Froststurm

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Professor Zufall

Sebastian rückte die Schale unter dem Mikroskop mehr in die Mitte, ging einen Schritt zurück und schaute gemeinsam mit Di Matteo auf den Bildschirm. Er brauchte nicht in das Gesicht des Italieners zu schauen, um die Enttäuschung zu spüren. Es hatte wieder nicht funktioniert.

»Cazzata«, fluchte der Dicke und ließ sich schnaufend auf einem Laborhocker nieder, um sich danach mit einem Tuch über die mit Schweißperlen bedeckte Stirn zu wischen. Sebastian wollte gar nicht erst wissen, wie er außerhalb des temperierten Komplexes zerfließen würde. Sicherlich kein schöner Anblick.

In diesem Moment öffnete sich mit einem Zischen die gläserne Schleuse des Labors und Sebastian schaute zur Seite. Heiderlein kam mit zügigen Schritten heran, während hinter den Glasscheiben im ebenfalls glasumfassten Laborvorraum ein Dutzend Arbeiter weitere Kisten mit Hilfe des Liftes herunterschafften. Trotz der guten Dämpfung war der Lärm beträchtlich, den sie dabei machten. Kein Wunder, der Lift war in der Lage, mehr als drei Tonnen zu heben und machte daher mit seinen kräftigen Gelenken mächtig Lärm. Außerdem warf die wenige Meter über ihnen befindliche Decke den Schall nur zu gut zurück. Ein Labor in der obersten Reihe des Glas-Stahl-Labor-Gitters zu haben, hatte eben auch Nachteile. Das Schott im Dach des Bunkers war offen und das Tageslicht fiel bis hier unten. Sebastian strich sich über den Nacken. Die UN machte wirklich keine halben Sachen. Der Lift war eine geniale Idee, um zügig Dinge von oberhalb des Bunkers direkt in die geschützte Laboratmosphäre zu schaffen, ohne durch das Labyrinth von Gängen zu müssen. Da war etwas Lärm zu verkraften. Jetzt aber nahm Heiderlein seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag, als sie heranrauschte und mit ihrem österreichischen Akzent fragte, ob bereits Resultate vom letzten Versuch vorliegen würden.

Sebastian zeigte auf den Bildschirm und nach einer Sekunde schüttelte die dürre Frau den Kopf.

»Das kann doch nicht sein! Zwei Wochen harter Arbeit! Und wieder keine Ergebnisse, die man als solche bezeichnen kann!«

Sebastian zuckte mit den Schultern, was er augenblicklich bedauerte, als ihn der Blick des Todes traf.

»Finden Sie das etwa nebensächlich, Herr Born?«

»Jetzt ist es aber gut, Werteste! Wir stehen alle unter demselben Druck, Resultate zu erbringen. Hören Sie auf, sich hier wie eine Feldherrin zu geben!« Di Matteos Wangen waren deutlich gerötet und sein Atem ging stoßweise.

Die Vogelscheuche baute sich vor dem deutlich kleineren Mann auf, der ihr Körpergewicht sicherlich vier-, wenn nicht fünfmal auf die Waage brachte. Ein ungleicher Kampf, als sie sich anstarrten. Heiderlein war derartige Duelle gewohnt, der Italiener hatte lediglich seinem Temperament nachgegeben.

Sebastian beeilte sich, die Wogen zu glätten. »Ja, der Versuch hat nicht die erwünschten Ergebnisse gebracht. Aber was haben wir auch erwartet? Zwei Wochen sind in der Welt der Wissenschaft wie eine Sekunde!«

Heiderlein ruckte zu ihm herum und stieß dabei fast eine Versuchsanordnung einer anderen Gruppe, die gerade frei hatte, vom mittigen Labortisch. Die Reagenzgläser wankten bedrohlich, und nur Di Matteos schnellem Eingreifen hatten sie es zu verdanken, dass jetzt keine Scherben aufzukehren waren. Alle erstarrten. Dann lachten sie gemeinsam los, sogar Hungerhaken konnte es sich nicht verkneifen. Sebastian atmete aus, die Spannung war gelöst.

Sebastian schaute auf den Bildschirm, ging dann zum Terminal und ließ den Drucker losrattern. Mit dem Blatt in der Hand ging er zu seinen Mitforschern hinüber und sie schauten gemeinsam auf die Daten.

»Die Aufnahmefähigkeit des Meerwassers für Kohlenstoffdioxid wurde so gut wie gar nicht beeinflusst.« Di Matteo schüttelte den Kopf und einen Schokoriegel aus dem Ärmel.

»Da hatte ich mir von den Bakterien mehr erhofft.« Heiderlein konnte es sich offensichtlich nicht verkneifen, einen Seitenblick auf Sebastian zu werfen, und der hatte den Wink verstanden. Die Idee war gewesen, Wasser durch spezielle Bakterien mehr CO2 als bisher aufnehmen und dann dort durch eben diese Bakterien abbauen zu lassen. Seine Idee. Hatte ja toll funktioniert! Er knibbelte an den eigentlich wieder gut verheilten Fingern, dank Melanies gutem Einfluss, und ging im Kopf die möglichen Fehlerquellen durch. Sebastian seufzte.

»Ehrlich gesagt, weiß ich dann hier erst mal nicht weiter. Ich bleibe dabei. Die Idee, von den extrem anfälligen CO2-Lagerstätten an Land weg- und zum Meer hinzukommen, halte ich weiterhin für richtig.«

»Absolut, Herr Born«, pflichtete der Italiener kauend bei. »Aber entweder übersehen wir irgendetwas, oder das Bakterium ist einfach noch zu schwach auf der Brust.«

Sebastian nickte in Richtung der Schleuse.

»Sollen wir erst mal was Essen gehen und dann weitermachen?«

Dass der Italiener dafür sofort zu haben war, überraschte wohl keinen, aber selbst die Österreicherin nickte zustimmend. Es gab noch Zeichen und Wunder.

Eine Stunde später – der Küchenchef hatte das Buffet gerade frisch aufgefüllt und Di Matteo hatte darauf bestanden, alles mindestens einmal probieren zu müssen – gingen sie zurück zum Labor. Sie bogen gerade um die letzte Ecke des Gangs, der zum großen Zentralraum führte, als sie den Lärm hörten. Rufe, ein lautes Getöse. Sie schauten sich fragend an und fingen an zu laufen, wobei der Italiener sofort zurückfiel.

Sebastian öffnete die Tür mit seinem Zahlencode und eilte in die Haupthalle. Überall auf der Metallbalustrade standen Leute, hauptsächlich Arbeiter und Personal, und schauten zum gläsernen Laborkomplex herüber. Sebastian eilte um aufgetürmte Kisten herum und dann konnte auch er den Aufruhr sehen: Ein Mann mit Atemmaske und Tank auf dem Rücken zog auf der obersten Ebene gerade eine Frau im weißen Kittel in die Schleuse zum Laborvorraum – ihrem Labor – und von dort auf den Lift zu ihnen herunter. War das die junge Japanerin, mit der er heute Morgen gefrühstückt hatte? Tanaka oder so? Die Geologin, die vor allem abends in diesem Labor arbeitete? Er hatte sie bisher kaum gesehen, da sie normalerweise im Nebenlabor im Abschnitt Gamma tätig war, aber sie hatte heute Morgen gesagt, dass ein paar der per Lift angelieferten Kisten für ihre Forschungen bestimmt waren und sie daher ein paar Sachen in dem hauptsächlich von Sebastians Gruppe genutzten Labor zwischenlagern wollte.

Der Sicherheitsmann zog sich die Atemmaske vom Gesicht, als der Lift unten ankam und legte die zierliche Japanerin auf den Betonboden. Ihr Gesicht war blau angelaufen, sie bewegte sich nicht.

»Sanitäter!«, rief die Wache über das Gemurmel der herumstehenden Gaffer. Zwei Sanitäter mit Notfallkoffer und Trage drängten sich durch die Menge. Der ältere von beiden beugte sich über die am Boden Liegende, fühlte Puls und Atmung und machte sich dann geschwind daran, den Beatmungsbeutel zusammenzusetzen, während er seinen Kollegen anwies, die Frau zu intubieren. Dann folgte die Wiederbelebung. Die Umstehenden hielten den Atem an, Di Matteo kam nun auch an und schnaufte auf Brusthöhe neben Sebastian wie ein alter Dampfkessel.

»Was ist denn los?«, wollte er wissen, aber Sebastian schüttelte nur den Kopf.

Nach bangen Momenten kam Regung in die zierliche Frau und die Sanitäter hoben sie sofort auf die Trage und brachten sie weg, während der Wachmann mit aschfahlem Gesicht aufstand, seine Rettungsausrüstung aufhob und ihnen entgegen kam. Sebastian ging auf den Endzwanziger zu und konnte noch die Druckstellen der Atemmaske auf dem jungen Gesicht sehen.

»Was war hier los?«

Der Angesprochene zuckte mit den Achseln. »Es wurde Gasalarm in ihrem Labor ausgelöst, ich war der Erste vor Ort. Hab die Frau dann am Boden liegen sehen, mitten im Schleusenausgang zum Laborraum. Dann hab ich sie halt rausgeholt.« Er schulterte die Atemflasche und schaute Sebastian müde an. »Darf ich dann?« Sebastian beeilte sich, Platz zu machen, nicht ohne dem Mann anerkennend auf die Schulter zu klopfen, der ihm ein gequältes Lächeln schenkte. War schon was anderes als die endlosen Übungen.

Sebastian berichtete der erschrockenen Heiderlein und dem mittlerweile sitzenden Di Matteo von den Worten des Wachmanns und sie schauten sich fragend an.

»Kann das etwas mit unserem Versuch zu tun haben?«, brach der Italiener als Erster das Schweigen.

Heiderlein schaute ihn strafend an. »Wohl kaum. Denn Sie haben doch sicherlich die CO2-Flasche verschlossen, bevor wir gegangen sind, oder etwa nicht? Das war Ihre Aufgabe!«

Der Dicke wurde schlagartig bleich.

Sie fuhren zu dritt hoch zu ihrem Labor. Sebastian ging zur Schleuse des Laborvorraums und tippte auf dem angebrachten Display herum.

»Komisch«, murmelte er.

Heiderlein trat hinter ihn und zuckte mit den Achseln, bevor sie sagte: »Nichts mehr vom CO2 zu sehen. Die Lüftung muss es nach draußen befördert haben.«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Das ist es eben. Die Lüftung ist überhaupt nicht angesprungen.« Er zeigte auf das Sicherheitslog, das er auf dem Display anzeigen ließ. »Der Computer hat den Gasalarm wegen zu hoher CO2-Konzentration ausgelöst, anschließend versucht, die Lüftung zu starten und von dort aber eine Fehlfunktionsmeldung erhalten.« Er tippte auf einen anderen Eintrag, der daraufhin farbig unterlegt erschien. »Und dennoch ist die CO2-Konzentration jetzt kaum noch messbar. Wie kann das sein?« Er drehte sich um und schaute in die gleichsam ratlosen Gesichter seiner Kollegen.

Reisepläne

Das Gefühl des Déjà-vus war überwältigend und lag Regina wie ein Geschmack auf der Zunge. Mal wieder rannte sie mit Ben an ihrer Seite davon, mal wieder hörte sie Polizeisirenen in der Ferne. Mal wieder brannte hinter ihnen ein Fuhrpark. Oder war es eine Lagerhalle? Die Aktionen der letzten Wochen vermischten sich in ihrer Erinnerung, kamen ihr vor wie eine stete Abfolge von Aktion, Flucht, Untertauchen, Planung und neuerlicher Aktion. Bei diesem Tempo würde ihre Sternschnuppen-Metapher sich bald erfüllen, keine Frage.

 

Mit quietschenden Reifen kam Mike mit seinem gestohlenen Van um die Ecke, Kevin im Inneren riss die Seitentür auf und Regina und Ben sprangen hinein. Dann gab der Öko Vollgas und schleuderte sie in die Sitze.

»Hey, mach mal langsam!«, rief ihm Ben über den Lärm des aufheulenden Motors zu. »Oder ruf den Bullen doch gleich zu, dass wir hier sind.«

Mike zügelte seinen Fahrstil und nach wenigen Abbiegungen waren sie im nächtlichen Verkehr des Ruhrgebiets untergetaucht.

Kevin zitterte, sagte kein Wort und schaute zu Boden. Regina streichelte ihm sanft über den Kopf. Erst versteifte sich der dürre Körper, dann warf er sich förmlich in ihre Arme und zitterte vor sich hin.

Ben schaute fragend zu ihr hinüber, deutete eine wegziehende Handbewegung an, aber sie schüttelte den Kopf. Es war zu viel gewesen in den letzten Wochen. Für jeden von ihnen, aber vor allem für den Koffeinjunkie hier. Sie spürte, wie Tränen ihre Hose befeuchteten und ließ Kevin gewähren. Das Tempo der letzten Zeit war höllisch gewesen, jeder von ihnen arbeitete an seinem Limit. Ihre Aktionen waren immer häufiger in den Nachrichten, gerüchteweise hatte die Polizei eine eigene SoKo für sie gebildet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Ruhrgebiet verlassen mussten. Aber auch woanders würde Ben weitermachen. Er würde immer weitermachen. Das Feuer in ihm loderte mit einer Kraft, das es sie alle verbrennen würde.

Das Zittern der Gestalt in Reginas Armen wurde weniger, die Tränen versiegten. Bis er das nächste Mal zusammenbrechen würde. So wie vor ein paar Tagen. Als sie das mit Ischar erfahren hatten und Ahnung sich in kalte, schneidende Gewissheit verwandelte. Der dicke Türke war der Grund dafür gewesen, dass die Polizei an jenem Tag bereits auf sie gewartet hatte. Er hatte aussteigen wollen. Und wenn sie Ben so ansah, mit seiner ganzen Ausstrahlung von Siegeswillen und Kraft, die einem Mongolenführer gut zu Gesicht gestanden hätten, hatte sie fast Verständnis dafür, dass der Dicke es ihm nicht ins Gesicht gesagt hatte. Aber warum direkt der Verrat und nicht einfach nur das normalste der Welt, bekannt aus vielen gescheiterten Beziehungen? Das einfach-nicht-mehr-melden und Verleugnen? Diese Frage nagte an ihnen allen. Ischars Verrat hatte insbesondere Kevin, seinem besten Freund, hart getroffen.

Der Dürre kam langsam wieder hoch, blickte Regina aus verquollenen Augen an und wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, aber sie schüttelte den Kopf und streichelte ihm über den Arm. Sie waren eine Gemeinschaft, in der jeder dem anderen half.

Die altersschwachen Scheinwerfer quälten sich durch die Dunkelheit, als Mike von der Hauptstraße abbog und sie mitten in der Nacht in ein anderes Industriegebiet führte. Diesmal nicht, um dort ebenfalls ein Chaos anzurichten, sondern in ihrem neuesten Unterschlupf ein paar Stunden Schlaf zu finden. Sie hatten ihn alle nötig.

Das bläuliche Licht des Bildschirms erhellte Reginas Gesicht und notdürftig das kleine Zimmer. Sie war völlig im Internet versunken, surfte auf diversen Seiten gleichzeitig, die ihr mehr darüber verrieten, in welchem Ballungsraum es sich am ehesten lohnte, zu leben. Und wo man sich dort nötigenfalls verstecken konnte. Die Umzugspläne waren weit gediehen, das Pflaster im Ruhrgebiet wurde immer heißer. Nachdem die SoKo der Polizei sie vor einigen Tagen bei einem Brandanschlag auf einen Fuhrpark fast erwischt hatte, hatten sie wohl alle eingesehen, dass hier erst mal nichts mehr zu holen war. Also ein Umzug. Man hätte ja sagen können, dass sie darin »übereingekommen waren, umzuziehen«, aber so war die Lage nicht. Ben hatte beschlossen, dass sie weggingen. Und die Gruppe hatte sich dem gefügt, wie immer. Sie bewunderte ihn für seine ihm angeborene Gabe, Menschen zu führen und sie nötigenfalls auch gegen ihren eigentlichen Willen für eine Sache begeistern zu können. War das bei ihr auch der Fall? Oder war er zu ihr rundherum ehrlich? Diese Frage brannte ihr schon seit Wochen auf der Seele, aber bisher war es ihr gelungen, sie ein Weilchen nach hinten zu verschieben. Als ob sie dann eine Antwort gehabt hätte.

Regina seufzte, nahm einen Schluck Kaffee und widmete sich wieder meinsprawl.de und den anderen Seiten, die ihr weismachen wollten, dass man ausgerechnet in Hamburg, Berlin, München oder in irgendeinem anderen versifften Ballungsraum gut leben könnte. Sie schaute sich in dem winzigen Ein-Zimmer-Appartement um, in dem Ben und sie im Moment Unterschlupf gefunden hatten, und musste laut auflachen. Letztlich war es egal, wie die Stadt aussah, auf ihrer Dauerflucht bekamen sie eh nicht mehr zu sehen als brennende Industriegebiete, Verstecke, von denen der hier noch einer der besseren war, und ab und an einen Schnellimbiss, um zwischen den Einsätzen ihres »heiligen Kriegs« etwas in den Magen zu bekommen. Immerhin hatte dieser unstete Lebenswandel sie gut fünf Kilo gekostet. Die Terroristen-Diät. Sie musste dringend mal einen Leserbrief an Bild der Frau schicken. Zum Nachahmen empfohlen.

Ein Geräusch an der Tür. Ohne nachzudenken griff Regina neben sich, entsicherte die 9-mm-Pistole, klappte den Laptop zu, legte ihn neben sich, stand auf und zielte auf den Eingang. Die Abläufe waren ihr von Ben immer und immer wieder eingetrichtert worden, bis sie ein Teil ihres Selbst geworden waren. Sicherungshebel umlegen, Waffe fest mit beiden Händen umgreifen, Ziel erfassen, abdrücken. Am Anfang – auf dem »grünen« Schießstand im Wald – hatte sie bei jedem Schuss die Arme weggerissen, weil ihr Hirn den Rückstoß sozusagen vorweg nahm. Ein Anfängerfehler, der ihr mittlerweile nicht mehr unterlief. Dann klopfte es. Dreimal schnell, zweimal langsam. Sie sicherte die Waffe, steckte sie in den Hosenbund, trat neben die Tür und öffnete. So, dass sie von ihr wegschwang und sie im Ernstfall eine vorgestreckte Waffe schnell greifen konnte. Es war fast lächerlich, welche Abläufe sie mittlerweile automatisiert hatte.

Aber nur Ben stand nun in der Tür, kein Polizist hinter ihm und auch sonst war niemand zu sehen. Sie atmete durch, gab Adonis einen Kuss und ging wieder zu ihrem Sessel und dem Laptop zurück. Wollte sie jedenfalls, doch Ben hielt sie am Arm fest und drehe sie zu sich herum. Mit einem schelmischen Blick schaute er ihr tief in die Augen.

»Ich habe es!«

Sie zog die Stirn in Falten und erwiderte: »Was hast du?« Was für ein Spiel spielte er denn nun schon wieder mit ihr?

Ben drückte sie sanft auf ihren Stuhl, ging vor ihr in die Hocke und strich ihr sanft über das Gesicht. Seine Finger fühlten sich wunderschön an auf ihren Wangen. Sie konnte sich, selbst jetzt nach mehreren Monaten, immer noch in diesem Gefühl verlieren.

»Den Riesenhinweis. Das große Ding, auf das wir so lange gewartet haben. Unsere Fahrkarte im Unsterblichkeitszug. Unsere Chance, mit einem Schlag mehr für die Umwelt zu tun, als mit all unseren bisherigen Aktionen zusammen.«

Er musste ihre Verwirrung spüren, denn er lachte auf und fuhr nahtlos fort: »Dimitri hat diesmal einen ganz dicken Infofisch an der Angel gehabt und mich prompt damit versorgt. Im Norden steigt ein Riesending. Ach, was sage ich?! Gigantisch!«

Sie stand auf, ging zum Kühlschrank und warf ihrem Romeo einen Mango-Ananas-Smoothe zu. Wenn sie schon gejagt wurden und in Sardinenbüchsen leben mussten, konnten sie sich wenigstens ordentlich ernähren. Dafür sorgte sie schon. Denn wenn die Kacke mal wieder am Dampfen war, vergaß Ben sonst so Nebensächlichkeiten wie Essen und Trinken, doch sie kümmerte sich schon darum, dass er seinen Traumkörper halbwegs ordentlich versorgte. So ordentlich, wie das auf der Dauerflucht jedenfalls möglich war.

»Jetzt trink erst mal was, du siehst völlig abgehetzt aus.«

Mit einem dankbaren Gesichtsausdruck leerte er den Obstdrink in einem Zug, redete dann aber – samt orangenem Bärtchen über der Oberlippe – einfach weiter. »Danke. Jedenfalls ist da oben im Norden grad ein heißes Ding am Kochen. So ein paar Wissenschaftsspinner von der UN forschen an Mitteln, um die globale Erwärmung aufzuhalten. Und wie wollen sie das natürlich machen?« Er fuchtelte theatralisch mit den Armen. »Leider nicht, indem sie der Menschheit empfehlen, mal einen Gang zurückzuschalten, mal langsamer zu machen. Und bestimmt auch nicht dadurch, neue Filter in Fabriken einzuführen und Billigflieger zu verbieten.« Seine Gesichtsfarbe war bedenklich rot geworden. »Nein, natürlich nicht. Vielmehr haben sie sich einen Weg ausgedacht, Mutter Natur zu verarschen, indem sie an den natürlichen Schutzschichten der Erde herumspielen und diese verändern.« Er ging zu Regina und packte sie an den Oberarmen. »Das dürfen wir nicht zulassen. Wenn jetzt selbst die UN meint, dass die Erde ein beliebig manipulierbarer Ort sei, dann müssen wir dem Einhalt gebieten. Sofort!«

Regina schaute in das gerötete, verschwitzte Gesicht. Die Bartstoppeln auf den kantigen Zügen gaben ihm eine unwiderstehlich männliche Ausstrahlung und sie spürte förmlich sein Drängen nach ihrer Unterstützung, was jeden Widerstand wegwischte. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

»Okay, Schatz. Also auf in den Norden.«

Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht …

Sebastian zupfte unwillkürlich an seinem Hemdkragen herum, es war schon Monate her, dass er einen Anzug getragen hatte. Irgendein Vortrag auf einer Konferenz, die völlig harmlos ausgegangen war. Er konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen und versteckte es hinter der Hand. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Konferenzraum, in dem er stand. Ein Tisch, an dem mit etwas Zusammenrücken zehn Leute Platz finden würden. Ein Rednerpult, aber vor allem ein Bildschirm, der die ganze Wand ausfüllte. Man fühlte sich eher in die CIA-Zentrale aus einem der bekannten Agentenfilme versetzt, als in einen umgebauten Bunker im Norden Dänemarks. Nun stand er am langgezogenen Konferenztisch, neben sich Melanie und den immer noch geheimnisvollen Weihhausen, der heute Morgen per Hubschrauber eingeflogen war, um die Videokonferenz zu leiten. Der große Bildschirm war in mehrere Abschnitte unterteilt und jedes der sechzehn Quadrate zeigte eine andere Person an einem Schreibtisch sitzend. Alle sahen wichtig aus. Ein Japaner im Anzug hatte netterweise eine Blume auf seinem Tisch drapiert, bei allen anderen sah es so aus, als ob sie um die Sterilität ihrer Büros wetteifern wollten.

Weihhausen räusperte sich und schaffte es so, die Aufmerksamkeit der zugeschalteten Entscheider auf der ganzen Welt wieder auf sich zu ziehen. Seine Kleidung war schlicht und gleichzeitig edel wie immer, wieder einmal ein klassisch schwarz-weißer Anzug, und der schlohweiße Zopf konkurrierte noch immer mit dem sonnengebräunten Teint um ein möglichst strahlendes Ergebnis.

»Nachdem ich Ihnen nun also die wichtigsten Fakten wiedergegeben habe, übergebe ich das Wort an den leitenden Forscher des Experiments, Herrn Sebastian Born.«

Leitender Forscher? Wann war das denn passiert? Sebastian stockte, aber Melanie drückte ihm, unsichtbar für die Kamera, die über dem Bildschirm angebracht war und die Videokonferenz ermöglichte, die Hand und schob ihn leicht vorwärts. Sebastian machte einen Schritt und nickte den Gesichtern auf dem Schirm zu. Manche erwiderten es, andere schauten einfach nur stur zu ihm herüber. Es war unschwer festzustellen, dass er der mit Abstand jüngste Konferenzteilnehmer war. Alle Personen auf dem Schirm waren in hohen Machtpositionen, da kam man nicht mit dreiunddreißig hin.

Sebastian räusperte sich unsicher, dann straffte er die Schultern und begann.

»Wie Sie aus den Ihnen vorliegenden Dossiers entnehmen können, hat das von meinem Team und mir entwickelte Bakterium die Fähigkeit, CO2 binden zu können und dies in einem Ausmaß, das unsere kühnsten Erwartungen übertraf.« Von hinten kam ein Räuspern und Sebastian schalt sich innerlich. Ja, ja. Sie hatten natürlich immer gewusst, was sie getan hatten, zu jeder Zeit, egal ob das stimmte oder nicht.

»Wir schlagen diesem Konsortium daher vor, den unter Punkt 3.7. aufgestellten Teil des Budgets in die Weiterentwicklung unseres Experiments zu verteilen. Davon werden wir, wie unter 4.2. aufgeführt, Drohnen und Sprühvorrichtungen entwickeln, ferner die Bakterien in großer Zahl züchten und anschließend in der ersten Stufe, siehe 5.1., in einem begrenzten Gebiet einen Versuch durchführen.«

 

Der Japaner mit der Blume deutete eine Verneigung an, was sitzend mehr als merkwürdig aussah.

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Herr Born. Aber mir ist aus den Unterlagen noch nicht offenbar geworden, was die Bakterien bewirken sollen.«

Von hinten murmelte Melanie leise ein »Einfach nur lesen, Bürokratenhengst.« und Sebastian nickte dem ergrauten Asiaten zu.

»Vielen Dank für diese Frage. Ich möchte Sie hier nicht mit Fachbegriffen langweilen. Der Kern unseres Experiments ist Folgender. Wir werden das Bakterium in der Höhe der Atmosphäre versprühen, in der der Treibhauseffekt angesiedelt ist.« Er ging ein paar Schritte. »Die mittlerweile in Forschung und Lehre herrschende Meinung ist, dass der von Menschen gemachte Anteil am Treibhauseffekt überwiegt und vor allem CO2-induziert ist. Stichwort ist hier die fortschreitende Industrialisierung. Wir möchten Sie heute bitten, unser Großexperiment zu genehmigen. Damit wären wir in der Lage zu zeigen, dass unser Bakterium eben dieses CO2 in ausreichendem Maße binden und damit unwirksam für den Treibhauseffekt machen kann. Damit könnte der Treibhauseffekt auf das Ausmaß reduziert werden, wie es vor dem zwanzigsten Jahrhundert gegeben war. Dies möchten wir erst einmal in einem begrenzten und damit beherrschbaren Gebiet erproben.«

Eine Südamerikanerin, die auf einem Teilbildschirm in der unteren Reihe zu sehen war, räusperte sich deutlich hörbar und legte ihr strengstes Gesicht auf. »Machtmensch« war das erste Wort, das Sebastian in den Sinn kam.

»Wenn ich Sie also richtig verstehe, sind wir durch das Bakterium, wenn sich Ihre Forschungen bestätigen, in der Lage, den Treibhauseffekt zu beherrschen?«

Sebastian nickte.

»Gut,« fuhr die Dame mit dem khakifarbenen Teint fort, »warum beenden wir ihn dann nicht ganz, anstatt ihn nur zu begrenzen.«

Weihhausen machte einen Schritt nach vorn, stand neben Sebastian.

»Señora Elaya, das wäre nicht empfehlenswert«, richtete er sein Wort sie. Seinen Blick jedoch ließ er über den gesamten Bildschirm gleiten und breitete die Arme aus. »Das wäre sogar vielmehr äußerst destruktiv. Wie mir Herr Born erläutert hat, benötigt die Erde stets einen Treibhauseffekt in geringem Ausmaß. Sonst...« Er nickte Sebastian zu.

Der nahm den Ball auf. »Sonst würde sich wohl nur die Heizdeckenindustrie freuen, denn uns stünde eine neue Eiszeit bevor. Es gab schon immer einen Treibhauseffekt, selbst zu Zeiten der alten Römer. Ohne ihn wäre die Erde längst ein Eisblock im Weltall. Daher ist unser Ziel ›nur‹«, und er zog das letzte Wort in die Länge, »den Effekt wieder auf das Ausmaß zurückzuführen, bevor der Mensch massiv in das Klima eingriff. Wenn sie so wollen«, er machte eine Geste, als würde er einen Knopf drücken, »setzen wir den Treibhauseffekt nur wieder auf sein Grundniveau zurück. Wir resetten ihn.«

Melanie meldete sich nun ebenfalls zu Wort. »Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Born.« Sie nickte ihm zu und wie abgesprochen ging er ein paar Schritte zurück und überließ ihr die Bühne. »Wie Sie Abschnitt 3 entnehmen können, sind die Kosten zwar überschaubar, aber sie übersteigen für ein Einzelexperiment die 15-Prozent-Grenze des Jahresbudgets, daher sitzen wir heute zu dieser damit vertraglich notwendigen Abstimmung zusammen. Wir hier vor Ort sind von der Notwendigkeit der Ausweitung dieses erfolgversprechenden Strangs der Experimente absolut überzeugt. Natürlich werden alle anderen Forschungsgruppen weiterhin an ihren Ansätzen weiterarbeiten. Wir waren uns bei Gründung alle einig, einen Multi-Ansatz zu fahren.« Sie schaute in die Runde. »Auch wenn die Kosten natürlich ein wichtiger Punkt sind, erscheinen sie uns gerechtfertigt. Denn eines sollten wir uns klar vor Augen führen. Das Experiment von Born und seinen Kollegen ist, sollte es gelingen, ein echter Durchbruch und löst eines der größten Probleme der Klimadiskussion, den Treibhauseffekt, so dass wir uns den anderen Problemen mit mehr Ruhe und auch mehr Rückhalt aus unserer Bevölkerung widmen können.« Sie machte eine Kunstpause. »Die Menschen wenden sich hilfesuchend an uns, ihren Regierungen. Und während sie dabei vom sommerlichen Wind mitten im Winter umstrichen werden, fragen sie sich, was wir eigentlich tun, um ihnen zu helfen. Bitte lassen Sie daher Ihre Vorbehalte fallen, die uns vor dieser Konferenz zu Ohren gekommen sind und bejahen Sie unseren Antrag. Vielen Dank.«

»Gibt es noch weitere Fragen, die vor der Abstimmung geklärt werden sollten?« Weihhausen schaute in die Runde und breitete seine sonnengebräunten Hände aus. Keine Stimme regte sich, einige schüttelten den Kopf.

»Gut, dann lassen Sie uns bitte zur Abstimmung schreiten.«

Nach und nach leuchteten grüne und rote Lämpchen über jedem Bildschirm auf. Sebastian zählte hektisch nach. 10 grüne, 6 rote. Reichte ein Mehrheitsentscheid?

Weihhausen wartete einen Moment, bis sich jeder von der Abstimmung überzeugt hatte, dann fuhr er fort, nicht ohne einen gewissen Triumph in der Stimme. »Ich danke Ihnen für Ihre Weitsicht, das Projekt zu genehmigen. Damit beende ich die heutige Konferenz, wir werden Sie über den Fortschritt des Experiments natürlich zu jeder Zeit unterrichten.«

Offensichtlich hatte es genügt. Die Bildschirmausschnitte wurden nach und nach dunkel und als der letzte erlosch, drückte Melanie Sebastian einen Kuss auf die Wange.

»Du hast es geschafft! Du darfst weitermachen!«, flüsterte sie ihm ins Ohr und Sebastians Knie wurden weich, während im Schauer über den Rücken liefen. Damit hatte niemand rechnen können. Ein fehlgeschlagenes Experiment war nötig gewesen, um die eigentliche Fähigkeit der Bakterien, seiner Bakterien, aufzuzeigen. Er grinste. Das Schicksal nahm manchmal schon merkwürdige Wege.

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