheit weitgehend die Aufsicht über ihn geführt hatte. »Und nenn mich nicht ›Dobbin‹«, setzte er verärgert nach.

Vor ihnen stieg die Sonne über den Rand der Ebene in die staubbeladene Atmosphäre auf. Der Collector war wieder in einer redseligen Laune: Die Bewegung des offenen Landauers, die Kühle und Schönheit des Morgens erfüllten ihn mit Zuversicht. Er machte sich daran, Fleury über den Charakter reicher Eingeborener aufzuklären: Ihre Söhne würden auf eine verweichlichte, luxuriöse Art und Weise großgezogen. Die Gesundheit dieser Jungen würde durch Überfütterung mit ekelhaft süßem Zuckerwerk und Schwelgen in anderen schwächenden Gewohnheiten ruiniert. Statt reiten zu lernen und sich in männlichem Sport zu üben, vertrödelten sie ihre Zeit mit mädchenhaftem Drachensteigenlassen. Alles bei dem reichen Eingeborenen sei Schau … er reise mit großartigem Gefolge durchs Land, während er zu Hause in einem Saustall lebe. Aber glücklicherweise sei der junge Hari, der Sohn des Maharaja, von englischen Privatlehrern erzogen worden und etwas ganz anderes. Diesen Informationen fügte Harry Dunstaple rüde hinzu: »Sie müssen vorsichtig sein, wenn Sie einen Hindu schlagen, George, die sind ziemlich schwach auf der Brust und man kann sie töten … Vater sagt, das liege an ihrem dünnen Herzbeutel.« Fleury murmelte seinen Dank für diese Warnung mit dem Hinweis, er werde sein Bestes tun, um sich bei den eher tödlichen Schlägen zurückzuhalten … doch insgeheim hoffte er, gar nicht erst in eine solche Lage zu kommen. Er hatte noch Schwierigkeiten, sich auf seinen neuen, »breitschultrigen« Charakter einzustellen.

Irgendwann bogen sie von der Straße in einen anderen Weg ein, der zwischen gelbgrün leuchtenden Senffeldern lag. Vorn schimmerte etwas wie ein großer Haufen trockener Erde über einem kärglichen Dickicht aus Gestrüpp und Pappelfeigen; der Collector stieß ein freudiges Grunzen aus: Der Anblick von so viel trockener Erde erinnerte ihn offenbar an seine »Erdwälle«. Als sie näher kamen, verwandelte sich der Erdhaufen in schäbige hohe Lehmmauern, die ungleichmäßig mit Zinnen versehen waren. Der Weg führte auf ein massives Holztor zu, mit Eisen verstärkt und beschlagen, eingerahmt von viereckigen Türmen aus Erde und Gips. Die Türme, bemerkte Fleury, während der Landauer zwischen ihnen hindurchfuhr, waren nicht massiv, sondern hohl und an einer Seite offen, mit einem auf halber Höhe eingezogenen Bretterboden. In dem Hohlraum wimmelte es von Soldaten, manche praktisch nackt, andere erstaunlicherweise wie Zuaven uniformiert, mit kurzen blauen Jacken und orangefarbenen Pluderhosen, und bis an die Zähne mit Dolchen und Knüppeln bewaffnet. Viele der eher nackten indes lagen noch auf Strohmatratzen, die den Boden bedeckten.

»Grandios«, sagte Harry mit einem überlegenen Lächeln. »Unser Adjutant, Chambers, sagt, im Kampf seien sie so gut zu gebrauchen wie der Chor von Covent Garden. Da drüben wohnt der sogenannte Premierminister.« Das von Harry ausgedeutete Gebäude war im französischen Stil, mit Balkonen und geschlossenen Fensterläden. Es sah verlassen aus.

Sie hatten einen Vorhof erreicht, in dessen Mitte ein verkommener Springbrunnen war, umgeben von einem Stück Gras, in dem ein Wiedehopf emsig mit seinem langen Schnabel hackte. Holzstücke, alte Matratzen und zerbrochene Wagenräder lagen herum. Links, zwischen niedrigen Gebäuden, die Ställe sein mochten, führte ein anderer Torbogen zu den Gemächern des Maharaja. Sie fuhren hindurch in den nächsten Hof und hielten an einer Steintreppe, um die jungen Männer aussteigen zu lassen. Dann machte der Landauer im großen Bogen kehrt und trug die beiden schemenhaften Köpfe, einer mit einem Tropenhelm, der andere mit einem Hut, zum Tor hinaus, unter dem sie im Moment verschwanden.

Fleury und Harry waren prompt von einem Schwarm Diener in phantasievoll entworfenen, aber schmuddligen Livreen umringt worden; inmitten dieses schwatzenden Pulks gingen sie einen stickigen Gang entlang, eine weitere Treppe hoch und hinaus auf eine lange Steinveranda, wo ihnen endlich eine leichte, erfrischende Brise ins Gesicht wehte. Neben einer kunstvoll geschnitzten Flügeltür döste eine Wache in Zuavenuniform, mit der Wange an einen Speerschaft gelehnt. Ihr Gastgeber erwarte sie drinnen, erklärten die Diener, und in einem Sturm unterdrückten Gekichers wurden sie vorwärtsgeschoben.

Der Raum, in den sie derart genötigt worden waren, erwies sich als ein herrlicher Ort, kühl, hell und weitläufig; drei Wände waren aus Glas, rot wie Blut, im Wechsel mit Spiegeln, und umrahmt von blütenförmigen Holzschnitzereien; außen hielten grüne Jalousien das Sonnenlicht ab. Kronleuchter aus böhmischem Glas hingen entlang der Mittellinie des Raums in einer Reihe, Himalayas von Bleikristall, die sich zwischen gelippten Kerzenhaltern emporzogen. An der vierten, einzig massiven Wand waren primitive Portraits mehrerer früherer Maharajas ausgestellt. Diese Gesichter blickten voller Hochmut und Verachtung auf die beiden jungen Engländer herab … wenngleich es, wie Fleury im Vorübergehen merkte, in Wirklichkeit ein einziges Gesicht war, das sich mit unterschiedlicher Kunstfertigkeit und unterschiedlichen Haartrachten wiederholte, immer dieselben kohlschwarzen Augen, die ganz Pupillen zu sein schienen, und dicken blassen Wangen, garniert mit einem flaumigen schwarzen Kinn- und Oberlippenbart.

In der Nähe eines mit Granat-, Lapislazuli- und Achatverzierungen intarsierten Kamins saß der Sohn des Maharaja auf einem Stuhl, der vollständig aus Geweihen gefertigt war, ein gekochtes Ei essend und Blackwood’s Magazine lesend. Neben dem Stuhl, am Boden, zeigten die frischen Abdrücke in einem großen Kissen, wo er eben noch gesessen hatte; er zog es der Unbequemlichkeit von Stühlen vor, auf dem Boden zu hocken, fürchtete aber, seine englischen Besucher könnten das als rückständig betrachten.

»Hallo, willkommen Leutnant Dunstaple«, rief er aus, indem er aufsprang und mit großen Schritten vorwärtsstrebte, um sie zu begrüßen, »ich sehe, Sie waren so freundlich, Mr. Fleury mitzubringen … Wie großartig! Wie freundlich!« Er machte weiterhin den Eindruck, vorwärtszustreben, allerdings nur durch eine simulierte Bewegung, die ihn seinen Besuchern kaum ein paar Zoll näherbrachte, ein Kompromiss zwischen seiner gastlichen Natur, die ihn drängte, auf Menschen zuzugehen, um ihnen herzlich die Hand zu geben, und seinem Status als Erbe des Maharaja, der ihn zwang, nicht vom Fleck zu weichen und abzuwarten, dass die anderen zu ihm kamen. Diese gemimte Bewegung gegenüber Personen von niedrigerem Rang, die jedoch einigen Respekt verdienten, was alle Briten in Indien einschloss, hatte sich im Lauf sozialer Kontakte mit Europäern rasch her ausgebildet, sodass sie mittlerweile nicht nur ziemlich unbewusst, sondern auch perfekt geworden war, eine absolute optische Täuschung. Mit dem Ergebnis, dass Fleury seinerseits ein ganzes Stück weiter vorwärtsgehen musste als erwartet und ein wenig aus dem Gleichgewicht bei seinem Gastgeber ankam, die letzten Schritte ein stockendes Nachziehen.

 

»Warum ist mein lieber Freund Mr. Hopkin nicht hereingekommen, um mich zu begrüßen? Ich bin gekränkt. Sie müssen es ihm sagen. Das ist sehr höchst unfreundlich von ihm. Wie geht es Ihrem Handgelenk, Dunstaple?«

»Danke, etwas besser«, sagte Harry ziemlich steif, während sie einen prachtvollen, staubigen Teppich überquerten, auf dem hier und dort zerlumpte Tigerfelle lagen. Aus der Nähe sah Fleury verdutzt, dass das Gesicht ihres Gastgebers dem der Portraitserie an der Wand genau entsprach; dieselben dicken, blassen Wangen und funkelnden schwarzen Augen über einem plumpen Körper, nicht mit Mogulkleidern gewandet, sondern in einem schlecht geschnittenen Gehrock. Er hatte Fleury gespannt beobachtet, und nun, als er sah, dass dieser gerade den Mund aufmachen wollte, kam er ihm hastig zuvor: »Nein, bitte nennen Sie mich nicht ›Hoheit‹ oder irgend so ein Unsinn. Wir bestehen nicht auf Förmlichkeiten heutzutage … Solche Sachen können Sie Vater überlassen … Nennen Sie mich einfach Hari … Da wären wir zwei Haris, was? Nun denn, macht nichts. Wie entzückend! Was für ein Vergnügen!«

Fleury sagte: »Ich hoffe, wir stören Sie nicht beim Frühstück, aber ich fürchte, das haben wir schon getan.«

»Nicht im Geringsten, mein Freund. Ein gekochtes Ei und Blackwood’s ist allerbeste Art, den Tag zu beginnen. Nun kommen Sie, setzen Sie sich. Was denn, ist was, Dunstaple?« Harry war im Weitergehen merkwürdig getaumelt und fast auf eins der lumpigen Tigerfelle gestürzt. Sein Gesicht war jetzt, da sie hinsahen, milchig weiß, wenngleich mit einer leichten Tönung vom blutgefleckten Glas der Fenster.

»Es ist nichts. Nur die Hitze. Ist gleich wieder gut. Verdammt, so was Dummes!«

»Richtig!«, schrie Hari. »Es ist nichts. Wird im Handumdrehen wieder gut. Kommen Sie, setzen Sie sich, ich rufe Träger, dass er Erfrischung bringt. Wo ist er denn, der verflixte Kerl?« Und er eilte rufend an die Tür.

Das Rufen ihres Herrn hörend, strömten noch mehr Diener in schmuddligen Livreen herein, barfuss, aber mit Kniebundhosen, und brachten zwei weitere aus Geweihen gefertigte Stühle; diese stellten sie neben Haris an einen kleinen, von Nashornfüßen getragenen Tisch, auf dem Hari sein halb gegessenes gekochtes Ei zurückgelassen hatte. Tee wurde gebracht, dazu drei schäumende Gläser mit eisgekühltem Zuckerrohrsaft, eine herrliche Nuance von Dunkelgrün. Harry Dunstaple, selber etwas grün aussehend, verschmähte dieses köstliche Getränk, aber Fleury, der süße Sachen liebte und den Dreck und die Fliegen beim Auspressen von Zuckerrohr nie gesehen hatte, trank es mit größtem Vergnügen und bewunderte dann das leere Glas mit dem eingeprägten Wappen des Maharaja. Harry bat um Erlaubnis, die Knöpfe seines Waffenrocks zu öffnen, und begann mit zitternder Hand daran herumzufummeln.

»Sir, ich bitte Sie, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause! Träger, mehr Kissen!«

Es wurden Kissen auf dem Boden ausgebreitet und Harry wurde überzeugt, sich hinzulegen. »Verdammt, so was Dummes! Gleich wieder gut«, hörte Fleury ihn erneut murmeln, während er sich ausstreckte und die Augen schloss.

»Träger, hol Tigerfell!«, und ein Tigerfell wurde über Harry gebreitet, aber er strampelte es gereizt weg. Ihm war schon ohne Tigerfell viel zu heiß. Fleury war sehr besorgt über Harrys plötzliche Schwäche (konnte es Cholera sein?) und fragte sich laut, ob er ihn nicht unverzüglich ins Kantonnement zurück und unter die Obhut seines Vaters bringen sollte.

»Oh, Mr. Fleury, bis zum Abend ist es viel zu verdammt heiß zum Fahren.«

»Sie machen so ein schreckliches Gedöns«, murmelte Harry, ohne die Augen zu öffnen. »Lassen Sie mich einfach eine Stunde oder so, dann ist alles wieder gut.« Er klang ziemlich ärgerlich.

»Mr. Fleury, Dunstaple wird hier erfrischende Ruhe haben, und in Zwischenzeit zeige ich Ihnen Palast. Ich rufe Premierminister, dass er auf Dunstaple aufpasst und uns Bescheid gibt, wenn Zustand sich verschlechtert.«

Harrys gereiztes Stöhnen über diese neuerliche Einmischung wurde ignoriert und der Premierminister einbestellt. Sie erwarteten ihn schweigend. Als er schließlich auftauchte, erwies er sich als ein gebeugter älterer Gentleman, ebenfalls im Gehrock, aber ohne Hose oder Weste, stattdessen trug er einen dhoti*, Sandalen, und auf dem Kopf eine mit Borten besetzte Schirmmütze gleich der eines französischen Infanterieoffiziers. Offenbar sprach er kein Englisch, denn er legte seine Handflächen zusammen und murmelte »Namaste«* in Richtung Fleury. Er schien nicht überrascht, einen englischen Offizier auf dem Boden ausgestreckt zu finden.

Es folgte ein kurzer Wortwechsel auf Hindustani, der damit endete, dass Hari fröhlich »Richtig!« rief und Fleury beim Arm fasste; während sie den Raum verließen, saß der Premierminister, die Knie ans Kinn gezogen, auf dem Fußboden und starrte versonnen den kraftlosen Harry an.

Einmal draußen, blühte Hari sichtlich auf. »Mr. Fleury, lieber Sir, ich bin beglückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Der Collector, wissen Sie, Hopkin, ist mein sehr guter Freund, überaus interessiert an Fortschritt der Wissenschaft. Dieser englische Gehrock, ist der sehr teuer? Verzeihen Sie mir, wenn ich frage, aber ich habe höchste Bewunderung für Erzeugnisse Ihrer Nation. Darf ich Stoff fühlen? Und diese Uhr in Tasche, nennt man so was nicht Half-Hunter*? Englische Handwerker sind so geschickt, ich schier vergehe vor Bewunderung, denn wissen Sie, unsere armseligen Erzeugnisse hier sind in keiner Weise zu vergleichen. Ja, ich sehe, Sie betrachten meinen Rock, auch aus englischem Flanell, aber leider in Kalkutta gekauft und geschneidert von durzie* aus Basar, nicht von Ihren Savile Rows. Uhr sicher auch in London gekauft und nicht in Kalkutta vermutlich?«

»Ein Geschenk von meinem Vater.«

»Richtig! Von Ihrem Vater, sagen Sie. Ich habe gehört, Väter schenken Söhnen, wenn sie von zu Hause fortgehen, meistens Heilige Bibel, hochheilige Schrift Ihrer christlichen Religion, ist das nicht so? Hat Ihr Vater Ihnen auch Heilige Bibel geschenkt, als Sie nach Indien gingen?«

»Um genau zu sein, war Bell’s Life das einzige Buch, das er mir gab.«

»Ihr Vater gab Ihnen Bell’s Life? Aber ist das nicht Sportmagazin? Das ist keine heilige Schrift? Ich verstehe nicht, warum Ihr Vater Ihnen solches Buch gab statt Heilige Bibel … bitte, Sir, erklären Sie mir, ich verstehe überhaupt nicht.« Und Hari starrte Fleury fassungslos an.

Inzwischen waren sie bei einer Außenveranda angelangt, die Ausblick auf den Fluss bot und Bestandteil desselben Wehrgangs war, den Fleury schon bei der Ankunft bemerkt hatte. Es war auch derselbe Fluss, der nach ein paar Biegungen und Windungen sechs oder sieben Meilen weiter am Rasen der Residenz vorbeifloss. Aber es war nicht kühler hier; ein Schwall heißer Luft wie beim Öffnen einer Ofentür schlug Fleury ins Gesicht, als er hinaustrat … obendrein war der Fluss zu einem schmalen, kaum noch fließenden Rinnsal am anderen Ufer geschrumpft und hatte, wo einst sein Bett gewesen war, nur einen breiten Streifen trockenen Gerölls hinterlassen, mit ein paar matschigen Tümpeln hier und dort. Ein halbes Dutzend Wasserbüffel suchte in diesem spärlichen Gewässer Abkühlung zu finden.

»Er gab es mir nicht statt der Bibel«, erklärte Fleury, der den mildesten Scherz versucht hatte und es jetzt bedauerte. Wahrheitswidrig, aus dem Gefühl heraus, die Situation verlange es, fügte er hinzu: »Er hatte mir die Bibel schon bei einer früheren Gelegenheit gegeben.«

»Richtig! Bell’s Life gab er Ihnen zum Vergnügen. Ich verstehe die Welt wieder. Heilige Bibel muss ein sehr wunderschönes Werk sein, wunderschön. Ich habe große Freude an Religion, Mr. Fleury, Sie nicht auch? Oh, das ist eins der besten Dinge im Leben, ganz ohne jeden Zweifel.« Und Hari starrte Fleury mit einem glückseligen Lächeln auf seinen dicken, blassen Wangen an. Fleury sagte: »Ja, wie wahr! So habe ich das noch nie gedacht. Wir sollten uns freuen an der Religion, natürlich, wir sollten ›unsere Herzen erheben‹ … natürlich sollten wir das.« Er war überrascht und berührt von Haris Bemerkung und fragte sich, warum er selber nie auf diesen Gedanken gekommen war. Sie schritten nun über eine Verlängerung der Veranda, die nur aus Holzplanken bestand, viele davon locker, und einen Innenhof überspannte … unten sah man mehrere Gebäude, die godowns* oder Dienstbotenquartiere sein mochten, auch ein Brunnen war dort und ein Mann, der sich gerade wusch, und weitere Diener in Livree hockten am Boden, den Rücken an die Lehmmauer des Palasts gelehnt. Ein Pfau mit gespreizten Federn drehte sich langsam auf dem verfallenen Dach eines der Gebäude unten, und in einem plötzlichen Anflug warmer Gefühle für Fleury deutete Hari darauf und sagte: »Das ist sehr heiliges Tier in Indien, weil unser Gott Kartikeya auf Pfau reitet. Kartikeya wurde im Ganges als sechs kleine Babys geboren, aber Parvati, Shivas Lady, liebte sie alle so sehr, so inniglich, dass sie sie zu fest umarmte und in eine Person quetschte, aber sechs Gesichter, zwölf Arme, zwölf Beine … ›und so weiter und so fort‹, wie mein Lehrer, Mr. Barnes aus Shrewsbury, zu sagen pflegte.« Hari schloss die Augen und lächelte mit einem Ausdruck tiefer Zufriedenheit, ob beim Gedanken an Kartikeya oder an Mr. Barnes aus Shrewsbury, das war unmöglich zu sagen.

Fleury jedoch sah ihn erschrocken an: Im Moment hatte er ganz vergessen, was für eine Religion das war, an der Hari sich erfreute … eine Mischung aus Aberglauben, Märchen, Götzenverehrung und Obszönität, die jedem gesitteten Engländer in Indien zuwider war. Wie um diesen Gedanken zu unterstreichen, tauchte unten im Hof der Träger auf, der kurz zuvor die Erfrischungsgetränke serviert hatte. Er hielt etwas in der Hand, und während er lachend ein paar Worte mit den anderen Dienern wechselte, blitzte es im Sonnenlicht; er hielt es hoch, untersuchte es beiläufig, dann ließ er es auf die Steinplatten fallen, wo es zerschellte. Fleury war sich sicher, dass es das Glas gewesen war, aus dem er kurz zuvor getrunken hatte.

Sie gingen weiter, Fleury ernüchtert durch diesen banalen Zwischenfall; wie sollte man herzlich auf jemanden reagieren, der die eigene Berührung als Verunreinigung betrachtete? Hari hingegen hatte nichts bemerkt und dachte immer noch herzlich über Fleury … wie anders er sei, im Unterschied zu dem steifen, pedantischen Dunstaple! Er konnte es kaum ertragen, Dunstaple ins Gesicht zu sehen: Irgendwie hatten blaue Augen etwas Obszönes … Tatsächlich war das der einzige wirkliche Nachteil von Mr. Barnes gewesen, denn auch er hatte blaue Augen gehabt.

»Und so weiter und so fort«, wiederholte er freudig. »Mr. Barnes ist nach England zurückgekehrt. Vielleicht haben Sie seine Bekanntschaft gemacht? Nein? Vor einem Jahr schrieb er mir Brief aus Shrewsbury. Er ist ein sehr vornehmer Gentleman. Ich würde Sie gern um besonderen Gefallen bitten, Mr. Fleury, Sir. Ich würde gern das Vergnügen haben, Daguerrotypie von Ihnen zu machen, wissen Sie, ich bin höchst sehr an Wissenschaft interessiert. In Krishnapur bin ich der Einzige, der Daguerrotypie macht, und alle, die Bild wollen, kommen zu mir. Mr. und Mrs. Hopkins, Collector und seine Braut, kommen zu mir, und vielen anderen verheirateten Leuten aus Kantonnement habe ich Bilder gemacht, die sie an abwesende Bräute und an ihre Lieben nach England schicken. Sie haben auch Braut in England, Sir, denke ich? Nein? Wie das? Dann ist Ihre Braut vielleicht nicht mehr ›im Land der Lebenden‹?« Und Fleury war genötigt zu erklären, dass es ihm bisher noch nicht gelungen sei, eine Braut zu erobern … er habe keine finden können, die seinen Vorstellungen entspreche. Darauf verzog sich Haris Augenbraue, denn es war offensichtlich, dass Fleury an der Wahl einer Braut gehindert war, weil er keine finden konnte, die irgendwelchen besonderen persönlichen Erwartungen entsprach, jenseits der üblichen von Geburt und Mitgift … aber worin die bestehen mochten, war ihm vollkommen schleierhaft; insofern wurde Haris Unverständnis von Fleurys Verwandtschaft in Norfolk und Devon geteilt.

 

»Gleich mache ich Daguerrotypie, aber erst zeige ich Ihnen meinen Vater. Kommen Sie bitte mit. Um diese Zeit, wenn es so übermäßig heiß ist, ruht er meistens ›in Morpheus’ Armen‹, so sagt man wohl für schlafen, habe ich gehört. Es ist beste Zeit, Vater anzusehen, wenn er schläft … Richtig!«, und fröhlich lachend wies Hari ihm den Weg.

Während sie weitergingen, durch stickige Gänge und schmale Steintreppen hinauf, musste Fleury wieder an Kartikeya denken, was für eine zauberhafte Geschichte im Grunde! Sechs Babys aus Liebe zu einem einzigen zusammengedrückt, so ein entzückendes Märchen konnte sicher keinen Schaden anrichten.

Ihr Weg führte nun durch fensterlose innere Gemächer, schummerig erleuchtet durch brennende Lumpen, die mit Leinsam- oder Senföl getränkt auf fünfzackige Fackeln gesteckt waren. In der Ferne warf eine Öllampe aus blauem Glas einen Saphirschimmer auf einen kleinen, dicken Gentleman, der ausgestreckt, nur mit einem Lendentuch bekleidet, auf einem Bett lag; über dem Bett schwang eine riesige, mit Juwelen und Quasten geschmückte punkah gleichmäßig hin und her. Ein Diener stand mit einem Armvoll kleiner Kissen neben dem Bett.

»Vater schlafet«, erklärte Hari sanft. »Er hat blaues Licht für Schlafen, grünes Licht für Wachen, rotes Licht für Ladies unterhalten und so weiter und so fort. Für Bequemlichkeit hat er Kissen unter jedem Körpergelenk … Diener passt auf, um Kissen unter Gelenk zu schieben, wenn er sich bewegt.«

Kaum hatte Hari diese Erklärung gegeben, stieß der Maharaja mit einem Stöhnen eines seiner kurzen dicken Beine von sich. Sofort erschienen Kissen unter Knie und Fußgelenk. Fleury konnte jetzt erkennen, dass das Antlitz des Maharaja eine weitere Kopie der Portraits an der Wand und Haris selber war. Während er es betrachtete, öffnete sich der Mund des Maharaja, rotgefleckt vom Betelkauen, und er rülpste nachhallend. »Vater lässt Winde ab«, kommentierte Hari. »Jetzt kommen Sie bitte mit, lieber Mr. Fleury, und ich werde Ihnen viele wundervolle Dinge zeigen. Zuerst und vor allem möchten Sie vielleicht abscheuliche Bilder sehen?«

»Nun …«

Hari wandte sich an einen Diener, der ihnen nun mit einer Schale voll lodernder, ölgetränkter Lumpen an der Spitze eines langen Silberstabs vorausging. Er brachte die Schale nahe an die Wand, und ein großes, widerwärtiges Ölgemälde sprang aus der Dunkelheit hervor. Aber Fleury erschien es als eine so verschlungene Masse von Gliedern, dass er gar nicht imstande war, zu ergründen, was das alles sein sollte (obwohl es eindeutig höchst unzüchtig war).

»Sir, soll ich noch schändlichere Bilder zeigen? Sehr schändlich, in der Tat?«

»Nein danke«, sagte Fleury, und dann, um nicht undankbar zu klingen, fügte er schroff hinzu: »Ich fürchte, ich kenne mich mit diesen Dingen nicht so aus.«

»Richtig! Für einen Gentleman, der sich mit Wissenschaft und Fortschritt ›auskennt‹, ist das nicht im Geringsten ziemlich interessant. Kommen Sie, ich zeige Ihnen viele andere Dinge.«

Plötzlich tönte etwas, was sich wie das Muhen einer Kuh anhörte, aus den angrenzenden Gemächern; Hari runzelte die Stirn und sprach in scharfem Ton mit einem der Diener, offenbar, um ihn aufzufordern, das Tier in eine andere Richtung zu treiben, aber es klapperte schon auf sie zu. »Das ist furchtbar rückständig«, murmelte Hari. »Es tut mir leid, dass Sie so etwas erleben mussten, Mr. Fleury. Mein Vater sollte es nicht erlauben. Immer in Indien Kuh hier, Kuh dort, Kuh überall!« Die Kuh, aufgeschreckt von den Dienern, hastete vorwärts und wurde erst im letzten Moment davon abgehalten, auf den schlafenden Maharaja loszustürmen. Ein älterer Diener eilte mit einer großen Silberschüssel hinter ihr her.

»Um Kleckern aufzufangen«, erklärte Hari, als sie weitergingen. »Hier ist Marsch der Wissenschaft noch ganz am Anfang, verstehen Sie.«

Sie befanden sich jetzt in der Rüstkammer, die, wie sich herausstellte, nicht nur Waffen jeder erdenklichen Art enthielt, sondern viele andere Dinge mehr. Aber Fleury starrte nur gleichgültig hin und wünschte sich, sie könnten über Religion oder Wissenschaft oder irgendein ähnliches Thema reden. Irgendwie musste er auch etwas über die Truppen des Maharaja herausbekommen, das durfte er nicht vergessen! Er bemerkte nichts davon, wie Haris empfindliche und verletzliche Augen jede seiner Reaktionen auf die ihm gezeigten Objekte verschlangen.

»Das hier ist bestimmt nicht ziemlich interessant«, entschuldigte sich Hari angespannt. »Das ist Speer-Pistole. Schießt und sticht Gentleman zugleich. Wenn scharfe Spitze Gentleman in Brust sticht, löst Mechanismus Abzug aus und schießt zugleich auf Gentleman.«

»Du lieber Himmel«, sagte Fleury gelangweilt.

»Dies große Messer schnappt vier kleine Messer auf, sticht Person vier Mal.«

»Nun –«

»Und da ist Messingkanone, die auf Kamelsattel montiert werden kann. Auch ziemlich dumm, meinen Sie nicht?« Und Hari begann ziemlich verärgert auszusehen.

»Ich glaube, Fleury, das da werden Sie auch nicht gerade spannend finden«, fuhr er unerbittlich fort und deutete auf einen Ständer mit Steinschlossgewehren, die außerordentlich lange Läufe hatten und vom Pferderücken aus nachgeladen werden konnten, ohne abzusitzen, ein Sportgewehr mit Drehmagazin von Adams, eine Mütze in Form eines Kuhfladens mit einer aufschießenden Feder aus Goldflitter, die Haris Großvater gehört hatte, und ein Straußenei.

Fleury unterdrückte ein Gähnen, was Hari unglücklicherweise bemerkte, sich aber trotzdem nicht davon abhalten ließ, fortzufahren, als könnte er sich nicht mehr bremsen: »Dies ist astronomische Uhr, sehr kompliziert … Kreis in der Mitte stellt Tierkreis dar, den Sonne einmal im Jahr durchläuft … An Bewegung dieses schwarzen Zeigers, der Kreis in vierundzwanzig Stunden durchläuft, kann man Aszendent von Horoskop ablesen. Aber ich sehe, dass auch diese erbärmliche Maschine, die übrigens, vergaß ich zu sagen, auch Mondphasen, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang und Wochentage anzeigt, Ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig ist. Richtig. Es sind alles sehr bescheidene und nutzlose Sachen, wie man sie in London und Shrewsbury nicht hat. Jetzt, Fleury, mache ich Daguerrotypie.«

Sobald der Landauer bei der Opiumfabrik angekommen war, übergab der Collector Miriam in die Hände von Mr. Rayne und verschwand, um seine Geschäfte in der Nachbarschaft zu erledigen. Mr. Rayne übergab sie dann wiederum in die Händen von Mr. Simmons, einem seiner Stellvertreter, den er anwies, ihr die Vorgänge beim Raffinieren von Opium zu zeigen. Mr. Simmons mochte etwas jünger sein als ihr Bruder, befand Miriam; er war ein hübscher junger Mann, dessen sommersprossige Haut an mehreren Stellen stark abpellte. Nicht viele Ladies besuchten die Fabrik, für Mr. Simmons jedenfalls war ihre Gesellschaft ungewohnt. Er benahm sich übertrieben ehrerbietig und errötete häufig ohne ersichtlichen Grund. Darüber hinaus war er sehr eifrig mit seinen Erklärungen und geflissentlich darauf bedacht, dass nur wenige Details der Opiumzubereitung Miriams Aufmerksamkeit entgingen. Er führte sie um riesige Eisenbottiche herum und lud sie ein, geheimnisvoll gärende Flüssigkeiten anzuschauen … geheimnisvoll deshalb, weil Miriam feststellte, dass die Worte von Mr. Simmons ihr trotz allem, was sie erklärt bekam, kaum dass er sie ausgesprochen hatte durch den Kopf schlüpften wie Fische durch ein Schleusentor … das war peinlich und sie musste aufpassen, dass er es nicht bemerkte. Doch nach und nach wurde klar, dass Mr. Simmons, obgleich überwältigt von den höheren Gaben des sanfteren Geschlechts, so sehr, dass ein zu persönliches Lächeln oder ein böser Blick von ihr ihn wie eine Motte unter ihrer Schuhsohle zerquetscht hätte, eine mögliche Intelligenz nicht in diese Gaben einschloss. Er erwartete nicht, verstanden zu werden oder dass Miriam sich im nächsten Moment noch an seine Erklärungen erinnerte.

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