Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Verbrannte Spuren

Aus der Ferne beobachteten Neschwirr und sein Gefolge, wie Gullorway von den Flammen niedergerungen wurde. Schwarzbrauner Rauch verhüllte die Sonne und trug die Schreie der eingeschlossenen Opfer zu ihnen herüber. Er hatte keine Gnade walten lassen. Niemand dieser törichten Bewohner hatte ihnen sagen wollen, wo sich die beiden rothaarigen Mädchen befanden. Selbst dann nicht, als er ihnen gedroht hatte, ihr Dorf anzuzünden. Er hatte so handeln müssen. Wenn er von seinen Männern respektiert werden wollte, musste er sich unnachgiebig zeigen. Daher hatten Neschwirr und seine Männer sämtliche Fenster und Türen versperrt, verbarrikadiert und mit Schlössern verriegelt. Sollten sie doch in der Hölle schmoren für ihren Eigensinn. Aber die Mädchen hatten sie nirgends gefunden.

Bevor sie selbst Gefangene des Feuers wurden, traten die Herren von Kandalar den Rückzug an. Jetzt konnte er nur hoffen, dass die Mädchen nicht unter den Opfern waren. Aus diesem Grund hatte er die Gelblinge zurückgeschickt, um sie in den Trümmern nach ihnen suchen zu lassen.

„Da, schau Neschwirr-Guhl. Dahinten bewegt sich etwas.“

Neschwirr blickte in die Richtung und sah, wie sich zwei Gestalten aus dem Rauch hervortaten. In kurzen, hüpfenden Sätzen kamen sie auf ihn zu. Gelblinge. Warum nur zwei? Sie fiepten ängstlich und hielten ihre unansehnlichen Schädel demütig gebeugt.

„Wo sind die anderen beiden? Was ist mit den Mädchen?“

Neschwirr war außer sich vor Wut. Als sie in das Dorf einfielen war er davon ausgegangen, dass das Ganze ein Kinderspiel werden würde. Den verängstigten Menschen ein wenig drohen, ihnen saßen ja der Schrecken vom letzten Mal noch in den Knochen. Dann mit den beiden Mädchen zurück auf die Burg von Kandalar. Und jetzt? Wie sollte er dies seinem Vater erklären? Er konnte unmöglich mit leeren Händen zurückkommen noch dazu, wo zwei der Gelblinge unter Umständen im Feuer umgekommen waren.

Er zückte seine Peitsche aus den Stiefeln, ließ sie durch die Luft sausen und dem Gelbling, der ihm am nächsten war um den Hals schlingen.

„Wo sind sie?“, fragte er, als könnten sie ihn verstehen. Der Färber hatte ihm versichert, diese Gelblinge seien folgsam, sie würden jedes Wort begreifen und Befehle befolgen. Sie könnten nur nicht mehr sprechen. Verdammte Mutationen. Was wollten sie mit solchen Wesen, wenn sie ihnen nicht gefällig waren? Er würde seinem Vater berichten müssen, dass sie noch nicht optimal zu kontrollieren waren aber ohne die Mädchen würde Mahilo-Esch kein Ohr dafür haben.

Neschwirr schlängelte die Peitsche von dem Hals des Gelblings, bevor auch dieser noch sein Leben aushauchte.

„F-ü-h-r-t mich zu ihnen und ich verspreche euch gegenüber Gnade walten zu lassen.“

Schnüffelnd und mit ruckenden Köpfen suchten sie den Boden ab. Die Spuren führten um Gullorway herum. Langsam folgten Neschwirr und seine Männer den Gelblingen, selbst die Häupter geneigt beim Ausspähen nach Fußspuren. Doch die Hufe ihrer Pferde hatten bereits das meiste verwischt. Den Rest hatte der Brand erledigt. Sie würden warten müssen bis Feuer und Rauch vollständig verschwunden waren und ihre Suche erneut starten. Diesmal durfte ihm kein Fehler unterlaufen.

In den Sümpfen

Erst als uns völlige Dunkelheit umhüllte wie ein dichter Mantel machten wir halt. Wie weit wir gelaufen waren oder ob nur im Kreis vermochte ich nicht zu sagen. Der Rauch verbrannter Felder und verkohltem Fleisch hielt mich noch immer gefangen. Er war überall. In unseren Haaren, unserer Kleidung, sogar auf der Haut. Was wir gesehen hatten, würde sich tief in unsere Seele einbrennen und Narben hinterlassen. Für immer.

Keiner wagte etwas zu sagen. Unfassbar war das Erlebte. Dennoch benötigten wir einen Plan. Irgendetwas, das uns Halt gab.

Charise war es schließlich, die ihre Stimme als Erste wiederfand. Dabei klang sie steif, förmlich.

„Wir werden unsere Kräfte noch brauchen. Daher sollten wir versuchen zu schlafen.“

Als hätte sie mit ihren Worten einen Hebel umgelegt, sprudelte es auch schon aus mir heraus. „Wie kannst du nur so kalt sein, Charise? Berührt es dich kein Stück, dass Mutter, unsere Freunde und alle die wir kannten und liebten massakriert wurden? Kannst du dich einfach schlafen legen, wie nach einem fetten Essen? Willst du nicht wissen, warum dieses Massaker geschah?“

„Ich habe es dir schon einmal gesagt, Avery. Sie werden nach uns suchen. Und wenn sie uns finden, haben wir keine Chance mehr über irgendetwas nachzudenken, außer, um unser Leben zu rennen. Du hast uns das doch überhaupt erst eingebrockt!“

Ich sprang auf, brauchte ein Ventil, mit dem ich all meine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit entladen konnte. Ich wollte ihr die Augen auskratzen, sie verletzten für die Worte, die nicht die ihren zu sein schienen, sondern die einer Fremden.

„Ich? Du spinnst ja!“

„Hört auf! Sofort!“, mischte sich Miles ein, der bisher kein einziges Wort gesagt hatte. „Sie hat Recht, Avery. Wir sollten versuchen zu schlafen, wenigstens ein paar Stunden. Keiner von uns kann im Moment mehr klar denken.“

Gekränkt wandte ich mich ab. In diesem Augenblick begann ich Charise zu hassen und es sollte nicht das letzte Mal sein.

Wie Fremde, die das Schicksal zwang zu bleiben, rauften wir uns vorerst zusammen, wagten uns bei der Dunkelheit jedoch nicht weiter in den Wald hinein. Rücken an Rücken ließen wir uns an Ort und Stelle nieder und hofften, dass keine Blut saugenden Insekten oder Schlimmeres uns heimsuchten. Dazu verspürte ich einen Bärenhunger und schämte mich dafür. Eben noch hatte ich Charise für ihre Gefühlskälte getadelt, wie konnte ich da selbst ans Essen denken? Jetzt bereute ich, dass ich Miles genötigt hatte, den Fisch, den er noch vor Stunden an der Angel hatte, in den Fluss zurückzuwerfen. Wenigstens besaßen wir unsere Angelruten noch und mein Messer. Besser als nichts.

Neben mir zuckte Miles im Schlaf. Ich dagegen hatte Angst einzuschlafen. Ich wusste, wenn ich mich der Müdigkeit hingab, würden die alptraumhaften Gedanken zurückkommen, die ich mit aller Macht versuchte zu verdrängen. Selbst im wachen Zustand ließen sie mich nicht los. Etwas, das Charise gesagt hatte, als die Gelblinge uns angriffen, geisterte in meinem Kopf herum. Aber so sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir nicht mehr einfallen. Irgendwann musste ich dann wohl doch eingenickt sein.

Als ich die Augen öffnete, war es noch dunkel. Wie spät es wohl war? Hunger und Durst plagten mich. Ich begann, Spucke in meinem Mund zu sammeln und dann hinunterzuschlucken. Ein armseliger Trost. Meine Kleidung fühlte sich vom feuchten Waldboden ganz klamm an, lag schwer auf der geschundenen Haut.

Wieder zuckte Miles. Dann spürte ich, wie er seine Muskeln anspannte.

„Hast du was gehört?“, raunte ich ihm zu.

Er schüttelte seinen Kopf, schwieg. Kurz darauf war er wieder eingeschlafen. Zwischen den Baumkronen zwang die Morgensonne bereits ihr spärliches Licht hindurch, in dampfenden Balken. Noch eine gute Stunde dann würden wir genug Licht haben, um weitergehen zu können.

Bohrende Gedanken hielten mich weiterhin wach. Vater. Was sollte ich für ihn aus den Karten lesen? War es etwa genau das, was gestern mit Gullorway geschah? Aber warum war er dann fortgelaufen? Wäre es nicht seine Pflicht gewesen, die Dorfältesten zu warnen, um Alarm zu schlagen? Seine Familie zu schützen? Es war feige, seine eigene Haut zu retten. Er hatte nichts unternommen, um das Unglück abzuwenden, außer, mich nach meinen Karten zu fragen. Ob er noch lebte?

Und Charise mit ihren gemeinen Anschuldigungen. Wie kam sie darauf, dass die Herren von Kandalar ausgerechnet uns suchten? Ich verachtete sie dafür, dass sie hatte schlafen können, als wäre nichts passiert und mir die Schuld an dem Unglück gab. Miles kam als erster auf die Beine und streckte sich. Dann bot er mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Meine Schwester dagegen lehnte seine Hand ab und stand ungelenk auf. „Wie soll es jetzt weitergehen? Hast du einen Plan, wo du ja so gut Bescheid weißt über alles?“, frotzelte ich und sah Charise aus müden Augen an. Trotz oder gerade wegen des Schlafmangels hatte ich immer noch genügend Gift in mir, dass ich nur zu gern bereit war, ihr entgegen zu sprühen. „Wir sollten nach einem Bach suchen. Vielleicht gibt es da Fische oder andere, essbare Tiere“, versuchte Miles die Situation zwischen uns zu entschärfen. Er hatte ja Recht. Doch ich fühlte mich dermaßen desillusioniert, dazu dieser nagende Hunger und unsägliche Durst, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte „Gehen wir“, sagte Charise knapp und machte sich auf den Weg, ohne auf uns zu warten. Wir waren etwa zwei Stunden gelaufen, als sich die Vegetation um uns herum zu verändern begann. Das vertrocknete Laub der Bäume wich allmählich einer Graslandschaft auf offenem Gelände. Charise zögerte. Hier würden wir wie auf dem Präsentierteller laufen. Doch auch die Sonne war unser Feind. Ohne einen Tropfen Wasser und der Aussicht auf Nahrung würden wir nicht lange durchhalten. „Irgendeine Idee, wo wir hier sind?“, fragte Miles an uns beide gerichtet. Ich zuckte mit den Schultern, Charise schüttelte den Kopf. „Könnte es Alebas sein?“, bohrte er weiter. „Zu weit weg.“ „Kandalar?“ „Nein. Außerdem wäre das gar nicht gut, dann würden wir den Herren von Kandalar direkt in die Arme laufen.“ „Woher willst du das wissen, oder warst du schon mal da?“, fragte ich sie. „Nein, ich habe einfach in der Schule aufgepasst.“ Selbst in dieser Situation versuchte sie, sich aufzuspielen. Charise blickte zum Himmel, folgte dem Lauf der Sonne, als würde sie sich mit den Himmelsrichtungen auskennen. „Nein, ich denke nicht, dass wir Kandalar vor uns haben. Vorher müssten wir auf Abylane treffen.“ „Liegt das nicht weiter nördlich?“, beharrte Miles seinerseits. „Was auch immer, lasst uns irgendwie versuchen aus der Sonne zu kommen“, stöhnte ich. Meine Haut brannte wie Feuer. Schatten gab es nirgendwo nur endlose Steppe. Kein Wasser, geschweige denn irgendetwas, das wir essen konnten. Mittlerweile knurrte mein Magen unerhört laut. Charise warf mir jedes Mal einen genervten Blick zu, dabei musste es bei ihr und Miles doch genauso sein. „Kandalar oder nicht, müssten wir nicht irgendwann mal auf ein verdammtes Dorf oder eine größere Siedlung treffen?“, fragte Miles nun erschöpft. Momentan konnte ich nicht einmal mehr sagen, wie lange wir schon gelaufen waren. „Sollten wir wirklich Richtung Kandalar unterwegs sein, dann wäre Alebas der nächste Ort, aber noch Stunden entfernt“, stellte Charise klar. „Von mir aus Alebas oder was auch immer. Ich habe die Landkarte nicht auswendig gelernt.“ Na prima. Ging das jetzt wieder von vorn los? Mein Gefühl sagte mir, das wir weiter westlich unterwegs waren. Aber ich war zu erschöpft und resigniert, um etwas zu erwidern. Wir liefen weiter, ohne Plan. Die Stimmung war inzwischen auf den Nullpunkt gesunken, wenn es denn noch tiefer ging. Da sahen wir in der Ferne ein dunkelgrünes Band am Horizont flimmern. Entweder wieder ein Waldgebiet oder eine Siedlung. Jedenfalls hoffte ich, dass wir dort endlich Schatten vorfinden würden und vor allem Essen und Trinken. Wenn mein Gesicht so aussah, wie es sich anfühlte und bei Charise zu sehen war, dann würden wir beide zum Abend mehr als nur einen kräftigen Sonnenbrand haben. Miles dagegen schien die Sonne nicht so viel auszumachen. Er sah bestenfalls leicht gebräunt aber nicht verbrannt aus, soweit ich das unter dem Schmutzfilm auf seiner Haut erkennen konnte. Der Streifen am Horizont entpuppte sich als weiteres Waldgebiet, doch anders als die Wälder, an denen wir bisher vorbeigekommen waren. Auch war die Luft jetzt nicht mehr heiß und trocken, sondern feuchtwarm, schwül. Aber es gab endlich Schatten, vielleicht auch Wasser, einen See, irgendetwas. Wir stolperten hinein. Es roch modrig, wie etwas das verrottet. Der Boden war weich, nass. Also musste es hier Wasser geben. Hoffnungsvoll gingen wir weiter. Um uns herum nur Gras, Büsche und hohe Bäume. An den Ästen hingen braungrüne Flechten wie löchrige Tücher, die jemand zum Trocknen aufgehängt hatte. Kein Wasser weit und breit. Erschöpft ließen wir uns auf einem umgekippten Baumstamm nieder und sahen uns um. Plötzlich aufziehende Nebelschwaden erlaubten uns höchstens dreißig, vielleicht vierzig Meter weit zu sehen. Die Konturen um uns herum verschwammen. „Hier muss es doch verdammt nochmal Wasser geben.“ Miles sprach aus was wir alle dachten. Doch der Nebel nahm uns jegliche Orientierung. Wir konnten kaum den Pfad erkennen, den wir soeben gegangen waren. Wir standen wieder auf, hielten uns bei den Händen, um uns nicht zu verlieren. Charise ging voran, dann Miles und ich bildete das Schlusslicht. Mittlerweile liefen wir durch knietiefes Gras, der Boden federte bei jedem unserer Schritte und hinterließ schmatzende Geräusche. Und plötzlich war da noch ein anderer Laut. „Wartet mal. Ich habe was gehört.“ Ich blieb stehen und lauschte. „Da folgt uns etwas.“ Miles flüsterte nur noch. „Was sollte uns denn hierhin folgen? Wir laufen seit Stunden, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein.“ Charise wollte weiter. „Scht. Hör doch mal.“ Es kam näher. Platschende Geräusche und Fiepen. Wo hatte ich dieses Fiepen schon einmal gehört? Gelblinge, schoss es mir durch den Kopf. So hatten sich die Gelblinge in Gullorway angehört. „Ich glaube, die Gelblinge sind uns gefolgt. Wir müssen hier weg. Los! Lasst uns den Pfad verlassen!“, versuchte ich sie zu bewegen. „Warte, warte. Wir wissen nicht von welcher Seite sie …“ Miles brach ab. Jetzt hörten wir aus der Ferne Stimmen. Männerstimmen in einer fremden Sprache, mit gedehnten Wörtern. Die Herren von Kandalar. Wir saßen in der Falle. Wenn doch bloß dieser verdammte Nebel nicht wäre – aber vielleicht war auch genau das unser Glück, verbarg uns vor den Feinden. Die Stimmen schienen aus allen Richtungen zu kommen, umherzuwehen. Ich gab Miles und Charise ein Zeichen mir zu folgen und hoffte, den Herren von Kandalar nicht direkt in die Arme zu laufen. Der Boden unter uns schmatzte bei jedem Schritt, wurde breiiger und zerrte an unseren Schuhen. Mannshohes Schilf umgab uns nun und bot neben dem Nebel zusätzlichen Schutz. Wir warteten, während der Untergrund immer schwammiger wurde. Charise wollte etwas sagen, unterließ es jedoch als das Fiepen und die Männerstimmen wieder näherkamen. „Sie m-ü-s-s-en hier irgendwo sein. Ich kann sie spüren. Le marin de Schtedoor.“ Sie verfielen wieder in ihre unverständliche Sprache, entfernten sich ein wenig. Das Fiepen der Gelblinge folgte ihnen. Dann der markerschütternde Schrei eines Tieres. „Das ist Moorgebiet, Neschwirr-Guhl. Die Gelblinge sinken schon ein, wir können nicht …“ „Sag m-i-r nicht was wir können und was nicht.“ Die restlichen Worte gingen unter im Gekreische der Gelblinge. „Habt ihr das gehört?“, flüsterte Miles. „Wir stecken im Moor. Wir müssen hier fort, bevor wir auch versinken.“ Angst schnürte mir die Kehle zu. Als wir uns fortbewegten war es, als ob der Boden uns für sich behalten wollte, an unseren Beinen zog. Wir bekamen einen kräftigen Zweig zu fassen und konnten uns befreien. Lauschten, warteten und gingen in kleinen Schritten vorwärts, hoch konzentriert und fiebrig vor Panik. Das Stimmengewirr entfernte sich immer weiter, bis es schließlich ganz erstarb. Wir wagten uns kaum von der Stelle aus Angst, sie wieder auf unsere Spur zu bringen. Aber wir mussten weiter. Langsam setzten wir uns wieder in Bewegung. Wir waren eine gefühlte Ewigkeit unterwegs, als sich der Nebel etwas lichtete. „Da vorne, seht ihr das?“ Miles war ganz aufgeregt. „Ein See, jedenfalls sieht es so aus.“ Er rannte fast. Jede Vorsicht außer Acht lassend stolperten wir ihm hinterher. Plötzlich brach Miles durch den Boden, versank knietief im Moor. Und je mehr er versuchte sich zu befreien, desto tiefer geriet er hinein. „Miles! Nicht bewegen!“, forderte ich ihn voller Panik auf. Dabei hielt ich ihm unsere Angel hin, zog sie gleich wieder zurück, weil der Angelhaken noch daran baumelte. Mit zittrigen Fingern schnitt ich ihn ab. „Avery, was machst du denn? Tu doch endlich was, verdammt!“ Charise stand schreckensbleich neben mir, selbst unfähig irgendetwas zu unternehmen. Ich hielt Miles nun das dicke Ende der Angel hin, damit er besser danach packen konnte, doch durch die nebelfeuchten Hände bekam er keinen Halt und die Angel entglitt ihm. Stattdessen sackte er weiter ein, nun bis zu den Hüften. Auch ich war ein Stück nach vorne gerutscht in das Moor, konnte mich jedoch mit einem rückwärtigen Schritt befreien. „Warte Miles. Wir versuchen etwas anderes.“ „Aber macht schnell. Irgendwie ist dieses eklige Zeug verdammt kalt.“ „In Ordnung, aber versuch, dich nicht zu bewegen.“ „Du hast Humor.“ Wieder war er ein Stück tiefer gesunken. Charise und ich suchten fieberhaft nach etwas, womit wir ihn herausziehen konnten. Wir schleppten Zweige an, doch die waren zu dünn. Wir trugen einen kleinen Baumstamm zu ihm, nach dem Miles griff und zogen mit vereinten Kräften, doch wir bekamen ihn nicht frei. Charise und ich schleppten ein, zwei längere Baumstämme herbei. „Hilf mir, Charise. Wir müssen sie rechts und links von Miles legen, wie eine Leiter. Vielleicht kann er sich dann mit den Armen darauf abstützen und sich etwas nach oben ziehen.“ „Aber das Moor ist doch überall, wie sollen denn die Stämme …“ „Ich dachte ja nur, weil Holz schwimmt und so.“ „Könntet ihr jetzt mal aufhören zu debattieren? Mir ist echt saukalt!“ Seine Stimme bebte und allmählich ließen wohl auch seine Kräfte nach. „Hier drin ist es so kalt wie in einem Grab.“ „Miles, hör auf so etwas zu sagen!“ Tränen der Hilflosigkeit liefen mir übers Gesicht. Da. Etwas bewegte sich in den Sümpfen seitlich von Miles, kam auf ihn zu. Entsetzt blickte ich in die Richtung. „Miles, nicht bewegen. Da kommt …“ „Ich kann mich eh nicht mehr bewegen. Oh, verdammt. Was ist das denn?“ Doch Charise schrie schon wie am Spieß. „Ein Krokodil. Es kommt …“ „Halt endlich die Klappe, Charise! Prima. Jetzt hat es uns entdeckt.“ In Windeseile ging ich gedanklich die Möglichkeiten durch, die uns blieben. Wir mussten das Tier irgendwie von Miles ablenken. Ich zog die Blechbüchse aus dem Rucksack und schwenkte sie hin und her. Davon abgelenkt drehte das Reptil seinen flachen Kopf und steuerte langsam auf mich zu. Ich bewegte mich immer weiter von Miles und Charise fort, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Dabei hoffte ich, nicht selbst im Moor zu versinken. Jetzt konnte ich den schlammbraunen Kopf des Krokodils erkennen, sein Maul mit den messerscharfen Zähnen. Fast sah es aus, als würde es mich anlächeln. „Avery, spiel jetzt nicht die Heldin!“, rief Miles mit angstvoller Stimme und mein Ablenkungsmanöver verfehlte seinen Zweck. Das Krokodil ließ von mir ab und schwamm geradewegs wieder auf Miles zu, der nun in wilder Panik zu strampeln begann. Ich schrie, Charise schrie, doch diesmal war das Reptil nicht zur Umkehr zu bewegen. Dann war es nur noch wenige Meter von Miles entfernt. Ein letzter, kraftvoller Stoß und es schoss aus dem Moor hervor. Das Wasser schien zu brodeln. Arme, Beine und das schnappende Maul des Krokodils gerieten in einen wilden Strudel, bevor sie im Sumpf versanken und nicht mehr auftauchten. Fassungslos starrte ich auf die Stelle, wo Miles verschwunden war. Vor unseren Augen einfach verschwunden. Es war, als wäre ich mit ihm in die Tiefe gezogen worden. Starr vor Entsetzen haftete mein Blick auf die Stelle, konnte sich nicht lösen. Ich fiel auf die Knie, geschüttelt von Weinkrämpfen. Charise nahm mich in die Arme, steif, unbeholfen. Ihr fehlten die Worte ebenso wie mir. Dafür gab es keine Worte. Mein Freund Miles war getötet worden. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihn nicht hatte retten können. Alles brach mit einem Mal über mir zusammen. Ich heulte wie ein Tier. Stundenlang. Ohne Tränen, denn dafür hatte ich keine Flüssigkeit mehr in mir. Es war mir egal, ob die Herren von Kandalar mich hören konnten. Mir war alles egal. Als das Tageslicht zu schwinden begann, war es schließlich Charise die mit leiser, kratziger Stimme sprach. „Wir müssen weiter, Avery.“ Ich nickte matt und kam wieder auf die Beine. War es das, was das Leben für mich vorgesehen hatte? Einfach weiterlaufen bis zum Umfallen? Wer würde als Nächstes sterben? Charise oder ich? Wir machten uns auf. Dumpf vor seelischem Schmerz. Links, rechts, rechts, geradeaus, links. Eine Ewigkeit. Die Angelruten benutzten wir inzwischen als Wanderstab, stachen in den Boden vor uns und um uns, damit wir nicht wieder ins Moor gezogen wurden. Aber wer konnte schon wissen, was sonst noch für Überraschungen auf uns lauerten? Der Boden wurde fester, trittsicherer. Dafür nahm die schwüle Luft zu, trieb uns den Schweiß aus den Poren, quetschte uns aus wie eine Zitrone. Ein leichtes Rauschen, wie von Wind, war in der Ferne zu hören, dabei bewegte sich kein Lüftchen. Charise schien es auch gehört zu haben, doch reichte unsere Spucke nicht einmal mehr zum Sprechen. Ich nickte stumm in die Richtung, aus der das Rauschen kam. Wir gingen weiter bis das Geräusch zu einem Donnern anwuchs. Ein feiner, kühlender Sprühnebel benetzte unsere Haut und plötzlich tat sich vor uns ein steinernes Wasserbecken auf, gespeist von einem tosenden Wasserfall. Etwas derartig Gewaltiges hatte ich noch nie gesehen. Wie aus dem Nichts stürzten die Wassermassen über moosige Felsvorsprünge und bildeten einen dichten Vorhang. Rechts und links oberhalb der Felsen reckten sich üppig grüne Baumkronen in den Himmel. Der Durst trieb uns zum Wasser, doch versperrten uns scharfkantige, moosbewachsene Findlinge den Weg. Wie Betrunkene strauchelten wir weiter, stolperten und fielen, schürften Knie und Hände auf, bis wir endlich einen Zugang zum Fluss fanden. Schließlich ließen wir uns völlig entkräftet am Uferrand nieder, schöpften mit bloßen Händen das rettende Wasser. Ich trank und würgte, würgte und trank, bis der Durst fürs Erste gestillt war. Vorsichtig wusch ich mir anschließend den Schmutz von der Haut, kühlte die sonnenverbrannten Stellen und die Mückenstiche. Am liebsten wäre ich direkt in den Fluss hineingesprungen, um ein Bad zu nehmen. So viel Wasser. Niemand hatte uns in der Schule gelehrt, dass es westlich von Gullorway so etwas Fantastisches gab. Man sprach immer nur von den Sümpfen und dass sie undurchdringlich wären, dass ein seltsam kriegerisches Volk mit Pfeil und Bogen darin lebte. Ein Stück weiter, wo der Boden wieder ebener zu werden begann, stieß ich auf Flusskrebse. Blau schimmernd und sie waren viel größer und fetter, als bei uns am Mukonor. Bevor das Tageslicht völlig erlosch, griff ich nach den zappelnden Krebsen, zerdrückte sie auf einem Stein und aß sie roh. Charise sah mir zu und würgte, doch versuchte sie es kurze Zeit später selbst. Wenn wir nicht verhungern wollten hatten wir keine andere Wahl. Wir bekamen noch ein paar dieser Krebse zu fassen, bis die restlichen das Weite suchten. „Und jetzt? Was essen wir jetzt?“, fragte Charise und hatte wieder diesen anklagenden Unterton in der Stimme. „Ich schätze, für heute war das alles. Das Tageslicht schwindet bereits und wir brauchen ein Lager für die Nacht. Morgen suche ich nach Kräutern und angle was für uns.“ „Und damit kennst du dich aus?“ „Wir werden sehen.“ Kaum das die ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen erschienen, begab ich mich auf die Suche nach einem passenden Köder für die Angel. Ich fing ein paar von den bläulichen Krebsen und steckte sie in Miles Dose. Während ich Charise mit dem Sammeln von Holz beauftragte, warf ich die Angel aus und hoffte, dass in dem tosenden Strom überhaupt Fische schwammen. Für die atemberaubende Umgebung mit dem wundersamen Wasserfall hatte ich kaum ein Auge. Ich war nur damit beschäftigt Nahrung zu finden, irgendetwas, das wir jetzt gleich essen konnten, damit der bohrende Schmerz in meinem Magen endlich aufhörte. Der Schmerz in meinem Herzen hingegen würde bleiben. Immer wieder stellte ich mir die Frage, warum Gullorway und warum hatte es Miles treffen müssen? Wie hatten uns die Herren von Kandalar gefunden und hatte Charise am Ende Recht mit ihrer Behauptung, dass sie nach uns suchten? „Wie viel Holz soll ich denn noch heranschleppen? Außerdem ist alles nass“, maulte sie. Wortlos nahm ich ihr den Stapel ab, hin und wieder einen Blick auf die Angel werfend. Dann schabte ich mit dem Messer die feuchte Rinde ab, legte sie zum Trocknen auf einen der Steine und schnitzte kleine und größere Späne. In eines der flacheren Hölzer bohrte ich mit dem Messer eine Mulde hinein und fixierte das Holz dann mit dem Fuß auf dem Boden. Schließlich wählte ich einen kleinen, runden Stock, steckte ihn in die geschnitzte Vertiefung und begann ihn zwischen meinen Händen zu zwirbeln. Charise wies ich unterdessen an, kleinere Hölzer und Holzschnitzer aufzuschichten. „Wozu soll das gut sein?“ Sie schüttelte den Kopf, befolgte aber meine Anweisungen. „Vielleicht, um Feuer zu machen?“ Mir stand inzwischen der Schweiß auf der Stirn in dem Bemühen, das Holzstück wenigstens zum Rauchen zu bringen. „Du hättest ihn retten können“, stieß sie unvermittelt hervor, mit einem verkniffenen Ausdruck um die aufgesprungenen Lippen. Sie hockte auf einem Stein, ein Bein baumelte im Wasser. Missmutig folgte sie meinem Tun. Und als ich nicht antwortete setzte sie nach, „Du hättest irgendetwas zeichnen können, um ihn aus dem Moor herauszuholen.“ „Du vertreibst die Fische“, sagte ich mit nur mühsam unterdrücktem Beben in der Stimme, bemüht, ihre Worte nicht an mich herankommen zu lassen. Miles retten? Wie hätte ich etwas zeichnen sollen, ohne Papier und Stift? Heiß gruben sich die Schuldgefühle in meine Seele. „Ach ja? Welche Fische denn?“, konterte sie. Sie nahm den Fuß aus dem Wasser und lief unruhig auf und ab. Sie machte mich wahnsinnig damit, doch sagte ich es ihr nicht. Schließlich war sie die Einzige, die ich jetzt noch hatte. Ich rieb und rieb den Stock zwischen meinen Händen und – tatsächlich stieg ein kleines, dünnes Rauchfähnchen auf. Mit neuem Eifer setzte ich meine Arbeit fort und schließlich brachte ich eine winzige Flamme zustande. „Es funktioniert“, jubelte ich. Stolz hielt ich das glimmende Holz an den aufgeschichteten Stapel und kurz darauf fing dieser Feuer. Eilig brachten wir jede Menge abgestorbener Zweige, trockene diesmal und schichteten sie auf das Feuer. Wir legten Steine darum, um es beisammen zu halten. Wieder kontrollierte ich die Angel. Kein Fisch, dafür war der Köder abgefressen. Also musste es hier Fische geben. Während Charise das Feuer in Gang hielt, suchte ich eine seichtere Stelle im Wasser und dort fand ich tatsächlich ein paar Fische. Ich formte einen neuen Köder aus einem kleinen Stück Rinde und Flusskrebse und diesmal hatte ich Erfolg. Ein dicker Fisch mit Fransen am Maul, wie bei einem Bart, biss an. Miles wäre beeindruckt. Miles. Sofort wurde ich wieder von Trauer erfasst und Tränen brannten in meinen Augen. „Was ist los? Ist der Fisch nicht genießbar?“ Charise sah mich skeptisch an. „Doch. Es ist nur …“ Mechanisch nahm ich den Fisch vom Haken und tötete ihn mit einem Fausthieb. Ausgenommen und entschuppt bohrte ich ihn anschließend auf einen angespitzten Stock, den ich über dem Feuer hielt. Ungeduldig warteten wir bis er gar war und bissen dann gierig Stücke heraus, lutschten an den Gräten, bis diese blank waren. „Was nun?“ Charise wische sich den Mund ab und stierte in die Glut des Feuers. „Lass uns die Gegend erkunden. Vielleicht können wir eine Weile hierbleiben. Wir haben alles, was wir brauchen. Wasser, Fische, Kräuter. Wenn wir eine Falle bauen, können wir vielleicht größere Tiere darin fangen.“ „Du bist ja die geborene Jägerin“, stellte Charise fest. Doch diesmal meinte sie es anerkennend. Ich las die Kräuter auf, von denen ich wusste, dass sie genießbar waren. Später fing ich noch zwei weitere Fische, die wir über dem Feuer grillten und mit Heißhunger vertilgten. Endlich ließ der Hunger etwas nach und ich konnte wieder einigermaßen klar denken. Ich ließ das Feuer ausgehen, dann griff ich nach meinem Rucksack und der Angel und ging auf den Wasserfall zu. Fasziniert beobachtete ich, wie die Sonne darin einen kleinen Regenbogen entstehen ließ, lauschte auf das Tosen des Wassers und spürte die Kraft, die darin steckte. Ich lief einfach immer weiter bis ich Charise hinter mir rufen hörte. „Avery, wo willst du denn hin? Warte auf mich!“ Sie holte mich ein und gemeinsam gingen wir weiter. Kurze Zeit später trafen wir auf einen verwilderten schmalen Pfad, der in schlängelnden Linien zum Wasserfall führte und dann urplötzlich endete. Hier war das Gestrüpp so dicht, als wollte es uns mit Gewalt davon abhalten weiter zu gehen. Entschlossen zückte ich mein Messer und versuchte einen Durchgang zu schneiden, doch ließ der Wildwuchs dies kaum zu. Dornige Zweige kratzten über Arme und Beine, verfingen sich in meinen Haaren, doch ich beachtete sie kaum. Dann kam mir eine Idee. „Wie hast du mein Messer genannt?“ „Dein Messer? Ich weiß nicht was du …“ „In Gullorway, als ich den Gelbling abwehren wollte. Wie hast du mein Messer da genannt?“ „Lass uns zurückgehen, Avery. Wir wissen nicht, ob sie uns immer noch verfolgen oder Schlimmeres auf uns lauert.“ „Charise, wie hast du mein Messer genannt?“ „YEMAHL.“ „Genau, das war es. YEMAHL!“ Diesmal glitt die Klinge, durch das verwachsene Gestrüpp, als wäre es aus Papier. „Funktioniert das eigentlich auch bei dir?“, fragte ich erstaunt. Charise war bleich geworden und schüttelte den Kopf. „Probiere doch mal. Ich will wissen, ob es bei dir auch diese Kraft entwickelt.“ Ich hielt ihr den Griff meines Messers hin. Mit zitternden Fingern fasste sie danach. Aufmunternd nickte ich ihr zu. Zögernd sprach sie kaum hörbar, „YEMAHL.“ Nichts geschah. „Vielleicht musst du es lauter aussprechen. Versuche es noch einmal.“ „Nein. Es ist dein Messer.“ Entschieden hielt sie mir den Knauf wieder hin. „Aber du kennst seinen Namen. Woher?“ Charise schien mit sich zu ringen, schließlich antwortete sie. „Bevor Vater es dir geschenkt hat, gab er es mir mit diesen Worten und bat mich es auszuprobieren.“ Ihr Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske. „Es ist dein Messer. Können wir jetzt wieder gehen?“ Sie wandte sich abrupt um. „Nein. Erst will ich wissen, wohin dieser Weg führt.“ Energisch setzte ich meinen Dolch abermals mit den magischen Worten ein, wenn ich auch nicht wusste, wie es funktionierte und warum nur bei mir. Ob das auch so eine Geschichte war wie die mit den Bildern, die ich zum Leben erwecken konnte? Inzwischen hatte ich das Gestrüpp soweit zurückgeschnitten, dass ich den Weg fortsetzen konnte. Und tatsächlich führte der Pfad nun weiter zu einer kleinen Plattform hinter dem Wasserfall. „Charise, das musst du dir ansehen!“, rief ich begeistert und verstaute den Dolch wieder im Rucksack. Was war das für ein fantastisches Schauspiel, sich hinter dem Wasserfall zu befinden. Weiß schäumend stürzten die Massen hinab in einem breiten, undurchdringlichen Vorhang aus Wasser. Charise folgte mir vorsichtig über den glitschig steinernen Weg. Ein Stück weiter rechts, hinter einem Vorsprung tat sich plötzlich der Eingang einer Höhle auf. „Da willst du doch jetzt wohl nicht hinein?“ „Warum nicht? Vielleicht bietet sie uns Schutz und wir können eine Weile hierbleiben.“ „Und wenn es darin wilde Tiere gibt, die auf uns lauern? Das Krokodil kam auch aus dem Nichts.“ Sofort fühlte ich mich wieder an das schreckliche Erlebnis erinnert, sah Miles vor mir, wie er mit dem Reptil im Moor um sein Leben kämpfte und versank. Die Luft zum Atmen wurde mir mit einem Mal knapp und ich musste mich an der Felswand abstützen. „Wäre ein Tier darin, hätte es uns schon lange aufgespürt.“ „Vielleicht schläft es am Tag und jagt in der Nacht“, räumte Charise ein und hatte damit nicht ganz Unrecht. „Aber es muss doch einen Sinn haben, dass dieser Weg direkt hierhin führt“, beharrte ich. „Ein Weg, den schon lange niemand mehr genommen hat. Ich bleib jedenfalls nicht hier. Draußen können wir noch einigermaßen weit schauen aber hier drin? Was ist, wenn es dunkel wird?“ Entschlossen trat sie den Rückweg an, ich dagegen blieb. Nach einiger Zeit kam sie mit hastigen Schritten wieder zurück. „Ich habe was gesehen an unserem Lagerplatz“, stieß sie atemlos hervor. „Ein Tier!“ Jetzt trieb sie mich geradezu in die Höhle. „Was denn für ein Tier?“ „Keine Ahnung. Nicht sehr groß. Vielleicht ein Hund. Nein, kein Hund. Irgendwie – ach ich weiß auch nicht. Lass uns weitergehen, bevor es uns findet.“ Vorsichtig betraten wir die Höhle. Tastend, zunächst völlig im Dunkeln. Ein Stück weiter machte die Höhle eine kleine Biegung, an deren Ende ein Streifen Licht sichtbar wurde. Als wir darauf zugingen, entpuppte sich das Licht als ein von der Natur geschaffenes Tor, das zum Ufer eines Bachlaufs führte. An dieser Stelle war der Wasserfall kaum noch zu hören. Hier gab es jede Menge kleinere Wasserzuläufe, die in glasklaren Adern zu einem einzigen Fluss fanden. Ich steuerte darauf zu und prüfte die Tiefe. Das Wasser reichte mir hier bis knapp unterhalb des Knies. „Was hast du vor?“, fragte Charise. „Lass uns ein Stück durch den Fluss waten. Vielleicht können wir so unsere Spuren verwischen, falls uns das Tier folgen sollte.“ „Wenn du meinst.“ Doch zuvor säuberte ich mit dem klaren Wasser die Wunden, die mir die Dornen in die Haut geritzt hatten. Erst jetzt bemerke ich, wie seltsam heiß und geschwollen sie sich anfühlte. Auch meine Wade schmerzte, als hätte mich etwas gestochen. „Wo hast du dir das denn eingefangen?“, Charise bemerkte es auch. Doch ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, falls uns tatsächlich irgendetwas verfolgte. So liefen wir eine ganze Weile durch den eiskalten Fluss und warfen immer wieder einen Blick zurück, ob uns etwas folgte. „Können wir jetzt mal wieder auf einem festen Weg gehen?“, maulte Charise. „Mir frieren fast die Füße im Wasser ab.“ Mir dagegen wurde es immer heißer und ich hatte das Gefühl, als besäßen meine Arme inzwischen den doppelten Umfang. Auch fühlten sich mein Mund trocken und die Zunge geschwollen an. Vielleicht waren die Dornensträucher giftig gewesen. „Das sieht aber gar nicht gut aus, Avery.“ Ängstlich betrachtete Charise meine angespannte Haut. Schweiß rann mir übers Gesicht und brannte in den Augen. „Du glühst ja. Verdammt. Was sollen wir denn jetzt tun?“ „Kühlen, ich muss die Haut kühlen.“ Das Sprechen fiel mir schwer. Der Rucksack schien plötzlich mehr als das Doppelte zu wiegen. Ich ließ ihn zu Boden gleiten und setze mich daneben. Dann wühlte ich mit zittrigen Fingern darin herum. Bei den Kräutern, die ich gesammelt hatte, war auch Arnika gewesen. Nicht viel aber vielleicht würde ich eine kleine Paste daraus zubereiten können, die ich mir auf die Haut auftragen konnte. Ich zerrieb die Blütenteile der Arnika zwischen den Fingern und ließ sie in die Blechdose bröseln, wo ich sie im Wasser aufquellen ließ, bis ein dünner Brei entstand. Doch ich hatte viel zu wenig gesammelt. Die Menge reichte kaum für einen Arm aus, selbst wenn ich die Tinktur sparsam auftrug. Von den Pflanzen, die hier wuchsen, kannte ich sonst keine und verspürte auch keine Lust auf weitere Experimente. Mittlerweile stellte sich auch wieder Hunger ein. Wir würden etwas jagen müssen, doch wie? Von Fisch allein konnten wir uns nicht alle Zeit ernähren. Ich versuchte einen Speer zu schnitzen, doch zitterten meine Hände so stark, dass er krumm und unbrauchbar wurde. Daraufhin hielt ich die Angel in den Fluss, doch ohne Köder war sie nutzlos. Jeder Gedanke fiel mir von Minute zu Minute schwerer. Ich konnte mich nicht konzentrieren, hatte keinen Plan und die Hitze schien mich nun auch von innen her zu verbrennen. „Lass uns einen Moment ausruhen, Charise. Es ist so verdammt warm hier, so schwül.“ Charise hielt ihre Hand an meine schweißnasse Stirn. „Du hast Fieber.“ „Ich weiß.“ „Sollen wir zurück zum Wasserfall?“ Ich schüttelte matt den Kopf. „Nein. Nur eine kleine Pause, dann lass uns nach einem Lager für die Nacht suchen.“ „Und dann?“ „Ich weiß es doch auch nicht.“ „Dann können wir genauso gut hierbleiben.“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor die Brust. Wir hörten das Krächzen einer aufgeschreckten Vogelschar über uns. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Charise sah mich resigniert an. „Na gut. Gehen wir weiter, wenn ich auch keine Ahnung habe, wonach wir eigentlich suchen.“ Ich schulterte meinen bleischweren Rucksack und wir machten uns auf, immer am Fluss entlang, bis dieser sich schließlich irgendwo zwischen seltsamen Farnen und Wurzeln im Boden verlor. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren, aber ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Bald musste ich mir eingestehen, dass jeder Platz so gut oder so schlecht wie der nächste war. „Mir reicht es. Ich gehe kein Stück mehr weiter. Ich komme um vor Hunger und du siehst von Minute zu Minute schlechter aus“, zeterte Charise. „Vielen Dank.“ „Im Ernst, Avery. Es macht keinen Sinn, wenn du zusammenklappst. Ich habe keine Ahnung von Kräutern, der Jagd oder so etwas. Außerdem steigt dein Fieber, du redest schon wirres Zeug.“ „Tu ich das?“ „Ja.“ Tatsächlich hatte ich das Gefühl nicht mehr zu wissen, ob ich wach war oder träumte. Und wenn ich mir Charise so besah, schienen Mückenstiche und Sonnenbrand ihr auch ganz schön zuzusetzen. Sie kratzte sich ständig und hinterließ blutige Striemen auf ihrer Haut. „Dann lass uns wenigstens nach etwas Essbarem suchen“, gab ich kraftlos von mir und schob einen Zweig beiseite, der sich über unseren Weg bog. „Tun wir das denn nicht schon die ganze Zeit?“ „Sicher aber …“ Ohne Vorwarnung gab es ein surrendes Geräusch, dann wurden wir von den Beinen gerissen. Die Welt begann sich zu drehen und stand plötzlich Kopf. Ich glaubte, Charise schreien zu hören, doch es war meine eigene Stimme. Dann baumelte ich in einer Art Netz. Mein Rucksack war mir über den Hinterkopf gerutscht, die Verschlussschnalle drückte dagegen. Panik schnürte mir den Brustkorb zu. Stimmengewirr umgab uns. Während ich immer noch leicht hin und her schaukelte, sackte ich unvermittelt ein Stück dem Boden entgegen. Dann erhielt ich einen schmerzhaften Schlag und um mich herum wurde es dunkel …