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Momentum



Die Sachen waren wie von allein in den Rucksack gekommen, sie konnte nicht einmal sagen, wann genau sie mit dem Packen begonnen hatte. Das war noch in einem anderen Leben gewesen. Eine ganz andere Person hatte das gemacht, eine, die Lin noch nicht kannte und nicht wusste, wie lange sie es in Wien aushalten würde. Ob sie vielleicht doch ihr Studium oder ein anderes Studium wieder aufnehmen würde. Zu einer Zeit, als alles möglich gewesen war, weil nichts sie zu halten vermochte. Es hatte sich eine Unzufriedenheit eingeschlichen, die beständig an ihr nagte, und die die Tür weit offen gelassen hatte für die unterschiedlichsten Ängste. Vor fremden Menschen, bekannten Menschen, vorm Alleinsein, davor, immer seltsamer oder nie jemand anderes zu werden. Mit dem Packen aufgehört hatte sie nie, ständig kam etwas Neues hinzu. Auch jetzt fiel es ihr schwer, die Arbeit als beendet anzusehen, dabei beulte und wölbte sich der Rucksack bereits.



Sie hatte den Rucksack nur gekauft, um ihn vollzuräumen, und er hatte seit dem Rückweg vom Bergsteigerfachgeschäft kaum Tageslicht gesehen. Seine Chancen, je einen Gipfel zu erklimmen, standen schlecht. Dass Geld ihr völlig gleichgültig war, machte die Sache einfach. Der Rucksackfachverkäufer hatte gleich durchschaut, dass Judith keine Ahnung vom Wandern hatte, und ihr mithilfe fragwürdiger Argumente das zweitteuerste Modell verkauft. Wahrscheinlich ein guter Tag für ihn. Er hatte ihr zehn Kilo Gewicht, zwei Sandsäcke, hineingepackt und sie damit durch den Laden trotten lassen. Andere Rucksäcke, meinte er, brauchte sie gar nicht erst probieren. Sie widersprach nicht, zog an den vielen Strippen und korrigierte ihre Haltung, bis die zehn Kilo sich anfühlten wie eines. Am Ende ging sie außerdem mit einer Flasche aus gebürstetem Edelstahl und Tabletten zur Reinigung verseuchten Trinkwassers aus dem Laden.



Ein Löffel, eine Strickjacke und Unterwäsche für einige Tage. Zwei, drei Briefe von Maren, die ihr mal ungeheuer nah gewesen war und die vielleicht noch immer in der Stadt lebte, aus der auch Judith kam. Es waren nicht die letzten Briefe, jene, die Judith nicht beantwortet hatte. Sondern irgendwelche aus den Jahren davor, als alles noch in Ordnung gewesen war. Sie fragte sich, ob Marens Handschrift noch dieselbe war und ob sie immer noch Briefe schrieb. Ihre eigene Handschrift hatte sich über die Jahre wenig verändert, auf den zweiten Blick bemerkte man allerdings, dass ihre Schrift irgendwie altersschwach geworden war. Es fühlte sich schließlich anders an, mit der Hand zu schreiben, wenn man es nicht oft tat. Die Finger waren es nicht mehr gewohnt, einen Stift zu halten, und sie schienen vor Verwunderung starr zu werden, wenn sie es doch dann und wann tun mussten. Ein Ring, der ihr zu irgendeinem speziellen Anlass geschenkt worden war, landete ebenfalls im Rucksack; sie hatte ihn schon als Kind bekommen und nie getragen, er war ganz unbemerkt wichtig geworden, wie er so in seinem Kästchen lag und auf seinen großen Einsatz wartete. Ihr Reisepass, noch neun Jahre gültig, danach würde ihr schon etwas einfallen, war auf eine andere Art wichtig und als einziges Gepäckstück in der Zwischenzeit immer wieder aus dem Rucksack hervorgekommen. Für Berlin, für die Bank. Danach hatte Judith ihn immer sofort wieder eingepackt, immer an die gleiche Stelle.



Für Geld hatte sie nicht gesorgt, es war ihr einfach zuwider, auch nur daran zu denken. Und so vertraute sie darauf, dass sie mit einem ausreichend gefüllten Geldbeutel aufbrechen würde, wenn es soweit war. Kurz hatte sie überlegt, die von den Reisen und Forschungsaufenthalten übriggebliebenen Dollar- und Pfundnoten aus Lins Schublade mitzunehmen, zumal sie dieser ohnehin nicht fehlen würden. Den Gedanken verwarf sie schnell. Willkürlich Fremdwährungen einzupacken wäre übertrieben gewesen. Eher zum Spaß packte sie die Trinkwassertabletten und ihre Nobelflasche ein. Außerdem ein Stück Seife, das angenehm roch, ohne dass man sagen konnte, wonach. Im Lauf der Zeit duftete auch der Rest ihres Gepäcks danach; sie mochte, wie eins ins andere überging. Eine grobe und eine feinere Feile hatte sie irgendwann wieder ausgepackt, genau wie die Schale aus Olivenholz. Aber die Schale war zuletzt doch wieder in den Rucksack gewandert, vielleicht, damit der Löffel nicht so allein war, und ein Tuch, das man als Geschirrtuch verwenden konnte, zum Schnäuzen oder um sich damit abzutrocknen. Außerdem ein etwas Größeres, ein Hamam-Tuch, mit dem man sich zudecken oder es als besonders warmen Schal verwenden konnte. Die grünen Schnürsenkel, das Heftchen mit Nadeln und Zwirn und die Schere mit den zu kleinen Augen. Die Feilen waren im letzten Moment doch wieder zurückgekommen. Judith leistete keinen weiteren Widerstand und schob sie so tief wie möglich hinein, so dass sie wenigstens nicht das Erste waren, was sie auspacken würde. Über die unteren Schichten des Rucksacks war sie sich nicht mehr im Klaren, aber sie vertraute darauf, dass sie nichts eingepackt hatte, was sich später als überflüssig erweisen würde und dass sie nichts Wesentliches vergessen hatte.



Der Rucksack war auch wie von allein mit ihr zur Arbeit gekommen, als hätte er geahnt, dass seine Zeit bald käme. Sein Gewicht schwand tatsächlich, wenn man an den richtigen Gurten zurrte. Judith musste sich an den Trägern festhalten, um zu spüren, dass er da war. Es war noch dämmrig und eine müde Ruhe lag über den Straßen. Wer jetzt schon unterwegs war, war wie nach innen gestülpt. Sie ging die Treppe in die Werkstatt hinab, stellte den Fuß auf der losen Stufe etwas schräg, damit sie nicht zu sehr wackelte. Alles eine Frage der Balance.



»So viele Handwerker und keiner repariert vor der eigenen Haustür«, hatte Milo gesagt. Tatsächlich hatten sich alle schon so sehr an die wacklige Stufe gewöhnt, dass sie ihnen nicht mehr kaputt erschien. Auch für Judith gehörte sie an diesen Ort, ohne wacklige Stufe wäre er nicht derselbe. Genauso war die Werkstätte von der Tür geprägt, die man mit dem ganzen Körper öffnen musste, weil sie so viel Widerstand leistete. Wenn man allerdings zu viel Kraft aufwendete, flog sie mit unerwartetem Schwung auf. Stufe und Tür hatten sich gegen neue Kunden verschworen. Manche stolperten erst hinunter und dachten daraufhin, die Werkstatt sei zugesperrt. Andere traten mit so viel Elan ein, dass sie fast auf der anderen Seite des Raumes landeten, mit Staunen und Schrecken im Gesicht. Manche fluchten. Milo nahm das zur Kenntnis, mehr nicht. Er hatte schon zu viel mit Menschen erlebt, als dass ihn Kundschaft aus dem Konzept bringen könnte.



Momentum, dachte Judith jedes Mal, wenn sie am Morgen durch die Tür schwang. Ein Übergangsritual, um ja nicht zu nahtlos von der einen in die andere Welt zu wechseln. Wenn die Feilen und Hobel, Pinsel und Schnitzeisen ihr zur Begrüßung zugenickt hätten, wäre sie nicht weiter verwundert gewesen. Als Erstes setzte sie Wasser auf und kochte Tee.



Die stehende Säge sah ihr erwartungsfroh zu. Sie war als erste an der Reihe, es war neues Holz gekommen, und neues Holz wurde als erstes zu kleinerem neuen Holz verarbeitet. Dann ging der Kreislauf weiter, einmal durch die gesamte Werkstatt, von Maschine zu Maschine, von grob zu fein und schließlich von fein zu hübsch.



Warme Hände waren das Wichtigste, sonst konnte man das mit der Präzision sofort vergessen, und Judith war immer die Erste, die die filigranen Arbeiten übernahm, die kleinen Sachen, bei denen man sich keinesfalls verhobeln durfte. So viel wie möglich arbeitete sie händisch. Milo war Geld halbwegs egal, dennoch hielt ihn etwas davon ab, den Betrieb nach und nach zu automatisieren und auf Computertechnologien umzustellen – so wie andere das machten, die dann am Tagesende mit sauberen und splitterfreien Fingern heimgingen, weil sie hauptsächlich programmiert hatten und nur sehr wenig gesägt, und noch weniger gefräst. Der Rucksack wanderte in einen toten Winkel unter der Werkbank, die Judith mehr oder weniger allein gehörte, und machte es sich im Sägemehl bequem.



Judith setzte sich mit ihrem Tee an Milos Schreibtisch unter dem Fenster. Dass die Werkstatt im Souterrain lag, hielt Judith für mit das Beste an ihrer Arbeit. Von hier hatte man einen einmaligen Blick auf die Stadt, aus einem so ungewohnten Winkel, dass der Sehsinn ihn nicht mehr automatisch geraderücken konnte. Draußen lief ein Paar glänzend schwarzer Stiefel mit flachem Absatz vorm schmutzigen Fensterglas entlang. Es wurde immer geschäftiger auf der Straße. Ein zotteliger Hund schaute kurz zum Fenster hinein, roch an dem Gitter davor und trabte weiter, einem ungeduldigen Paar Nike Air Max hinterher. In ein paar Minuten würde sie Milos Platz räumen und an ihren eigenen gehen müssen.



Einige Briefe lagen noch verschlossen auf der Tischplatte verteilt. Es war schwer, nicht auf die Absender zu schielen. An der feindseligen Schreibmaschinenschrift erkannte sie aus dem Augenwinkel, dass das meiste Amtspost sein musste. Manche Holzarten ließen sich lesen wie Braille. Sie strich über den Tisch, fuhr mit den Fingerspitzen die Maserung entlang bis zu ihrem Ende, eine lange gerade Straße Richtung Rand der Welt. Sie fegte eine Büroklammer darüber hinaus und schob sie mit der Stiefelspitze weiter, bis in einen Spalt im Parkett hinein. Dort unten, in den Grundfesten des Hauses, würde sie wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit überdauern, selbst wenn noch an diesem Tag der Dachstuhl Feuer fangen und alles bis zur Werkstatt niederbrennen würde.



Milo stellte eine Pappkiste auf Judiths Werkbank ab und sah sie an, als wollte er sich dafür entschuldigen. Wie immer wartete er, bis jemand anderes etwas sagte, ehe er zu sprechen begann.



»Was ist das?«, fragte Judith.



»Arbeit. Ohne Witz. Mieser Auftrag, aber ganz okay bezahlt. Also eigentlich wie immer, nur andersrum. Lautet: Bitte die zerbrochenen Möbel restaurieren. Und Susan Sontags Schreibtisch gleich ganz ersetzen, der ist nämlich in der Mitte durchgebrochen und gesplittert, ist nicht zu retten. Kannst du das machen? Wenn du das nämlich nicht kannst, kann’s wahrscheinlich niemand. Jedenfalls niemand von uns. Müsste ich dann jemand anderen empfehlen für den Job, kann man nichts machen.«

 



»Das ist kein normaler Job.«



»Nein. Wir machen das trotzdem, hab ich gesagt. Geld ist Geld. Und Spezialisten gibt’s nicht für sowas, beziehungsweise ist da jeder Spezialist, der weiß, wie man was leimt.«



»Ich weiß, wie man was leimt.«



»Und wie man was restauriert.«



»Ich bin genau dein Mann, Milo.«



»Dann weiß ich nicht, worüber wir hier noch sprechen sollen, schau es dir an.«



Judith schaute mit den Händen; kramte sich mit vorsichtigen Fingern durch die Kiste. Die einzelnen Stücke waren in Zeitungspapier gewickelt, jedes Paket gab ein geschrumpftes Möbelstück frei. Im Grunde sahen die Möbel ganz gewöhnlich aus; wenn man sie mit dem richtigen Objektiv vor einem neutralen Hintergrund fotografieren würde, wären sie nicht von Menschenmöbeln zu unterscheiden. Sie konnte nicht aufhören, sich über die Hobbys anderer Leute zu wundern.



In einem Briefumschlag fand sie Fotos berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller an ihren Arbeitsplätzen und die detaillierte Skizze einer Art Puppenhaus, in dem all diese Räume unter einem Dach versammelt waren. Der alte Traum von einer Künstlerkommune, praktischerweise ganz ohne Kommunarden.



»Klar, übernehme ich«, sagte sie. »Was ist mit dem Haus dazu?«



»Habe ich noch im Wagen. Sieht eigentlich ordentlich aus, hat sogar Parkettfußböden und richtige Tapete.«



Milo war ein weiser Mann und ein guter Geschäftsmann. Er sagte nie Nein zu einem Auftrag, selbst dann, wenn sich viele Leute in die Werkstatt verirrten, die nicht wussten, dass sie nicht einmal auf der Suche nach einem Tischler waren oder die den Unterschied zwischen Bau- und Möbeltischlern nicht kannten, oder dass man fürs Restaurieren streng genommen eine richtige Ausbildung braucht. Er konnte viel, was er nicht konnte, improvisierte er. Wenn etwas schiefging oder er auf halbem Wege merkte, dass er für die jeweilige Aufgabe nicht das richtige Gerät hatte oder nicht das richtige Wissen, entschuldigte er sich. Viele der Stammkunden kamen aus Mitgefühl wieder. Oder weil sie von Milo gemocht werden wollten, alle wollten von Milo gemocht werden, man spürte bereits an seinem festen warmen Händedruck, dass er ein Freund sein konnte, wenn er wollte. Andere kamen nie wieder, wenn sie den Laden einmal verlassen hatten, das lange Gesicht voran. Die gehen jetzt einem Regalkonfigurator auf die Nerven, sagte er dann. Handwerk war ein sehr persönliches Geschäft, erst recht Holzhandwerk. Entsprechend oft war man persönlich beleidigt, wenn man aus der Werkstatt ging. Das galt für alle, für die Kundschaft wie für die Angestellten, nur Milo war nie persönlich beleidigt, ihn beleidigte nur der Zustand der Welt und die Verkommenheit der Menschheit.



Erstmal sortieren, dachte Judith und suchte sich in der Werkstatt ein paar Kartons zusammen, die sie mit den Namen der Schriftsteller versah. Dann schrieb sie alle Einzelteile, die sie hatte, auf eine Liste, verglich sie mit der Skizze und ordnete sie den Leuten zu. Neben Susan Sontags entzweitem Schreibtisch gab es einige Stühle in ähnlich schlechtem Zustand und manche Möbel fehlten ganz. Die Telefone sahen alle identisch aus, ungeachtet der Epoche und des Herkunftslandes der Bewohner. Was für ein Durcheinander es gäbe, wenn Ingeborg Bachmanns Telefon in Adolfo Bioy Casares’ Büro läuten würde. Noch schlimmer waren die zwei überzähligen Wählscheibentelefone, für die sie extra eine Schachtel mit der Aufschrift »Anonym« versehen musste. Puppenhäuser sollten Keller und Dachböden haben für solche Fälle, dachte Judith, was für ein Konstruktionsfehler. Aus einem Zahnstocher und etwas Watte bastelte Judith einen winzigen Staubwedel und machte sich ans Werk.



Es war auch kein knie- oder allenfalls hüfthohes Puppenhaus, sondern eines, bei dem man bequem im Stehen in die oberste Etage schauen konnte. Für etwas so Kleines war es viel zu groß. Der Begriff Puppenhaus war vollkommen falsch für dieses verkleinerte Habitat, in dem es alles gab, außer Puppen. Für Kinder musste so etwas ungeheuer langweilig sein. Es war eindeutig der ernsthaften Formstrenge eines Erwachsenengehirns entsprungen und bildete eine Erwachsenenwelt ab, eine, in der gearbeitet, geraucht und getrunken wurde, wo viel gelitten wurde, gelacht, geklagt und wenig gespielt. Wenn überhaupt gespielt wurde, dann um Geld oder Ehre. Judith würde sich ein neues Wort einfallen lassen müssen, aber dafür war noch Zeit; möglicherweise kam ihr während der Arbeit eine Idee. Vielleicht war es einfach ein Hausmodell oder Modellhaus, so ähnlich wie Architekten es anfertigten. Den Gedanken, dass sie unter Umständen doch den Beruf verfehlt hatte, schob Judith so achtlos wie möglich beiseite. Gut möglich, dass dieses hier ganz einfach ein Zwischending war, ein puppenloses Puppenhaus, ein Ohnepuppenhaus, eine Nachbildung ohne Vorbild. An einem gewöhnlichen Puppenhaus hätte Judith nie Gefallen gefunden, dieses hier zog sie dagegen sofort in seinen Bann. Ein kleines leeres Universum, in dem sie sich zuhause fühlte, ohne Teil von ihm zu sein.



Die nächsten Tage wurden von der Arbeit völlig aufgesaugt, sie blieb noch länger als sonst in der Werkstatt, sparte sich die Mittagspause und hing daheim ihren Gedanken an die kleinen Möbelstücke nach. Sie lernte ständig etwas Neues über Holz und über ihre Arbeit. Zumal kleine Stücke so ganz anders waren als große, andere Fähigkeiten von ihr verlangten und neue Bewegungen. Sie besaß jetzt ein beleuchtetes Vergrößerungsglas und stellte so viele Lampen auf, dass ihr kein Staubkorn und kein Splitter entging. Jeden Winkel des Hauses nahm sie unter die Lupe, ölte, schliff und leimte, schnitzte und sägte und fluchte und freute sich.



Die Arbeit schien kein Ende zu nehmen, immer fielen ihr neue Details auf, derer sie sich annehmen konnte. Dass die Wählscheibentelefone keine Kabel hatten, konnte sie nicht auf sich beruhen lassen. Und wo ein Kabel war, musste auch eine Steckdose sein. Sie legte sich Floristendraht und weiße Modelliermasse zu. Außerdem kaufte sie eine ausgesprochen kleine Schraubzwinge, heimlich, von ihrem eigenen Geld. Ihre Hände wurden immer ruhiger. Die Kabel von den Telefonen zur Steckdose waren schnell zugeschnitten und ließen sich leicht verlegen. Diskret zwischen Tisch und Wand, wie in den echten Zimmern; sie stellte etwas her, um es unsichtbar zu machen, die größte Befriedigung, die sie in ihrer Laufbahn erlebt hatte. Anders verhielt es sich mit den Kabeln zwischen Telefongehäuse und Hörer. Judith wickelte den Draht in engen Spiralen um einen Nagel. Zum Schluss malte sie den kupferfarbenen Draht schwarz an, mit einer dicken matten Acrylfarbe. Ein paarmal vermalte sie sich, anfangs trug sie die Masse ständig zu dick auf, so dass das Ergebnis unsauber war. Im Mülleimer sammelten sich die Versuche. Nun hatte sie es raus, wickelte und malte im Akkord. Am besten und schlimmsten war das Warten, bis die Farbe getrocknet war. Keine Herausforderung war so groß wie eine Geduldsprobe. Als sie alle Telefone angeschlossen hatte, fertigte sie aus dem übriggebliebenen Floristendraht Ersatzkabel an. Man konnte nie wissen. Die Ersatzkabel kamen in eine Ersatzkabelkiste, die wunderbar auf den Dachboden der Kommune gepasst hätte, wenn es einen gegeben hätte. Sie fand einen sehr feinen Rapidograph auf Milos Schreibtisch und beschriftete die Kiste mit den kleinsten Buchstaben, die man sich vorstellen konnte.



Sie bekam einen Katzenbuckel, wie sie so über die Miniaturen gebeugt an ihrem Werktisch saß, mit eingefallenen Schultern. Sie gefiel sich so, die Arbeit entsprach ihr. Es war die ideale Aufgabe für Judith; ohne sich größenwahnsinnig vorzukommen, wusste sie, dass niemand hier dies so gut konnte wie sie.



»Was bist du eigentlich von Haus aus, Zahntechnikerin?« fragte Milo sie einmal. Hinten in der Werkstatt röhrte ein Lachen. Judith drehte sich zu ihm um und schwenkte mit der Lupe nach ihm.



»Ich bin Zahntechnikerin avant la lettre, ich habe Zahntechnik im Restaurationskurs gelernt, ich bin die beste Zahntechnikerin des ganzen Tischlereigewerbes!«, sagte sie, es sollte eindrucksvoll klingen. Sie bückte sich wieder über ihren Draht und ihre Pinzetten- und Wattestäbchensammlung. Milos Schritte entfernten sich. Jede Säge und jede Schraubzwinge in der Werkstatt zollten ihr leise Respekt.



Sie entdeckte Fehler im Modell – Abweichungen von den beigelegten Fotos oder Einzelheiten, bei denen der Maßstab verrutscht war. Ein Schreibtischsessel war zu klein, niemals könnte Ismail Kadare darin Platz nehmen. Sie fertigte einen neuen an; den Zwergsessel ließ sie diskret verschwinden. Sie legte ihn in die Säcke mit den giftigen Abfällen, in denen Lacke oder Furniere entsorgt wurden, die man nicht mehr zu Holzpellets pressen konnte. Da hinein schaute niemand, die verschwanden einfach, niemand wusste so recht, wohin. Mit dem neuen Sessel war sie sehr zufrieden, er war das beste Stück im ganzen Haus. Der abwesende Kadare sollte es bequem haben. Wenigstens an seinem Schreibtisch.



Es ging das Gerücht, dass Ludwig Wittgenstein beim Bau des Hauses für seine Schwester Margaret Stonborough-Wittgenstein im letzten Moment Zweifel an der Wahl der Deckenhöhe bekommen hatte und die Etagen ku

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