Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Ein Meer von Fragen und leeren Karten

Ich saß im Schatten unter dem Vordach unseres einfachen Hauses. Auf meinen abgeschürften Knien ruhte ein vergilbtes Blatt Papier, den eingetrockneten Federkiel bewegte ich zwischen meinen Fingern wie ein Taschenspieler. Seit heute hatten die Pforten der Schule wieder geöffnet. Nach Cyrians Tod waren sie tagelang zum Zeichen der Trauer verschlossen geblieben.

Cyrian war der einzige Sohn von Recking, dem Bauern. Er hatte aus einem groben Holzblock Figuren von erlesener Schönheit schnitzen können, die unsere Händler für ihn verkauften. Seine Hände hingegen waren zu ungelenk, um Felder zu bestellen. Als die Ernte nicht genug einbrachte, nahmen die Herren von Kandalar seine Mutter und die kleinere Schwester mit auf die Burg. Und jetzt war er tot. Es war nicht so, dass der Ältestenrat von Gullorway tatenlos zusah. Unzählige Male hatte er die Hilfe von Abylane, Alebas oder der Goldenen Stadt Timno Theben erbeten, die über bewaffnete Kohorten verfügten. Doch waren diese mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Stattdessen gemahnten uns ihre Clanführer zur Vorsicht und das wir eben die Augen offenhalten sollten. Es gab keine Unterstützung. Im Umkreis von mehreren Tagen gab es kein einziges Dorf, keine Stadt. Während sich im Westen der Fluss Mukonor in den undurchdringlichen Sümpfen von Greenerdoor verlor, gab es im Osten nur das Bergmassiv der Ellar Hills, mit dem unbesiedelten Merdoran und Kandalar. „Avery, träumst du wieder?“ Wie von weit her drang Charise’ ungehaltene Stimme zu mir ans Ohr, dabei stand sie nur zwei Schritte weit entfernt. Gebieterisch baute sie sich vor mir auf. „Hallo? Jemand zu Hause?“ Sie wedelte mit ihren grazilen Fingern vor meinen Augen, um meine Aufmerksamkeit endlich auf sich zu lenken . „Ja, du bist ja nicht zu überhören“, maulte ich. Ich zog die Hosenbeine wieder über die verschorften Knie. Das Blatt Papier, auf dem ich soeben noch einen Vogel gekritzelt hatte, ließ ich unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden. „Ich könnte deine Hilfe auf dem Feld gut gebrauchen.“ Abwartend stand sie mit verschränkten Armen vor mir. „Wenn’s keine Umstände macht“, setzte sie schnippisch hinzu. Eine Dohle flog über Charise hinweg, einen Kotklecks auf ihrer Schulter hinterlassend. „Igitt!“, stieß sie angeekelt aus und blieb wie versteinert stehen. „Soll Glück bringen“, brachte ich hervor, dabei konnte ich meine Überraschung kaum verbergen. Mit dem zerknüllten Papier wischte ich ihr den Unrat von der Schulter. Charise schlug meine Hand fort, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon. Ich ließ sie vorerst ziehen. Wenn sie in dieser Stimmung war machte es keinen Sinn mit ihr zu reden. Mit einem ausgeleierten Haarband versuchte ich meine störrische, kupferne Lockenpracht zu bändigen und unter dem abgewetzten Strohhut zu verbergen. Mutter hatte meiner Schwester und mir eingeschärft, unser rotes Haar nicht zur Schau zu tragen. Niemand sonst hatte rotes Haar und sie wollte nicht, dass man uns deswegen das Leben schwer machte. Wie gern hätte ich es mir einfach kurz geschnitten, damit es besser unter den Hut passte. Doch das würden meine Eltern und vor allem Charise, niemals zulassen. „Deine Haare hätte ich gern“, sagte sie oft, wenn sie vor dem Spiegel stand und wieder einmal trotzig versuchte, etwas aus ihren glatten, wie von Rost durchzogenen Haaren zu machen. Rasch erneuerte ich noch den Sonnenschutz auf meinen Armen mit Lehmpunsch, einem Gemisch aus Lehm und diversen Kräutern. Meine Erfindung. Der Brei kühlte die Haut und bewahrte sie vor dem Austrocknen. Außerdem hinterließ Lehmpunsch einen bronzefarbenen Teint, fast wie gebräunte Haut – was mir persönlich lieber war, als meine blasse Haut mit den versprengten Sommersprossen darauf. An der Konsistenz musste ich allerdings noch ein wenig feilen. „Da bist du ja endlich.“ Ihre Augen sprühten immer noch Funken, doch dann gab sie sich beherrschter. „An der Überleitung zum Verteilerding ist irgendetwas leckgeschlagen.“ Breitbeinig stand sie mit dem Rücken zum Maisfeld, die schweißnasse Stirn in Falten gelegt und auf den Fußballen wippend. „Es wird der Kippschalter sein, der den Zufluss zu den einzelnen Wasserrohren regelt“, überlegte ich kurz. „Sag ich ja, Kippschalter.“ Charise sah mich ungeduldig an. „Kannst du da was machen?“ Vermutlich. Schließlich hatte ich die Bewässerungsanlage ja entwickelt und mit aufgebaut. Ich flocht ein notdürftiges Band aus Schilf und Tampur, einer wasserabweisenden Großblattpflanze und surrte es um die defekte Leitung fest. „So müsste es eine Weile halten.“ „Meinst du wirklich?“ Charise blickte skeptisch auf die geflickte Stelle. Vorsichtig betätigte sie den Kippschalter, um das kostbare Wasser, welches wir dem Mukonor entnahmen, nicht zu vergeuden. Leitungen aus Bambusrohren führten vom Fluss zu den Feldern und verzweigten weiter zu mehreren Wasserreservoiren im Dorf. „Die Zeit wird knapp. Wir haben höchstens noch eine halbe Stunde zum Bewässern.“ Seit Monaten hatte es in Gullorway nicht mehr geregnet. Der Ältestenrat hatte daher das Wasser rationalisiert und für jede Familie genaue Zeiten für die Bewässerung festgelegt. Jeder Ausfall, aus was für Gründen auch immer, ging von der Bewässerungszeit der einzelnen Clanmitglieder ab, ließ die eigenen Felder damit fortwährend trockener werden. Die vorhandenen Brunnen waren mittlerweile auch größtenteils versiegt. Der Wasserstand des Mukonor sank zudem alarmierend. Als das Wasser wieder floss, gingen wir zu den bereits geschnürten Jutesäcken mit Sorghum, einer neuen Getreidesorte, die für die Gegebenheiten unserer trockenen Region optimal geeignet schien. Wir luden die letzten Säcke auf die bereitstehenden, altersschwachen Lastkarren und spannten die ausgemergelten Pferde davor. Mit erhobenem Daumen gab ich Miles das Zeichen, dass er abfahren konnte. Er ließ die Peitsche durch die Luft schnellen, dann setzten sich auch die anderen Karren in Bewegung Richtung Getreidesilo. „Kommst du heute Abend noch mit zu Denian und den anderen?“, fragte Charise mich. Sie verbrachten mehr Zeit miteinander, als es meinen Eltern lieb war. Aber Charise war schließlich erwachsen, wie sie nie müde wurde zu betonen. Wahrscheinlich würden Denian und sie heiraten, wenn Charise nur lange genug Gefallen an ihm fand. „Ich weiß noch nicht“, wand ich mich. „Ach komm schon, Avery. Es ist der siebte Tag der Woche und Miles wird sicher auch da sein.“ Miles wiederum war mein Freund. Wir gingen zusammen durch dick und dünn, wenn auch eher wie Bruder und Schwester. Heute jedenfalls war mir irgendwie nicht nach Gesellschaft zumute. Eine innere Unruhe hatte mich ergriffen, deren Ursprung ich mir nicht erklären konnte. Wie bei einem Gewitter, von dem man weiß, dass es Spuren in der Natur hinterlassen wird. Ich nahm mir vor, heimlich darin lesen. Seit dem Überfall der Herren von Kandalar hatte ich den Stein nicht mehr angerührt aus Angst vor Entdeckung. Doch hatte meine Mutter andere Pläne mit mir. Da Charise sich bereits geschickt aus dem Haus gestohlen hatte, blieb die Küchenarbeit mal wieder an mir hängen. Geduldig faltete ich mit meiner Mutter Wäsche zusammen, räumte das Geschirr in den Küchenschrank, schrubbte die derben Holzböden. Anschließend reparierte ich im Schuppen gemeinsam mit meinem Vater eine Dachlatte, damit es nicht hereinregnen konnte. Letzteres hätte sicher noch ein paar Wochen Zeit gehabt, da noch immer kein Regen in Sicht war. „So, jetzt kann der Regen kommen“, sagte mein Vater doch prompt, kletterte von der Leiter herunter und sah mich mit einem verschmitzten Lächeln an. „Wenn ich dich nicht hätte.“ Väterlicher Stolz breitete sich auf seinen Gesichtszügen aus. Ich zuckte nur mit den Schultern, wollte den Schober schon verlassen, als er mich zurückhielt. „Hast du noch einen Moment Zeit, Avery?“ Versonnen strich er sich über das immer noch volle Haar, fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Was konnte es jetzt noch geben? „Setz dich doch.“ Seine Augen rollten unruhig hin und her. „Wir … der Rat braucht deine Hilfe.“ Prüfend sah er mich an. „Der Rat? Ist das Versammlungshaus renovierungsbedürftig?“ Er schüttelte lachend den Kopf. Es klang unsicher. „Nein, das nicht. Es ist eher etwas Politisches.“ „Inwiefern?“ „Wir brauchen deinen Rat.“ „Meinen Rat?“ Jeder andere hätte sich jetzt vielleicht geschmeichelt gefühlt, bei mir gingen jedoch sämtliche Alarmglocken an. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er den Schlaf vertreiben. Mit einem Mal wirkte er sehr erschöpft. Dann, als hätte er eine Entscheidung getroffen, stellte er die Frage, die offensichtlich auf seinen Lippen brannte. „Könntest du für uns deine Karten legen?“ Das überraschte mich nun wirklich. „Wie sollten meine Karten gegenüber der Lebenserfahrung eurer Ältesten etwas voraushaben?“ „Sie – sind objektiver“, stieß mein Vater hervor. „Du, willst die Karten gelegt haben, nicht der Rat. Stimmt’s?“ Er sah mich lange an, bevor er antwortete. „Was bist du doch für ein kluges Köpfchen.“ „Hm. Was willst du wissen?“ „Sag du es mir durch deine Karten.“ Für mich sprach er in Rätseln. Irgendetwas schien ihn so stark zu beschäftigen, dass er es weder vor dem Rat noch vor meiner Mutter aussprechen konnte. Die Reparatur der Dachlatte war also nur ein Vorwand, mich unter vier Augen sprechen zu können. Das machte mir Angst und meine dunkle Vorahnung stellte sich wieder ein. „Ich brauche einen Anhaltspunkt, irgendwas.“ Er schüttelte nur den Kopf. „Ich kann dir nichts sagen. Aber“, er griff in seine Hosentasche und zog ein Päckchen mit abgegriffenen Karten hervor. Meine Karten. „Wo hast du die her?“, zischte ich ihn an. Ich mochte es nicht, wenn meine Eltern hinter meinem Rücken in meinen Sachen wühlten. „Tut mir leid, aber die Zeit drängt.“ „Du hättest mich fragen müssen“, blaffte ich ihn an. Sie gehörten nicht in andere Hände. Sie waren auf mich geprägt. Solche Karten hatte man ein Leben lang. Man spielte nicht mit ihnen um Geld beim Wein. Von ihnen ging eine besondere Kraft aus. Resigniert schloss ich die Augen, atmete tief durch. Langsam beruhigte ich mich wieder. „Wirst du sie mir legen, Avery?“ Fast flehend beschwor er mich. Was war nur in ihn gefahren? Ein Mann wie ein Baum. Mit allen Wassern gewaschen. Zu ihm schauten die Leute auf, fragten ihn um Rat und jetzt sollte ich, gerade mal sechzehn Jahre, ihm in einer Lebenskrise helfen? Danach sah es jedenfalls für mich aus. „Hast du eine andere Frau kennengelernt?“, fragte ich daher gerade heraus. „Was?“ Er sah mich entsetzt an. „Nein, natürlich nicht. Das hast du geglaubt?“ Er schien entrüstet, dass ich so etwas überhaupt in Erwägung ziehen konnte. „Was sonst sollte so furchtbar sein, dass du es noch nicht einmal vor Mutter sagen kannst, hm?“ „Avery, also wirklich. Das ist es nicht. Es geht um Politik.“ Mit verschränkten Armen stand er vor mir. Hatte er eben noch einen Moment der Schwäche gezeigt, so war dieser jetzt verflogen. „Wirst du mir jetzt die Karten legen, Avery? Bitte.“ Doch der Nachdruck, mit dem er seine Bitte aussprach, ließ sie eher wie einen Befehl klingen. „Aber nicht hier drin. Ich muss sie unter freiem Himmel auslegen.“ „Ist das nicht zu gefährlich?“ „Gefährlich? Vater, ich lege doch nur Karten.“ „Schon gut. Dann lass uns rausgehen. Hinter dem Schuppen sind wir ungestört.“ Er räumte rasch sein Werkzeug beiseite, dann folgte er mir nach draußen. Im Vorbeigehen hatte ich mir einen alten Besen gegriffen. Auf einer Fläche von etwa eineinhalb Metern begann ich sorgsam den ausgetrockneten, rissigen Lehmboden von Blattresten, zertrampelten Fußspuren und sonstigen Störfeldern zu befreien, bis eine glatte Ebene entstand. Die Karten mussten auf dem Boden ausgelegt werden, denn aus ihm gewannen sie einen Teil ihrer besonderen Kräfte. Den anderen Teil steuerte ich bei. Als ich die Karten zu mischen begann, zog mein Vater sich eine Holzkiste heran und nahm darauf Platz, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt? Ein spezielles Thema, zu dem ich die Karten befragen soll?“ „Nein. Leg sie einfach aus und sage mir dann, was sie bedeuten.“ Heute wurde ich einfach nicht schlau aus ihm. Für gewöhnlich wurden meine Kartenkünste nur vor Vermählungen benötigt, um dem Paar die Zukunft vorauszusagen oder um den Händlern den rechten Zeitpunkt für ihre Reise zu benennen. Ich mischte die Karten erneut. Dann ließ ich mich auf die Knie sinken. In einem einzigen Fächer, entgegen dem Uhrzeigersinn, legte ich sie mit der linken Hand und dem Bild nach unten auf den staubtrockenen Boden aus. Einen Moment verharrte ich in absoluter Unbeweglichkeit. Um mich herum verstummten die Geräusche. Nur das Rauschen meines eigenen Blutes konnte ich im Kopf hören. Dann öffnete ich die Augen wieder. Gerade, als ich den Kartenfächer von oben nach unten umschlagen wollte, vernahm ich ein herannahendes Grollen, wie von Gewitter. Ich blickte zum Himmel, doch es war kein einziges Wölkchen zu sehen. Mein Vater sah mich abwartend an. Ob er das Grollen auch gehört hatte? Dann schraubte sich mit einem Mal ein Wirbel direkt aus dem Inneren des Kartenkreises empor, wie ein Tornado im Herbst. Wie war das möglich? Die Zeit schien still zu stehen. Ich sah, wie die Karten in eben diesen Strudel gerieten, wie in einen Trichter. Immer schneller, empor zum Himmel und dann war der Spuk plötzlich vorbei, und sie fielen in einem letzten, wilden Tanz auf den Boden zurück. Nur die zerfurchte Erde unter ihnen strafte die anschließende Ruhe Lügen. Das hatte ich noch nie erlebt. Was war geschehen? Als ich die Karten umdrehen wollte, die seltsamerweise alle noch verdeckt auf dem Boden lagen, war ihre Bildseite verschwunden. „Avery, was hat das zu bedeuten?“ Die Stimme meines Vaters war nur noch ein Flüstern, als er auf die leeren Karten starrte. Endlich konnte ich mich aus meiner Starre lösen. Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Ich habe dafür keine Erklärung.“ „Aber warum sind die Bilder weg?“ „Ich weiß es nicht, Vater.“ Verwirrt sammelte ich meine Karten wieder ein. Jede einzelne prüfend, wie in Trance. Alle trugen nur auf der Rückseite ihr gewohntes Muster. Die Bilder auf der Vorderseite blieben jedoch verloren. Das Gesicht meines Vaters war inzwischen aschfahl geworden. „Hast du es gesehen?“, fragte ich ihn leise, als könnten wir belauscht werden. Ein Schatten huschte plötzlich über seine Augen, dann sah er mich fragend an. „Was meinst du?“ „Den Wirbelsturm und …“ „Wirbelsturm?“ Er rieb sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. „Nein. Wo denn?“ Suchend blickte er sich um. „In den Bergen?“ Wollte er mich auf den Arm nehmen? Er hatte doch keinen Steinwurf weit entfernt auf seiner Holzkiste gesessen. „Avery, wo sind die Bilder auf den Karten?“ „Langsam, langsam. Wir müssen systematisch vorgehen.“ Mir schwirrte der Kopf. „Sag mir genau, was du gesehen hast, Vater.“ „Ab welchem Zeitpunkt?“ „Nachdem ich die Karten gemischt habe.“ Nervös nagte er an seiner Unterlippe. „Also, du hast sie gemischt, wie immer, bist in die Knie gegangen, danach waren die Bilder weg.“ „Und dazwischen, Vater? Was hast du gesehen, gehört?“ „Dazwischen? Wie meinst du das? Ich habe nichts gehört.“ Ja war er denn plötzlich senil geworden, oder was? „Vater, es war nicht zu überhören oder zu übersehen. Das Donnergrollen, der anschließende Wirbel.“ „Avery, Kind. Ich h-a-b-e nichts gesehen oder sonst was gehört! Sag mir lieber wie es möglich ist, dass die Bilder auf dem Kartenspiel auf einmal fort sind. Wie hast du das gemacht?“ Er schien es für einen billigen Zaubertrick zu halten, wollte schon nach den Karten greifen. „Ich?“ Rasch nahm ich die leeren Karten wieder an mich. „Du hast das Kartenspiel angefasst. Erinnerst du dich? Du hast die Karten aus meinem Schrank genommen. Woher wusstest du überhaupt, dass ich sie dort aufbewahre?“ Was spielte er mir bloß für ein seltsames Theater vor? So kannte ich ihn überhaupt nicht. „Vater. Warum sollte ich dir die Karten wirklich legen? Was wolltest du darin sehen? Ich muss es wissen!“ Mittlerweile schrie ich ihn an, spürte, wie ich kurz davor war, hysterisch zu werden. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er dagegen schüttelte nur in einem fort den Kopf. „Sprich mit niemand darüber. Schwör es mir, sonst …“ Als meine Mutter, aufgeschreckt durch meine schrille Stimme, über den Hof gelaufen kam, stürmte er in die entgegengesetzte Richtung davon. Wie angewurzelt blieb ich stehen, mit einem Meer von Fragen und leeren Karten.

 

Rauch über Gullorway

„Wo warst du gestern?“, flüsterte Charise mir am Frühstückstisch zu.

„Später.“

Ich musste in die Schule. Charise blickte fragend zwischen meiner Mutter und mir hin und her. Vielleicht dachte sie, dass wir uns gestritten hatten. Sollte sie glauben, was sie wollte. Hauptsache sie hörte auf, mich weiter mit ihren Fragen zu löchern. Ich brauchte Zeit.

Mein Vater war erst spät in der Nacht nachhause gekommen, und hatte uns kurz nach Sonnenaufgang wieder verlassen. Ohne ein Wort. Ich verstand sein Verhalten nicht, meine Mutter verstand mich nicht, und sagen durfte ich zu niemandem etwas. Aber ich musste mit jemandem darüber reden, was gestern geschehen war, sonst würde ich verrückt werden. Miles, fiel es mir ein. Er wäre der Richtige. Ich würde mit ihm angeln gehen. Dann würde ich ihn fragen, was er von der Angelegenheit hielt. Mit ihm konnte ich über alles reden. Aber die Schule … „Charise? Heute gehst du mir mal zur Hand, hm?“ Die Stimme meiner Mutter holte mich aus meinen Tagträumen zurück und rief bei meiner Schwester ein genervtes Augenrollen hervor. „Und wir sprechen uns nach der Schule noch, Avery“, wandte Mutter sich dann mit durchdringendem Blick an mich. Ich griff nach meinem Lederrucksack, packte die nutzlosen Karten hinein, ein Messer mit meinen Initialen im Knauf und meinen Lesestein. Doch mein Ziel war nicht die Schule. In Gedanken versunken hetzte ich durch die staubigen Straßen von Gullorway. Alles schien wie immer. Kein Gewitter am Horizont. Vor einem frisch getünchten Haus in safrangelb, mit schiefen, schneeweißen Fensterläden, hielt ich an. Miles wohnte hier mit seinen Eltern, zwei jüngeren Schwestern und seinem zehn Jahre älteren Bruder. Als hätte er gespürt, dass ich zu ihm wollte, öffnete sich die Eingangstür. „Nanu? Du kannst es wohl gar nicht erwarten in die Schule zu kommen.“ „Vergiss die Schule, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“ Zwei strahlend blaue Augen schauten mich erwartungsvoll an. Auf dem markant geschnittenen Gesicht mit dem kleinen Grübchen im Kinn zeichneten sich bereits erste Stoppeln eines Bartes ab. Charise behauptete immer, Miles sähe ausgesprochen gut aus. In wenigen Jahren würden ihm die Frauen unseres Dorfes reihenweise zu Füßen liegen, aber ich wäre ja offensichtlich blind für solche Dinge. „Gehen wir angeln“, sagte ich zu ihm, bevor er sich anders entscheiden konnte. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah zum Himmel auf, als würde der voller Fische hängen. „Echt? Du willst die Schule sausen lassen fürs Angeln? Dann hast du deine aber zu Hause vergessen genauso wie deinen Hut.“ Er stupste mich an, wollte noch einen Scherz hinzusetzen, wie ich von seinem Gesicht ablas, hielt sich dann aber zurück. „In Ordnung. Du kannst eine von meinen nehmen. Brauchen wir Köder?“ Unentschlossen zuckte ich mit den Schultern. „Du bist heute nicht sehr gesprächig, was? Stress mit deinen Eltern?“ „Lass uns gehen“, sagte ich nur und eilte voraus, in Richtung des Mukonor. Ich wusste, er würde mir folgen. Kurz darauf schloss er zu mir auf. Zwei Angeln in der Hand und eine kleine Büchse, wahrscheinlich randvoll gefüllt mit wimmelnden Ködern. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Die Luft war drückend heiß. Schon jetzt. Kein Vogelgesang war zu hören. Seltsam. „Ist was passiert?“ „Wieso?“ „Du wirkst so komisch. Du willst nicht in die Schule und gestern bist du auch nicht mehr vorbeigekommen.“ „Ich musste meinem Vater noch helfen.“ „Sicher, aber du solltest dich nicht ausnutzen lassen. Es war schließlich der siebte Tag, der einzige freie Tag in der Woche. Mit der flachen Hand schlug er eine Fliege auf dem Oberschenkel platt, die eine ekelige Blutspur hinterließ. Seine Hand wischte er am Hosenboden ab. Ich blieb stehen und sah ihm fest in die Augen. „Ich lasse mich nicht ausnutzen“, fuhr ich ihn an. „Außerdem hast du gerade einen fetten Köder plattgemacht“, setzte ich wieder versöhnlicher hinzu. Wir gingen weiter, über dürre Hügel, die einst mit saftigen grünen Gräsern bewachsen waren. Die Luft flirrte vor Hitze und verschwamm am Horizont zu einem diffusen Licht. Wir schlenderten nicht auf unserem gewohnten Pfad zum Fluss, sondern bogen ein Stück weiter rechts in den Wald hinein ab, der uns Schutz vor der Sonne bot. Miles schien es ganz recht zu sein, der Schule fernzubleiben. Wir hatten eh nur noch wenige Wochen bis die Ausbildung begann, die unsere Eltern für uns vorgesehen hatten. Bei einem Sattler, Glasmacher, Zimmermann oder mit viel Glück bei einem Händler. Letzteres würde ich bevorzugen, wenn ich denn wählen dürfte. Doch für Mädchen blieb nur eine Schneiderlehre und Heirat. Vor Jahren hatte es eine dunkelhäutige Heilerin in Gullorway gegeben, doch diese war irgendwann nicht mehr von ihrer Kräutersuche zurückgekehrt und hatte ihr Wissen mitgenommen. Von da an war es uns Mädchen verboten über die Grenzen Gullorways hinaus zu gehen. Miles schien es nicht zu stören, dass ich heute so schweigsam war, denn er redete umso mehr. „Du hast gestern echt was verpasst. Cole und Trevor hatten was Selbstgebranntes, Hochprozentiges dabei. Nachdem sie etliche Flaschen herumreichten und selbst davon am meisten tranken, konnten sie sich anschließend kaum noch auf den Beinen halten. Dabei machte Trevor Shannon schöne Augen. So“, er klimperte mit den Wimpern wie ein Mädchen, „die ihn in dem angetrunkenen Zustand jedoch kühl abblitzen ließ. Und dann deine Schwester und Denian. Ich dachte, sie vernascht ihn gleich an Ort und Stelle. Ist sie so wild darauf Mutter zu werden, oder warum bietet sie sich ihm so an?“ Mitunter war Miles wie ein Waschweib. Aber es entging ihm nichts. „Vielleicht. Dann könnte sie von zu Hause ausziehen und müsste sich von unseren Eltern nichts mehr sagen lassen.“ „Ach was.“ Er machte eine wegwerfende Bewegung. „Das kann doch nicht ihr Ziel sein, oder? Dann steht sie doch wieder am Herd, bloß, dass es dann der eigene ist.“ Miles lachte herzhaft über seinen eigenen Witz. Es tat gut, ihn lachen zu hören. Langsam wich meine innere Anspannung. „Und du, was willst du später mal machen?“, fragte ich ihn nach einer Weile, als hätte er eine Wahl. „Du meinst, wenn ich mal groß bin?“ Er sah mich sorgenfrei an. Fast vergaß ich, weswegen ich ihn von der Schule fernhielt. „Tja, was werde ich wohl machen?“ Sein Lächeln verschwand augenblicklich. „Wahrscheinlich werde ich edles Mobiliar herstellen, wie mein Vater und davor sein Vater und dessen Vater schon.“ Miles blieb plötzlich stehen, als hätte er etwas gehört. Unwillkürlich lauschte auch ich in den Wald hinein. „Hörst du das?“ Er hielt sich eine Hand hinters Ohr. „Die Ferne ruft mich. Sie lockt mich über die Grenzen von Gullorway hinaus, in die goldene Stadt von Timno Theben, oder übers Meer hinaus nach Perges.“ Seine Augen begannen plötzlich vor Begeisterung zu leuchten. Mit der Hand griff er nach einem imaginären Ziel, hinter dem Horizont. Ich schüttelte belustigt den Kopf. Wir gingen weiter, folgten auf einem Trampelpfad dem Bachlauf, der in den Mukonor mündete, einem grünlich schimmernden Fluss, sonst reich an Fischbeständen und Flusskrebsen, jetzt kaum noch einen Meter tief. Schwatzend traten wir aus dem Wald hervor. „Komm, wir gehen zum Steg. Von dort aus beißen die Fische besser.“ „Nein, lass uns hierbleiben, Miles. Hier ist mehr Schatten.“ „Du hättest deinen Hut mitnehmen sollen“, wies er mich zurecht. Ich ärgerte mich darüber, so übereilt das Haus verlassen zu haben. Miles kramte in seiner Dose nach dem passenden Köder für unsere Angelruten, dann warfen wir die Schnüre in hohem Bogen in den friedlich dahinziehenden Mukonor. Selten wagten wir uns so weit entfernt von Gullorway hinaus. Man wusste nie ob nicht die Herren von Kandalar das Gebiet durchstreifen. „Was werden wir fangen?“, fragte Miles und zog die Spule etwas nach, bevor er die Rute in den Boden stieß. „Ich denke Karpfen.“ „Nein, glaube ich nicht. Du fängst einen dünnen Aal, so dünn wie mein kleiner Finger, höchstens.“ „Wir werden ja sehen.“ Er riss einen langen Grashalm aus und kaute darauf herum. „Also, wirst du es mir erzählen?“, fragte Miles. „Was erzählen?“ Er hielt mit dem Kauen inne und spuckte den Halm wieder aus. „Weswegen du mit mir Angeln wolltest.“ „Brauche ich dafür einen Grund? Wir gehen doch sonst auch angeln.“ „Ja, aber nach der Schule.“ Ausweichend blickte ich auf das sich kräuselnde Wasser des Mukonor. „Da war gestern so ein Donnergrollen“, begann ich. „Wo, bei uns? Es war doch strahlend blauer Himmel.“ „Ja, ich weiß, aber bei uns auf dem Hof …“, ich schrak zusammen, als ich herannahende Schritte hörte. „Habe ich euch erwischt!“ Triumphierend kam Charise auf uns zu. Wie hatte sie uns hier gefunden? „Solltet ihr nicht in der Schule sein? Du musst nicht gleich rot zu werden, Schwesterherz.“ „Ich werde nicht rot.“ Natürlich wurde ich das. Wahrscheinlich war das Leuchten noch auf der anderen Seite des Flusses zu sehen. Miles stöhnte auf. „Oh Mann, Charise. Du kommst in einem denkbar ungünstigen Moment. Gerade wollte Avery mir ihr Herz ausschütten. Hast du nichts anderes zu tun als uns nachzulaufen? Entzückende Kleidchen nähen oder mit Denian knutschen, wie gestern Abend?“ „Und warum sitzt du hier mit meiner hübschen, kleinen Schwester und bist nicht in der Schule?“, herausfordernd sah sie ihn an. „Wolltet ihr etwa …“ „Charise, du nervst. Wie hast du uns überhaupt gefunden?“ Ohne zu antworten ließ sie sich zu uns ins Gras nieder. „Och, das war leicht. Viel Auswahl gibt es hier ja nicht. Mutter hat mich geschickt, damit ich dich zur Schule zurückbegleite.“ „Ganz sicher“, murmelte ich. „Miles, ich glaube, bei dir hat ein Fisch angebissen.“ Charise blickte mit todernster Mine zum Fluss.“ „Lenk nicht ab, Charise. Warum bist du uns gefolgt?“ „Doch, da war was“, beharrte sie. „Na prima, dann kannst du uns gleich beim Ausnehmen der Fische helfen“, neckte Miles sie, da er wusste, dass sie sich davor ekelte. Tatsächlich bog sich nun seine Angel durch. Miles sprang plötzlich auf, zog mit einem Ruck an der Angelrute und spulte die Schnur auf. Ein zuckender, silbern schimmernder Fisch tanzte über dem Wasser. Ein Barsch? Nein, dafür war er zu klein. Seine Schuppen schimmerten wie eine auf Hochglanz polierte Rüstung. Die Rückenflossen waren indigoblau. „Was ist denn das für ein Fisch? Kennt den einer?“ Miles keuchte vor Anstrengung. Der kleine Fisch schien über ungeheure Kräfte zu verfügen. „Da fragst du die Richtigen“, stieß Charise hervor. Dabei sah es nicht wirklich so aus, als würde der Fisch um sein Leben kämpfen. Vielmehr spielte er mit Miles, wenn da nicht der Angelhaken in seinen Kiemen stecken würde. In den nun immer größer werdenden Augen des seltsamen Fisches trat ein rotglühender Schimmer, wie das Flackern von Feuer und er sah mich an. Es war, als wollten mich diese Augen in ihr Innerstes ziehen. Rauch quoll in kleinen Schlieren hinter den Kiemen hervor, vorbei an dem Angelhaken, der noch darin steckte. Die nun ungewöhnlich rot flammenden Augen des Fisches stierten mich weiter an. Ob das an der Hitze lag? Ich hätte den Sonnenhut mitnehmen sollen. Doch etwas an der Art, wie dieser Fisch mich weiterhin in seinen Bann zog, versetzte mich in äußerste Alarmbereitschaft. Ich konnte es nicht erklären, aber ich wusste, dass wir in Gefahr waren. „Gib ihn frei, Miles! Schnell!“, rief ich, plötzlich von einer unerklärlichen Unruhe erfasst. „Was? Bist du wahnsinnig geworden? Sieh ihn dir an, er ist ein Prachtexemplar.“ Plötzlich einsetzende Kopfschmerzen umspannten meinen Schädel wie einen zu eng sitzenden Helm. „Avery, schrei doch nicht so! Ich lass ihn ja schon vom Haken. Siehst du? Er schwimmt wieder friedlich davon. Du meine Güte, du benimmst dich ja wie ein Baby.“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich schrie. Dann war der Kopfdruck schlagartig fort. Wütend rollte Miles den letzten Rest der Angelschnur auf. Charise war bleich wie die Wand. Mit offenem Mund starrte sie mich an. „Was?“, fragte ich sie unwirsch. Miles sah von Charise zu mir. „Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen?“ „Hast du einen Sonnenstich, oder was? Und überhaupt: Wo ist dein Hut?“, fragte sie, als sie sich wieder in der Gewalt hatte. „Ich kann es euch jetzt nicht erklären, aber wir müssen diesen Platz sofort verlassen! Irgendetwas geht hier vor, wir müssen nach Hause!“ Ich sah gerade noch, wie Miles den Zeigefinger vor dem Kopf zu kreisen begann, um Charise klarzumachen, dass ich offensichtlich völlig durchdrehte. Ärgerlich schulterte ich meinen Rucksack und verfiel bereits im Laufschritt. Hinter mir hörte ich Miles rufen. „Avery, verdammt so warte doch!“ Ich schlug einen anderen Weg ein als den, den wir heute Vormittag genommen hatten. Während ich rannte, als wäre ein Dämon hinter mir her, versuchte ich meine Gedanken neu zu ordnen. Es war ähnlich gewesen wie gestern, als ich die Karten legte. Da waren auch die Geräusche um mich herum mit einem Mal verstummt. Und der Fisch, der mich mit roten Augen angesehen hatte. Ob es eine Warnung war, fragte ich mich in dem kurzen Moment, in dem mein Verstand wieder funktionierte, oder wurde ich langsam verrückt? Aber der Vogel, den ich gezeichnet hatte und der kurz darauf tatsächlich auf Charise‘ Schulter … „Avery, können wir kurz mal anhalten? Ich habe Seitenstiche. Wir können die Strecke doch nicht in einem durchlaufen“, stöhnte Charise hinter mir. Sie blieb, nach vornübergebeugt, schnaufend stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. „Ich renne vor, ihr kennt ja den Weg.“ In gleichbleibendem Tempo jagte ich durch den Wald, begleitet von unterschwelligem Donnergrollen aus der Ferne. Unter mir schien die Erde zu beben. Ich war mir nicht sicher, ob das an meinem energischen Laufschritt lag, oder ein Erdbeben Gullorway erschütterte. Hätte ich geahnt, was uns erwartete, ich hätte mir Flügel gewünscht. Rauch war das erste, was mir in die Nase stieg. Dann gegrilltes Fleisch, nein, verbranntes Fleisch. Der Himmel färbte sich schwarz, braungelb und rotflackernd. Als würde ein unvorstellbares Unwetter aufziehen. Eine Katastrophe musste Gullorway heimgesucht haben, da war ich mir sicher. Verdammt, wie weit war der Weg denn noch? Ich lief die Strecke nicht zum ersten Mal, aber heute schien sie nicht enden zu wollen. Keuchend stolperte ich aus dem Wald heraus und sah überall niedergebrannte Felder. Als ich näher kam wurde der Brandgeruch so unerträglich, dass ich würgen musste. Tierkadaver von Pferden und Rindern lagen überall verstreut und dazwischen – menschliche Überreste. Wie in Trance taumelte ich vorwärts, doch je näher ich Gullorway kam, umso unwirklicher wurde das Szenario. Ganz Gullorway stand in Flammen, die Hitze war selbst am Rand des Dorfes noch zu spüren. Das Feuer wütete überall. Ob ein Blitz eingeschlagen war? Das hätte das Donnern erklärt doch ohne Wolken? Warum war niemand da, um dieses Inferno zu löschen? Beißender Rauch machte mir das Atmen schwer und hinderte mich daran, weiter in das Dorf zu gelangen. Verzweifelt überlegte ich, wo sich die Brunnen befanden. Alles sah so anders aus. Glas zersplitterte, Holzbalken und Dächer krachten zischend und donnernd zusammen und begruben alles unter sich. Leichen, überall verkohlte Leichen und dazu dieses Tosen in den Ohren. Alles wurde unklar, mir wurde schwarz vor Augen. „Miles, schnell! Hilf mir mal!“ Dumpf hörte ich vertraute Stimmen um mich herum. „Ist sie tot?“ Eine schlanke Hand tastete nach meinem Puls. „Nein. Sie lebt zum Glück.“ „Was ist mit Gullorway passiert?“, fragte ich benommen und hatte doch Angst vor der Antwort. „Ganz Gullorway brennt. Wir haben dich hier regungslos liegen sehen.“ Miles schluckte, ihm versagte die Stimme. Von Weinkrämpfen geschüttelt lagen wir uns in den Armen, er und ich. Charise stand einfach nur da. „Denkst du, dass du gehen kannst?“, fragte Charise nach einer Weile. Sie wirkte seltsam emotionslos. Vielleicht war es der Schock. Miles half mir auf. Sein Gesicht eine einzige Maske. Wie Schlafwandler stolperten wir gemeinsam durch das Chaos, das die Flammen angerichtet hatten. So schnell, so gründlich. Die ehemals bunten Fassaden, die den Charme unseres Dorfes ausmachten, waren nun einheitlich schwarz, rußig. Unter den Trümmern die Menschen begraben. Niemand hatte entkommen können. Die Flammen wurden kleiner, fanden kaum noch Nahrung. Schließlich schwelten nur noch vereinzelte Brandherde. Eine eiserne Tür hing seltsamerweise noch in den Resten eines Rahmens. War hier nicht die Schmiede gewesen? Ein Kettenschloss baumelte noch davor, mit grob ineinander verschlungenen Ringen, wie unser Schmied niemals eines angefertigt hätte. Gerade als ich mir das Kettenschloss genauer ansehen wollte hörte ich, wie Miles und Charise sich hinter mir übergaben. Dumpf vor fassungslosem Schmerz blickte ich mich um. Charise war auf die Knie gesunken, ihren Körper vor und zurück wiegend. Wimmernd stierte sie auf einen verkohlten Leichnam mit ausgerissenem Arm. Kein Feuer brachte so etwas fertig. Ich wollte sie beruhigend in die Arme nehmen, doch sie trat nach mir. „Geh weg, du Beschwörerin des Unglücks! Du und Vater, ihr habt es gewusst, deswegen seid ihr fortgelaufen.“ Ihre letzten Worte gingen unter in ersticktem Schluchzen. „Wie sollte ich so etwas erahnen können?“ Charise presste die Lippen fest aufeinander und sah mich voller Hass an. „Du warst es doch, die Vater die Karten gelegt hat, danach ist er fortgegangen.“ Ich war so durcheinander, dass ich sie gar nicht fragte, woher sie das wusste. „Müsst ihr euch ausgerechnet jetzt streiten, während um uns herum nur …“ Miles brachte die Worte nicht über seine Lippen. Alles war so surreal. „Wir müssen nachsehen, ob es Überlebende gibt“, brachte ich hustend hervor. Der Rauch des fast erloschenen Brandes lag wie bitteres Gift auf der Zunge und drang weiter die Kehle herunter. „Sie sind tot, Avery. Sie sind alle tot“, redete Charise mit einer Stimme so kalt wie Eis auf mich ein. „Woher willst du das wissen? Es muss doch Überlebende geben. Vielleicht ist Mutter verletzt und braucht unsere Hilfe.“ „Sieh dich doch um!“, fauchte sie. „Niemand hat dieses Inferno überlebt.“ Entschlossen machte ich mich auf, stolperte über rauchende Trümmer und menschliche Überreste auf der Suche nach unserem Haus. Hinter mir hörte ich Miles wimmern. Ich blickte mich zu ihm um und sah ihn sich über einen verkohlten Leichnam beugen. Zitternd und würgend führte ich ihn von seinem Elternhaus fort und strauchelte dabei über eine Eisenstange. Für einen flüchtigen Moment hatte ich den Gedanken, dass diese Stange nicht hätte hier sein sollen, genauso wie das Kettenschloss. Wir irrten durch Gullorway auf der Suche nach Überlebenden, Charise in sicherem Abstand zu mir. Fast hätte ich es übersehen, unser Zuhause. Dabei war es das einzige Gebäude weit und breit, das noch nicht völlig zerstört war. Hoffnung keimte in mir auf. Doch als ich versuchte ins Innere zu gelangen, stürzten die verbliebenen Wände wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Funken stoben umher und rieselten als heißer Regen auf uns herab, fraßen sich durch die leichte Kleidung bis auf die Haut. Panisch wälzten wir uns auf dem Boden, um die Funken zu ersticken. Die Karten, fiel es mir wieder ein. Warum hatten sie mir dieses Unglück nicht vorausgesagt? Charise hatte recht, vielleicht hätte Gullorway gerettet werden können. Wütend riss ich mir den Rucksack herunter, suchte darin die abgegriffenen Karten. Ein letztes Mal sah ich sie mir an, die Vorderseite immer noch weiß, dann warf ich sie entschlossen ins Feuer. Plötzlich war Charise an meiner Seite und versuchte mich mit aller Macht daran zu hindern. „Nein, Avery, das darfst du nicht tun!“ Hastig begann sie die schmauchenden Karten wieder aus dem Feuer zu ziehen, obwohl die Flammen zischend nach ihren Fingern leckten. „Bist du noch ganz dicht? Eben noch wolltest du mich und meine Karten für das Unglück verantwortlich machen und jetzt willst du sie …“ Dann passierte alles gleichzeitig. Charise schrie wie am Spieß. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah sie an mir vorbei zu Miles, der von drei, vier, gelblich aussehenden Kreaturen umzingelt war. Nie zuvor hatte ich derartige Wesen gesehen. Groß wie ein Mensch doch seltsam verformt. Nichts passte zusammen. Mit vogelartigem kahlem Kopf doch den kalten Augen eines Reptils. Auf dem Rücken verhornte bewegliche Platten wie ein Schutzschild. Die Schultern schmal, mit kümmerlichen Klauen und langen Krallen daran. Der restliche Körper dagegen muskulös, getragen von zwei kräftigen Beinen, deren sichelartige Krallen, wie Messer in die verbrannte Erde schnitten auf der Suche nach Halt. Während sie Miles taxierten, ruckte ihr birnenförmiger Kopf ständig vor und zurück, das Maul mit den rasiermesserscharfen Zähnen weit aufgerissen. Fiepend und fauchend stritten sie um Miles, bissen sich gegenseitig in die harten Rückenpanzer oder schnappten nach den langen Hälsen. Hastig gruben sich meine Hände in den staubigen Grund. Dann stürmte ich auf Miles und seine gelben Angreifer zu. „Lauf!“, schrie ich. Miles flüchtete unter meinem Arm hindurch, indes ich den Wesen Dreck entgegenschleuderte. Ungelenk versuchten sie diesen aus den Augen zu entfernen. Dabei waren ihnen ihre überlangen Krallen nur hinderlich. Den Moment ihrer Verwirrung ausnutzend, suchte ich hektisch den Boden nach meinem Rucksack ab. Da lag er, praktisch vor Miles Füßen. Blitzschnell griff ich danach und tastete fast fiebrig im Inneren nach meinem Dolch. Inzwischen hatte sich einer der Gelben schon fast von dem Dreck befreien können. Schnüffelnd ruckelte sein Kopf zu mir herüber. Dann kam er in gekrümmter Haltung langsam, federnd auf mich zu. Einerseits starr vor Schreck, war ich zum anderen fasziniert von seiner Andersartigkeit. Die gelbliche Haut umspannte den kahlen Schädel, als wäre sie irgendwie zu eng. Sie war überzogen mit blauen, wulstigen Äderchen, die wie Flüsse auf einer Weltkugel aussahen. Seine irisierenden Augen, die mal gelb, mal grün oder rot schimmerten, fixierten mich dabei völlig unabhängig voneinander. Den Kopf zum Angriff gesenkt, schnappte er nach mir. Blitzartig stieß ich zu. Doch aus meiner ungünstigen Position am Boden heraus streifte ich ihn nur unterhalb seines weit aufgerissenen Mauls. Mit einem Ruck wollte er seinen Kopf zurückziehen, dabei schlitzte mein Dolch ihm den Kiefer auf, spaltete ihn geradezu in zwei Hälften. Irre vor Schmerz jaulte er in einem ohrenbetäubenden Pfeifton. Im Todeskampf wand er sich einmal um seine eigene Achse, versuchte erneut nach mir zu treten, bevor er zuckend zu Boden ging und zu Asche zerfiel. Nun umkreisten mich auch die anderen drei Gelben. Mit federnden Schritten kamen sie auf mich zu. Panisch versuchte ich auf den Rücken des Gelben einzustechen, der mir am nächsten war. „YEMAHL!“, hörte ich die verzweifelte Stimme meiner Schwester hinter mir rufen. „Du musst den Dolch bei seinem Namen rufen, YEMAHL!“ „YEMAHL!“, schrie ich und da begann der Dolch in meiner Hand zu leuchten. Heller als jede Fackel. Sogar heller als die Sonne. Und, als wäre der eben noch harte Rückenpanzer des Reptils plötzlich aus Butter, glitt die Klinge auf einmal bis zum Heft hinein. Das Wesen bäumte sich unter Schmerzen windend auf, bevor es ebenfalls zu Asche zerfiel, die der Wind in alle Richtungen verwirbelte. Fauchend zogen sich die beiden verbliebenen gelben Geschöpfe hüpfend in langen Sätzen zurück und verschwanden schließlich in den Rauchschwaden von Gullorway. „Wir müssen weiter. Bevor die Nacht kommt, werden sie nach uns suchen“, hörte ich Charise mit Bestimmtheit sagen. „Sie? Wer sind sie? Weitere Gelbe?“ Allein der Gedanke daran ließ mich frösteln. Ob der seltsame Fisch mit den roten Augen mich davor hatte warnen wollen? Doch behielt ich meine Gedanken für mich. „Gelblinge. Sie gehören zu den Herren von Kandalar und diese werden nicht eher ruhen, bis sie uns gefunden haben.“ „Dann haben sie Gullorway angezündet? Aber warum? Sie haben doch mehr als genug bekommen und dazu noch eintausend Platons.“ „Sie haben nach uns gesucht. Nach dir und mir.“ „Woher willst du das wissen, Charise?“, fragte Miles. „Und wie hast du mein Messer genannt, bevor es so seltsam glühte?“ Charise überging meine Frage und sah Miles an. „Frag Avery doch mal, warum ihre Karten plötzlich keine Bilder mehr haben, aber Bilder, die sie malt, lebendig werden.“ Charise griff in ihre zerrissene Hosentasche und zog ein zerknülltes Papier heraus. Als sie es entfaltete, erkannte ich den von mir gezeichneten Vogel darauf.