Das andere Volk Gottes

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1.1.3.2 Gegenwärtige Sinn- und Handlungsorientierung

Die verschiedenen Sinnzuschreibungen, die seitens der IP mit einer Kasualfeier verbunden werden, bedingen ihre Nachfrage. In ihnen findet sich präzise das ausgedrückt, was im dritten Teil dieser Dissertationsschrift unter den Stichworten Identitätssuche und Berufung näher zu reflektieren sein wird.

Interessant ist nun, mehr über diese hier „Sinnmuster“ genannten Motivationen zu erfahren, die anscheinend neben aller anderen, außerkirchlichen religiösen Praxis der IP diese bewegen, die Distanz zur Kirche anlässlich einer angezeigten Kasualfeier zu unterbrechen. Auffallend ist zunächst, dass fast alle Befragten angaben, ohne einen großen Abwägungs- und Entscheidungsprozess die entsprechende Kasualfeier gewünscht zu haben. Was aber macht nun diese Entscheidungen aus, welche einschlägigen Erklärungsmuster verbergen sich hinter einer solchen, unterschiedslos für alle Kasualfeiern angenommene Selbstverständlichkeit?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen, sollen nun im Folgenden die einzelnen Sinnzuschreibungen, wie sie die Autoren der Studie aus den Interviews herausgefiltert haben, zusammenfassend benannt werden.

• Häufig genannt werden in diesem Zusammenhang die Topoi Schutz und Segen. Weniger als sichernder Besitzstand als vielmehr im Sinne einer Perspektive, um eine als ambivalent erfahrene eigene oder andere Existenz besser bewältigen zu können.

• Hierzu passt die häufige Aussage, von Kasualien Halt und Lebenshilfe in besonderen, bisweilen schwierigen Lebenssituationen zu erhoffen. Der Ritus und das Wissen um die eigene Kirchenzugehörigkeit gewähren so eine in diesem Sinne spezifische Weise der Geborgenheit.

• Dazu kommt die Sehnsucht nach Ordnung zur Strukturierung des Lebenslaufes, welche im lebenszyklischen bzw. bedarfsfallartigen Rhythmus nach den Kasualfeiern fragen lässt. Die einzelne Feier erweist sich dabei häufig als ein Element der strukturierten Ordnung, die sich in allen, in dieser Regelmäßigkeit gesuchten Kasualkontakten widerspiegelt bzw. fortsetzt. Einige IP verbinden mit dem Begehen dieser christlichen Ritualhandlungen auch Übergänge in eine neue Lebensphase oder einen weiteren Schritt im Laufe des gesellschaftlichen Integrationsprozesses.

• Auffallend oft zeigt sich der Begriff der Werte als von entscheidender Bedeutung. Gemeint scheint hier bei aller Unterschiedlichkeit in den Formulierungen der IP eine ethische Grundausrichtung, die von einer Prägung im Raum eines kirchlichen Umfeldes erwartet wird. Insbesondere bei den Initiationssakramenten haben hier häufig Eltern die Zukunft ihrer Kinder im Blick.

• Letztere Motivation deutet sich als eigener, nicht selten genannter Topos der zukünftigen Entwicklung der Kinder weiter aus. In Anlehnung an die eigene kirchliche Sozialisation sollen diese Erfahrungen auch den eigenen Kindern nicht vorenthalten werden. Eltern formulieren hier also eine positive Erwartung für die Entwicklung ihres Kindes, deren Inhalt ihrer eigenen gegenwärtigen Praxis nicht mehr entspricht. Was ihnen selber zumindest nicht geschadet hat, soll auch ihren Kindern zuteil werden.59 Zwei Aspekte finden dabei eine häufige Nennung: Einmal die Gemeinschaft für das Kind, die zuweilen auch als religiöse Gemeinschaft mit der Erwartung von religiöser Bedürfnisbefriedigung verbunden wird, zum anderen der Kirchgang und das Erlernen von Glauben, der diese Erwartungshaltung etwa im Sinne des Erwerbs einer gewissen Lebenssicherheit näherhin exemplifiziert.

Weitere Sinnorientierungen lassen sich bezüglich der Aussagen der IP nicht direkt auf einen ihrerseits verwandten Begriff bringen. Sie werden abgeleitet aus allen Textpassagen, die von einer wie auch immer zu beschreibenden qualitativen Veränderung des Lebensgefühls Auskunft geben, welche im Rahmen der Erhebung als unbestimmter qualitativer Mehrwert definiert wird. Da diese Zuschreibung die diffuseste und zugleich eine für mögliche Deutungen aufschlussreichste Kategorie zu sein scheint, wird auf sie an anderer Stelle zurückzukommen sein.

Neben diesen noch weiterhin zu interpretierenden Sinnstrukturen werden vor allem Familie und Tradition in gegenwärtiger und biographischer Perspektive als Begründungsstrukturen der IP aus den Interviews herausgelesen. Verdeutlichen lässt sich dieses lebensgeschichtliche Element daran, dass die Befragten die Teilnahme an bzw. den Wunsch nach einer Kasualfeier einerseits durch einen Verweis auf die eigene Kindheit und Jugend und gleichzeitig durch den Hinweis auf eine bei ihnen innerfamiliär durchgängige Praxis begründen. Oft brauchen die Gesprächspartner hier den Begriff der Tradition. Markant ist überdies, dass ein Handeln aufgrund von sozialem Druck kaum genannt, von manchen IP sogar bewusst ausgeschlossen wird. Die Begründungslinien verlaufen folglich vertikalbiographisch und synchron-familiär. Dabei spielen auch verstorbene Familienangehörige bei vielen weiterhin eine wichtige Rolle (beispielsweise verstorbene Großeltern bzw. Eltern).

Von daher erklärt sich, dass den Kasualfeiern zumeist ein in erster Linie eigener Sinn zuerkannt wird, dem die Forscher eine „familienintegrative Funktion“ zusprechen.60 So scheint an diesem Punkt die Schlussfolgerung nahe zu liegen, dass Kirche bzw. Gemeinde als beheimatendes Moment – anders als Familie und Biographie der Vergangenheit und Gegenwart – im Relevanzsystem dieser Menschen eine eher zu vernachlässigende Rolle spielt.

Zum oben ebenfalls eingeführten Begriff der Tradition lässt sich abschließend festhalten, dass es sich bei dieser Art von Rückgriffen auf Kasualien nicht ausschließlich um liebe Reminiszenzen an die eigene Kindheit und Jugend handelt. Vielmehr steht der Wunsch nach Kasualhandlungen für eigenständige und durchaus ernsthafte Konzepte der Lebensbewältigung. Aus kirchlicher Perspektive mag hier der Befund ernüchtern, dass eine alltagspraktische Relevanz solcher Biographiearbeit ausschließlich von den Kasualien, kaum jedoch von der Kirche als solcher erwartet wird.

1.1.3.3 Das Kirchenbild

An eben dieser Stelle spitzt sich die Frage nach dem Kirchenbild zu: Trennen die Befragten Angebot und Anbieter, unterscheiden sie zwischen dem Ritual und dessen institutioneller Trägerschaft? Angesichts der von allen Interviewten geäußerten vormaligen Beteiligung am Leben ihrer Heimatgemeinde stellt sich desweiteren die Frage, ob sich womöglich mit der Änderung des Teilnahmeverhaltens am gemeindlichen Leben analog dazu eine Einstellungsveränderung zur Kirche vollzog. Vorauszuschicken ist, dass die IP durchweg Kirche nicht als abstrakte bzw. theologische Größe begreifen, sondern Kirchlichkeit vorwiegend mit eigenen Erfahrungen besetzen. Zudem benennen einige der Befragten übergeordnete kirchliche Themenzusammenhänge, über die sie aus den Medien oder von Reisen wissen. Hierbei fällt auf, dass auch bei Schilderungen kritischer kirchlicher Erfahrungen (strenge/r Pfarrer oder Eltern in der Kindheit), biographische Fragen zumeist und insgesamt positiv gewertet werden. Gegenwärtige kirchliche Verhältnisse, also Themen des großen kirchlichen Zusammenhangs (genannt werden etwa die Rolle der Frau in der Kirche, Fragen des Schwangerschaftsabbruchs, der Zölibat der Priester sowie kirchliche Struktur- und Leitungsfragen) werden hingegen deutlich kritisch kommentiert.

Bis hierher lässt sich also festhalten, dass die Frage nach der Kirchlichkeit der Befragten eine deutliche Zweiteilung aufweist: Einmal finden sich biographische Aussagen über die Kirche, die wiederum durch weitere, eher gegenwartsbezogene Meinungen ergänzt werden. Letztere allerdings beziehen sich, da der unmittelbar persönliche Kontakt zur kirchlichen Gemeinschaft nicht mehr besteht, als Quelle vorwiegend auf Informationen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und den Medien. Biographische Aufmerksamkeiten finden sich dagegen als Erinnerungen an eine Kirche, welche, verstanden als eine umfassende religiöse Praxis während der Kinder- bzw. Jugendzeit, im Nachhinein von den IP positiv gewertet wird.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ergibt sich an dieser Stelle: Was von außen als Widerspruch erscheinen kann, erhält für die IP dadurch seine eigene Kohärenz, dass offenbar biographische Erfahrungen einer identitätssichernden Lebensperspektive die gegenwärtigen Kritikpunkte zu relativieren vermögen.

Die Fragen bleiben allerdings: Was machte den Wandel in Gestalt der Beteiligung am kirchlichen Leben und seinen Angeboten aus? Wie ist er zu erklären? Als wesentlich dürfte in diesem Zusammenhang die Auffälligkeit bewertet werden, dass die Umbewertung von Kirche und persönlicher Frömmigkeit im jungen Erwachsenenalter einzusetzen scheint. Im Kindes- und anfänglichen Jugendalter wurde offenbar das Junktim von Kirche und Glaube nicht weiter hinterfragt, was bei einem Großteil mit zunehmendem Erwachsenwerden dann jedoch umso stärker erfolgt. Konkret wird beispielsweise das heute praktizierte persönliche Beten von einem seinerzeit institutionell vorgegebenen Kirchgang am Sonntag abgesetzt. Wenn auch zugleich manche ihre Unzufriedenheit über den jetzigen Zustand der Beteiligung ausdrücken oder durchaus eine Teilnahme ihrer Kinder am kirchlichen Leben wünschen, ist jedoch insgesamt bezüglich der Funktionszuschreibung an eine religiöse Praxis der Kirche, die sich als ein alltäglich relevantes spirituelles Muster versteht, ein eklatanter Wandel im Kirchenbild der Befragten festzustellen. Entsprechend folgern die Autoren:

Mit dem spezifischen Teilnahmeverhalten, lediglich anlässlich der Kasualien die Kirche zu kontaktieren, dokumentiert sich nun eine neue Variante gegenwärtiger Kirchenmitgliedschaft und Frömmigkeit, die sich vor dem Hintergrund der neueren Sozialgeschichte des Katholizismus in Deutschland von früheren Formen – insbesondere hinsichtlich der Dimension Kirche / Kirchlichkeit – deutlich unterscheidet.61

 

Dieser Befund wird ferner „vor dem Hintergrund der neueren Sozialgeschichte des Katholizismus […] als signifikantes Novum“ gewertet.62

Interessante Außenwahrnehmungen bieten die Interviews auch bei der Frage nach dem Kasualgespräch. Zunächst kommen die oben angesprochenen Aspekte (die Entwicklung der Kirchlichkeit zwischen dem Jugend- und Erwachsenenalter sowie ihre Ursachen) überhaupt wenig zur Sprache. Durchweg gingen auch die Erwartungen auseinander: Während die Befragten oftmals keine oder wenige Erwartungen mitbrachten, wollten die kirchlichen Hauptamtlichen in erster Linie Fragen zum Ablauf der Feier klären. Hierbei betrachten einige den jeweiligen Seelsorger als zuständige, geradezu unhintergehbare Autorität. Zu denken geben kann in diesem Kontext, dass die IP häufig durch erwartete Mitgestaltungselemente überfordert waren. Möglicherweise erscheint an dieser Stelle ein Indiz dafür, dass kirchliche Hauptamtliche wie selbstverständlich andere Bindungs- bzw. Beteiligungsvorstellungen mitbringen, als sie der Realität solcher Begegnungen entsprechen. Selbstthematisierungen seitens der IP fanden anlässlich dieser Begegnungen nahezu gar nicht statt.

Das Interesse der Befragten galt dabei allein der Kasualie und damit offenbar ihren oben beschriebenen Erwartungshaltungen. Ein vergleichbares Interesse an der Kirche lässt sich aus den Interviews nicht herauslesen. Allerdings sprechen die geschilderten Begegnungen häufig von einer hohen Identifikation mit der Kirche während der Zeit des Kasualkontaktes (Gespräch, Vorbereitung, Feier). Diese Weise der Bindung trägt allerdings deutlich okkasionelle Züge. Mancher zeigt sich überrascht und begeistert von der eigenen Kasualfeier, fühlt sich hingegen bei erneuter Kontaktaufnahme während des Besuchs eines Sonntagsgottesdienstes von dessen unpersönlicher Gestaltung ohne biographische Bezüge kaum angesprochen.

Wichtige Elemente für eine gelungene Kasualfeier sind für die IP folglich das persönliche Angesprochensein sowie die Erfahrung von ebenfalls persönlicher bzw. biographischer Betroffenheit. Schlussfolgernd bedeutet dies, dass die Identifikation mit der Kirche gerade während des Rituals und seines zeitlichen Umfeldes besonders hoch ist, weil hier für die Betroffenen ein deutlicher biographischer Bezugspunkt hergestellt wird. So erklärt sich ferner, dass sich die Bindung an die Kirche für sie künftig nicht in der Weise regelmäßiger Teilnahme an Gottesdienst und Gemeindeveranstaltungen gestaltet. Offenbar, weil hier diese biographischen Verdichtungen nicht unentwegt geboten werden können. Kirchliche Spiritualitätsangebote plausibilisieren sich in der Erwartung der IP also biographisch.

Will man diese Befunde zusammenfassen, lässt sich festhalten, dass die Kirche für die Befragten insofern wichtig ist, als sie als eine Art Trägerin eines Rituals fungiert, das Bedeutsames zur Lebensorientierung beisteuert bzw. angesichts einer von Unwägbarkeiten gezeichneten Zukunft Geborgenheit gewährt, die bislang noch weitgehend konkurrenzlos sind. Kirche und Ritual gehen also aus der Perspektive dieser ChristInnen auf der Ebene des Weltbildes eine Verbindung ein. Relevant wird diese Kirche dann, wenn sie ein zur Biographie passendes Ritual bereithält. Dabei scheinen die biographischen Erinnerungen an die Kirche der Kindheit und Jugend eine biographierelevante und sozial vergewissernde Funktion gehabt zu haben, die für viele in ihrer jetzigen Lebenssituation nur noch im Ritual zum Vorschein kommt. Anthropologisch und kirchlicherseits ließe sich dieser Befund dahingehend deuten, dass das kirchliche Ritual heute für die meisten eben jene Leistung erbringt, die früher durch das konfessionelle Milieu übernommen worden war. Es wird also ein Transformationsprozess von milieubedingter zu ritualzentrierter Kirchenbindung erkennbar.

1.1.3.4 „Das gehört einfach dazu“

Unter diesem Punkt weisen die Autoren auf die Pluralitätsstrukturen in den Orientierungen der Kasualienfrommen hin. Was nämlich auf den ersten Blick nennenswerte Gemeinsamkeiten im Verhalten aufweist, erweist sich bei näherer Betrachtung als vieldeutiges Phänomen: Ob Eltern ihre Kinder zur Taufe bringen, um Schutz für den weiteren Lebensweg zu erbitten, oder ob ein Paar mit der kirchlichen Trauung eine höhere Stufe seiner Partnerschaft anstrebt, jeweils muss die Pluralität der Spiritualitätsentwürfe mit gesehen werden.

Gerade in diesem Zusammenhang weisen die Gespräche jedoch in einem Punkt eine fundierte, geradezu alarmierende Gemeinsamkeit in einer Formulierung auf: „Das gehört einfach dazu“, dieser Satz findet sich quer durch alle weiteren Sinn-und Handlungsmuster, die von den Befragten genannt werden. Insbesondere der soziologische Kontext dieser Formulierung verwundert. Eigentlich verweist dieser Satz auf vorhandene Milieubindungen, die dem Einzelnen oder sozialen Untergruppen ein entsprechendes Handlungsmuster (in diesem Fall das unhinterfragte Begehen einer jeweils angezeigten Kasualie) nahe legen. Die Forscher räumen ein, dass sie den Satz im Vorfeld der Erhebung erwartet hatten, allerdings in säkularisiert-sozialem Kontext eher als Reminiszenz an frühere Handlungsmuster. Da sich dieser Satz allerdings auch in Interviewtexten findet, die von einer aktuellen existentiell relevanten Bedeutung der Kasualfeiern sprechen, muss sich hinter dieser Aussage mehr bzw. noch Anderes verbergen.

Zum einen kommt der Antwort „Das gehört einfach dazu“ eine funktionale Bedeutung zu: Die Kasualien gehören für viele zu einem schrittweisen Prozess der Einführung in das Leben und in gesellschaftliche Zusammenhänge. Ihnen wird dabei häufig eine Übergangsfunktion von einem Lebensabschnitt zu einem anderen zugeschrieben.

Inhaltliche Bedeutsamkeit hingegen erlangt die Aussage „Das gehört einfach dazu“ insofern, als die Kirche (allerdings in unterschiedlichen Anschauungen: Wissen um die Kirche, Kirchgang, Lernen des Glaubensbekenntnisses und weiterer Gebete) als Teil einer für üblich gehaltenen Lebens- und Welterfahrung gedeutet wird. Diese Kirche wird insofern als existentiell relevant betrachtet, als man sich von ihr eine Stärkung im Leben erhofft. Die Aussage „Das gehört einfach dazu“ fungiert im Rahmen dieser Auffassung dafür, das eigene Handeln in dieses Bedeutungssystem einzuordnen.

Darüber hinaus bleibt die Tatsache kurios, dass dieser Satz auf eine noch weitere Bandbreite an Aussagen abzielt: z.B. geht es um die Bedeutung des Glaubens an sich, ein anderes Mal meint diese Aussage, dass die Feier der Erstkommunion des Sohnes zum Jahresablauf selbstverständlich dazugehört. Wenn also diese Aussage seitens der Befragten so passgenau auf unterschiedlichste Zusammenhänge anzuwenden ist, wird die Frage virulent, warum sie so durchgängig als Erklärungsmuster verwandt wird. Ist „Dazugehören“ etwa schon eine Bedeutung an sich?

Zu Ergebnissen kommt die Studie in diesem Fragezusammenhang, wenn sie einzelne Interviewabschnitte herausnimmt, in denen die Rede auch auf andere Weisen des normalen „Dazugehörens“ kommt. Eine der IP verwendet auch bei einem Streit in der Familie die Aussage „das gehört dazu“ und zeigt damit ansatzweise, dass für sie beides – in aller Unterschiedlichkeit – zu den Bestandteilen eines für sie normalen gegenwärtigen Lebensvollzuges gehört. Normalität ist in diesem Sinne das, was die Befragten als selbstverständliche Lebensbestandteile empfinden, die, kaum zur Disposition gestellt, nicht erst neu zu entwerfen wären.

Hinter dem steht also ein Welt- und Lebensverständnis, das der gegebenen Welt eine gewisse Normativität zugesteht, die auch anderen Elementen dieser Welt (bestehende Gesellschaftsstrukturen und – bereiche, Sinnangebote u.a.) zukommt. Eine solche Orientierung, die das eigene Handeln in eine vorhandene und gültige Welt- und Gesellschaftsordnung einordnet, welche nicht erst selber mit Sinn versehen oder womöglich erst ganz neu entworfen werden muss, fassen die Autoren als „Grundorientierung“ auf.63 Hinter diese gehen erstaunlicherweise viele mit ihrem Lebensentwurf nicht zurück. So geht offenbar während vieler Interviews der Sinngehalt vieler Befragten von Normalität fließend in Normativität über („Was ist, gilt!“).64

Mit den Soziologen Schütz und Luckmann deuten die Autoren dieses Verhalten aus handlungstheoretischer Perspektive als „paradoxe Relevanzstruktur“:65 Zum einen wird eine fraglose Orientierung in die persönliche Lebenspraxis umgesetzt, um die Bewältigung des Alltags zu stützen, andererseits findet sich inhaltlichexplizit nahezu überhaupt kein Niederschlag innerhalb alltäglicher Reflexion bzw. Problematisierung der Beteiligten.

1.1.3.5 Fazit: Ergebnisse der Studie

In eigener Deutung der Studie konstatiert Först:

„Unser forschungsleitender Ausgangsgedanke, dass ausgehend vom kirchlichen Teilnahmeverhalten noch relativ wenig über die Einstellungen und Deutungen der ‚Kasualienfrommen’ gesagt werden kann, hat sich vollauf bestätigt. Denn es konnte eine Orientierung rekonstruiert werden, die nicht als ein durch die gesellschaftliche Säkularisierung abgeschliffener Restbestand früherer Frömmigkeitsentwürfe bezeichnet werden kann, sondern in hohem Maße eigenständige Züge aufweist. Idealtypisch verdichtet, handelt es sich um Menschen, die sehr genau um die Prekarität, die Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens wissen. Ihre Entscheidung, an den Kasualien teilzunehmen, entwerfen sie in diesen Lebenshorizont hinein. […] [Dies geschieht] so, dass es eine Perspektive eröffnet, ein riskiertes Leben hoffentlich meistern zu können. […] Es macht Sinn, etwa das eigene Kind zur Taufe zu bringen, weil man nicht abschätzen kann, was ihm im Leben zukünftig widerfahren wird. Ein abgesicherter ‚Ertrag’ ist zwar auch auf diesem Weg nicht zu erreichen, ein Motiv, die Kasualie zu begehen, ist aber allemal gegeben. So erwarten die ‚Kasualienfrommen’ etwas von den kirchlichen Ritualen, was sie häufig selbst nicht vollständig rationalisieren oder überhaupt verbalisieren können, jedoch als unbestimmten qualitativen Mehrwert für ihr Leben erahnen.“66

Der empirische Nachweis einer Orientierung, die nicht Rudiment einer säkularisierten Frömmigkeit ist, sondern als eigenständiger, neuartiger Frömmigkeitstypus bezeichnet werden muss, ist wohl eine der zentralen Neuheiten der Studie „Die unbekannte Mehrheit“. Es handelt sich bei den Kasualienfrommen tatsächlich um fromme Menschen, die allerdings Religiosität und Spiritualität völlig anders leben und verstehen, als es dem kirchlichen Erwartungs- und Beteiligungshorizont entspricht: Das Wissen um die Unwägbarkeit einer riskierten menschlichen Existenz und darin die Sehnsucht nach Segen und Sicherheit verkörpern je für sich Grundmotivation für eine gegenwärtige Kasualpraxis. Zugleich werden die persönliche Biographie und Existenz zur wesentlichen Größe, der gegenüber man einzig Verbindlichkeit zollt. Darin kann aus theologischer Perspektive die Frage nach der Berufung erkennbar werden. Dogmatische Glaubenssicherheiten fallen hingegen als verbindendes überpersönliches Moment aus.67

Dies führt sich fort bei der natürlichen Frage nach der Bedeutung der kirchlichen Communio: Im Gegensatz zu einer regelmäßigen liturgischen Teilnahme, idealtypischer Weise am Sonntagsgottesdienst, kann damit einsichtig gemacht werden, wie sehr sich in diesem Typus der Kirchenmitgliedschaft kirchliche Spiritualitätsangebote in erster Linie biographisch bzw. existentiell plausibilisieren. Das anzutreffende Relevanzgefüge von Lebensbewältigung, Biographie und Ritual kennt dabei eine andere Regelmäßigkeit und Rhythmik, als sie die Logik der wöchentlichen Sonntagsfeier vor Augen hat. Först hält dazu weiter fest:

„Was auf den ersten Blick als Entkirchlichung gedeutet werden mag, erscheint auf den zweiten Blick durchaus anders. Denn von der ‚Anwendungsseite‘ her gesehen, wollen die ‚Kasualienfrommen‘ auf die Kirche als Trägerin des Rituals nicht verzichten. Im Moment der Begegnung im Ritual leistet die Kirche für sie exakt das, was sie im Kontext ihres Lebensbewältigungsversuches womöglich als Entlastung suchen. Lediglich von außen betrachtet ist die Kirche daher nur ritenförmig, von innen betrachtet, liegt in diesem Ritencharakter die eigentliche existentielle Relevanz.“68

 

Auf dieser Kontrastfolie zeigt sich besonders deutlich, wie im Gegensatz zu einschlägigen gemeindlichen Beteiligungserwartungen die kirchlichen Kasualien und die Teilnahme an ihnen von einem Großteil der Befragten als für ihre Lebenskonzeptionen notwendig aufgefasst werden. Die kirchlichen Ritual- bzw. Kasualhandlungen werden damit anderen Elementen des Alltags vergleichbar, die ebenfalls als üblich und vorgegeben praktiziert werden. Verdeutlicht wurde dies in den Ergebnissen im Umfeld der Aussage „das gehört einfach dazu!“. Dass sich hinter dieser Konstruktion von Normalität allerdings keineswegs eine Form von Gleichgültigkeit zeigt, sondern sich vielmehr darin die Relevanz der kirchlichen Kasualien zur jeweils persönlichen Lebensgestaltung widerspiegelt, kann und soll zu weiterem Nachdenken anregen. Dabei muss die Verbindung von Identitätsarbeit und einem christlichen Berufungsbegriff zentral werden.

Offenbar wird hier eine absolut differente Auffassung von Normalität inhaltlich greifbar: Während die Selbstbilder einer sich in ihren Grundvollzügen verwirklichenden Kirche eine Gemeindeintegration aller katholisch Getauften idealerweiser annehmen, sieht und praktiziert dies ein Großteil der Mitglieder offenkundig völlig anders und empfindet diese Weise des Christseins als normal.

Offen ist, wohin sich die „Unbekannte Mehrheit“ bewegt. Die Weissagekraft primär soziologischer Daten ist für die Zukunft zweifelsohne begrenzt. Einstweilen lässt sich jedoch festhalten, dass sie auf absehbare Zeit aussagekräftig sind für pastorale Planungen und Reflexionen innerhalb jener Gebiete des deutschsprachigen Kulturraums, in denen das einstige katholische Milieu durch den Prozess der Säkularisierung in Transformation begriffen ist bzw. bereits transformiert worden ist.

Neben diese Ergebnissen sollen nun weitere Wahrnehmungen des Phänomens außergemeindlicher Kirchlichkeit treten, die den Focus auf ihre Weise weiten und schärfen können.