Hinter seinem Rücken

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Tja“, begann ich aufgesetzt heiter, als ich auf die beiden zuging, „da haben Sie heute eine ziemliche Überraschung erlebt, wie mir berichtet wurde.“ Ich reichte zuerst Frau Brecht und anschließend ihrem Gatten die Hand. „Wenn man nicht alles selbst kontrolliert! Mich hat heute ein Notfalltermin davon abgehalten, bei dem Einbau Ihrer Küche vor Ort zu sein, was ich sehr bedaure. Sonst wäre ich vorhin natürlich bei Ihnen gewesen und hätte Ihnen ... mit Rat und Tat zur Seite gestanden.“ Ich zwang mich, meinen Redeschwall zu unterbrechen. Schließlich hatte ich nur eine Viertelstunde Zeit.

„Ja, ... wir waren doch leicht verwundert“, erwiderte Herr Brecht etwas lahm, als ich dem Paar in den Flur ihrer Wohnung folgte. „Schließlich hatten Sie uns doch von Hochglanz abgeraten, und nun wurde Hochglanz geliefert.“

„Ja, da ist etwas bei der Lieferung schiefgelaufen“, erklärte ich. „Wie gesagt: Wenn man nicht alles selbst kontrolliert.“ Ich zeigte auf eine grün-weiß gemusterte Bodenvase, die neben der Garderobe stand und einen bunten Stoffblumenstrauß beinhaltete. „Oh, hatten Sie die beim letzten Mal auch schon, als ich hier war? Die sieht ja entzückend aus. Und gibt dem Flur gleich ein besonderes Flair.“

„Doch, die haben wir schon länger“, bestätigte Frau Brecht. „Die Vase gehörte meiner Mutter. Die soll auch einiges wert sein.“

„Das sieht man ihr auf jeden Fall an.“

Herr und Frau Brecht betraten den großen quadratischen Raum, in dem sich die Küche befand. Ich blieb in der Tür stehen, um den ersten Eindruck in mich aufzunehmen. Der dunkelbraun geflieste Boden und die schlichte, edle Deckenleuchte aus Chrom machten sich wunderbar. Statt des Küchentischs gab es in der Mitte des Raums nun einen modern wirkenden hohen Block mit saharabeiger Hochglanzoberfläche und darum herum vier Hocker, deren Sitzpolster und niedrige Lehnen mit cremefarbenem Kunstleder bezogen waren. Ich hatte dem Ehepaar zur pflaumenfarbenen Polstern geraten, um das Ganze etwas aufzulockern, doch das hatten die beiden abgelehnt, da es zu gewagt sei, aber auch die cremefarbenen Bezüge machten sich in der Küche sehr schön. Zwei der Wände wurden von den beigen Hochglanzküchenfronten eingenommen. Die Arbeitsplatten waren dunkelbraun und in edler Marmoroptik. Die Wände unter den Oberschränken waren mit Kunststoffplatten verkleidet, die mit überdimensionalen Kaffeebohnen und Limettenscheiben bedruckt waren. Die Küche war ein Meisterwerk. Nur dass ich das Ehepaar überredet hatte, Seidenmatt statt Hochglanz zu wählen.

„Das ist ...“, begann ich. Dann wandte ich mich an Herrn und Frau Brecht. „Aber sagen Sie selbst: Wie gefällt es Ihnen?“

„Ja ...“, antwortete Herr Brecht. „Ganz gut. Oder, Mathilde?“

Seine Frau nickte. Dann fügte sie etwas zögernd hinzu: „Aber Sie sagten doch, dass Hochglanz billig aussieht und wir lieber Seidenmatt nehmen sollten.“

„Da haben Sie mich etwas missverstanden“, behauptete ich, obwohl mich Frau Brecht durchaus richtig verstanden hatte. „Hochglanz kann – ich würde es eher ‚gewöhnlich‘ als ‚billig‘ nennen - wirken, und dieses Risiko wollte ich vermeiden. Aber in Ihrem Fall ... Ich meine: Wow! Sehen Sie sich doch nur dieses Schmuckstück von einer Küche an!“

Herr und Frau Brecht sahen sich gehorsam um.

„Besser geht es doch gar nicht, oder etwa nicht? Man kann fast von Glück reden, dass der Lieferant einen Fehler gemacht hat. Zumal die Küche für Sie nun durch die Hochglanzfront auch noch um einige Hundert Euro günstiger wird.“

„Ach ...?“, zeigte sich Herr Brecht verblüfft.

„Das soll natürlich nicht heißen, dass ich Ihnen die Küche aufschwatzen will“, stellte ich klar. „Wir können die Fronten natürlich austauschen. Es dauert aber ein paar Wochen, bis die neuen geliefert sind. Da haben Sie sich dann gerade an Ihre neue Küche gewöhnt, fühlen sich darin pudelwohl, und dann gerät wieder alles durcheinander ... Renovierungen sind ja immer mit Schmutz und Umständen verbunden. Aber das müssen Sie selbst wissen. Ich will Ihnen nicht in Ihre Entscheidung hineinreden.“

Herr Brecht sah seine Frau an. „Also, was meinst du, Mathilde?“

„Sie ist ja wirklich schön ...“, gab Frau Brecht zu. „Oder gefällt sie dir nicht, Hans-Günther?“

„Doch, doch“, stimmte Herr Brecht zu. „Aber du wirst ja hauptsächlich darin kochen, backen und was weiß ich nicht alles. Dir muss sie in erster Linie gefallen, Mathilde.“

Herr Brecht und ich sahen Frau Brecht erwartungsvoll an.

„Wir behalten die Küche so, wie sie ist“, entschied diese.

„Sehr schön“, versuchte ich, das Gespräch nun schnell zum Abschluss zu bringen. „Das ist die richtige Entscheidung. Sie werden mit dieser Küche sehr glücklich werden. Das spüre ich. Ich wünsche Ihnen beiden noch einen schönen Abend.“

Es war 19:02 Uhr, als ich den Wagen vor dem vierstöckigen Haus parkte, in dem sich die Wohnung befand, die ich seit einigen Monaten mit meinem Freund Torben teilte. Beim zu hektischen Aussteigen verdrehte ich mir das Bein, dass es schmerzte. Ich zwang mich, dennoch schnell die Treppe bis in den dritten Stock hinaufzulaufen, und schloss mit zitternden Fingern die Wohnungstür auf. Im Wohnzimmer hörte ich den Fernseher. Gut. Noch in Jacke und Straßenschuhen steckte ich meinen Kopf zur Wohnzimmertür hinein. Torben saß auf dem Sofa und sah sich eine seiner geliebten Tiersendungen an, während ihm seine Katze Miezi auf seinem Schoß Gesellschaft leistete.

„Bin wieder da“, flüsterte ich und küsste Torben auf den Kopf.

Er sah lächelnd zu mir hoch und griff nach meinem Arm. „He, schön, dass du endlich zu Hause bist. Soll ich dir das Gulasch aufwärmen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich ... muss noch was für die Firma erledigen.“

Torben sah mich entgeistert an. „Was, jetzt noch?“ Besorgt fuhr er fort: „Du darfst dich nicht so ausnutzen lassen. Das geht doch nicht, dass du ständig so viel arbeitest. Du wirst noch krank davon werden.“

Ich hatte jetzt keine Zeit für Diskussionen. „Wir sprechen nachher, okay? Wenn ich dein Gulasch genieße.“ Ich gab meinem Freund noch einen flüchtigen Kuss, verließ eilig das Wohnzimmer und verschwand in dem Raum, den ich als Bügel- und Arbeitszimmer sowie als Abstellraum nutzte.

Während mein Laptop hochfuhr, zog ich hastig meine Jacke aus, warf sie achtlos auf das Sofa, das früher in meiner Wohnung gestanden hatte, und kickte meine Schuhe in eine Ecke. Endlich war es so weit. Es war 19:07 Uhr, als ich mich mit klopfendem Herzen in dem Chat-Room anmeldete. Ich war sieben Minuten zu spät. Black Tiger war bereits online.

Wonder Woman lässt mich warten, schrieb er. Das ist nicht nett.

Du wirst es nicht bereuen, dass Du auf mich gewartet hast, lautete meine Antwort.

Black Tiger: Sag mir, wie Du es wieder gutmachen willst.

Wonder Woman: Nein. Sag Du mir, wie ich es wieder gutmachen soll.

Black Tiger: OK. Dann beschreibe mir erst einmal genau, was für Unterwäsche Du heute trägst. Und wage es ja nicht, auch nur ein Detail auszulassen.

„Das Gulasch schmeckt superlecker!“, lobte ich etwa zwei Stunden später, als ich es mir mit meinem Teller auf dem Schoß neben Torben auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und das Essen gierig in mich hineinschaufelte. Miezi hatte weichen müssen und lag zu Torbens Füßen.

„Ich meine das, was ich vorhin gesagt habe, ernst, Sandra“, erwiderte mein Freund, ohne auf mein Lob einzugehen. „Du kannst dich nicht ständig so ausnutzen lassen und abends zu Hause weiterarbeiten. Wenn dein Chef nicht mit sich reden lässt, musst du darüber nachdenken, dir eine andere Anstellung zu suchen. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich.“

Ich legte meine Gabel auf den Teller und stellte ihn auf dem Wohnzimmertisch ab. Torben konnte richtig niedlich sein, wenn er sich um mich sorgte. Er hatte eine so viel bessere Frau als mich verdient.

„Alles Gute zum Jahrestag“, sagte ich und küsste ihn auf den Mund.

„Du hast es trotz des ganzen Stress bei der Arbeit nicht vergessen, was?“, antwortete er, bemüht, seine Rührung vor mir zu verbergen, und nahm meine Hand.

„Natürlich nicht. Was denkst du denn von mir?“

„Warte einen Moment.“ Mein Freund stand auf und kehrte kurz darauf mit einem Strauß roter Rosen zurück. „Für dich.“ Er reichte mir den Strauß. „Alles Gute zum Jahrestag. Ich bin so froh, dich in meinem Leben zu haben.“

Nun kamen mir fast die Tränen. „Danke“, flüsterte ich. „Die Blumen sind wunderschön.“

„Ich hole dir eine Vase“, bot Torben an.

„Da ist übrigens heute ein recht farbenfroher Briefumschlag für dich angekommen“, fuhr er fort, als die Blumen mit Wasser versorgt waren und in einer Vase auf dem Wohnzimmertisch standen. „Liegt im Flur neben dem Telefon.“

„Den sehe ich mir später an. Jetzt möchte ich erst einmal in Ruhe dein fantastisches Gulasch zu Ende essen.“ Mit diesen Worten nahm ich den Teller vom Wohnzimmertisch und schob mir mit der Gabel einen großen Bissen in den Mund.

Kennengelernt hatten Torben und ich uns vor etwas mehr als einem Jahr auf einer Party, die ein gemeinsamer Bekannter von uns gegeben hatte, obwohl „Bekannter“ eigentlich zu viel gesagt war, denn ich kannte den Gastgeber ehrlich gesagt kaum. Torben war ich noch nie zuvor begegnet. Ich hatte die Party mit meiner besten Freundin Nathalie Steinbrink besucht, mit der ich zur Schule gegangen war und die nun als Polizistin arbeitete. Wegen ihres Schichtdienstes hatten wir nicht so oft Gelegenheit zu abendlichen Unternehmungen, und obwohl ich grundsätzlich offen für alles war, hätte ich lieber einen Abend mit Nathalie allein im Kino oder in einem Restaurant verbracht als auf einer lauten Party im Gedränge zu stehen und von irgendwelchen Leuten vollgequatscht zu werden, die mich nicht interessierten. Nathalie versuchte gern, mich zu verkuppeln, obwohl sie selbst auch Single war. Dass sie unbedingt einen Mann für mich finden wollte, lag an meinem Fehler, ihr von der Online-Singlebörse zu erzählen, bei der ich zu der Zeit angemeldet war, und von den diversen Verabredungen, die ich seitdem gehabt hatte. Nicht alle waren unterhaltsam gewesen, eine sogar so grauenhaft, dass ich im Restaurant, in dem das Treffen stattgefunden hatte, heimlich durch den Hinterausgang verschwunden war. Doch fand ich es im Nachhinein komisch, davon zu erzählen. Nathalie konnte darüber überhaupt nicht lachen, im Gegenteil, sie hielt es für unverzeihlich leichtsinnig, sich mit wildfremden Männern zu verabreden und ihnen in ihre Wohnung zu folgen, wie ich es zugegeben auch schon mehr als einmal getan hatte. Immer wieder hatte sie mich angefleht, von diesen Abenteuern zu lassen, doch das konnte ich nicht. Es war das Aufregendste, das ich in meinem Leben hatte. Insgeheim reizte mich wohl auch die Gefahr, denn theoretisch konnte jeder, den ich nach Hause begleitete, ein gewalttätiger Irrer sein. Ich hörte auf, Nathalie von meinen Erlebnissen zu berichten, dabei hatte ich es genossen, sie mit jemandem zu teilen. Auch Nathalie sprach mich nicht mehr darauf an. Es war wie eine unsichtbare Wand, die zwischen uns stand, und die uns voneinander entfremdete. Umso mehr freute ich mich, als mich meine beste Freundin nach einigen Wochen fast kompletter Funkstille anrief, um mir vorzuschlagen, sie zum dreißigsten Geburtstag eines Bekannten zu begleiten, der bei ihm zu Hause gefeiert wurde.

 

Als mich Nathalie zu der Party abholte, hätte ich sie am liebsten gebeten, stattdessen gemeinsam einen ruhigen Abend bei mir zu verbringen, aber als ich sah, wie viel Mühe sie sich mit ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrem Make-up gegeben hatte, wusste ich, dass ich keine Chance hatte, ihr unser Vorhaben auszureden.

Nathalie stammte ursprünglich aus dem Nahen Osten – sie wusste seltsamerweise selbst nicht einmal, aus welchem Land - und war als Kleinkind nach Deutschland gekommen. Über einige Umwege war sie mit acht Jahren von einem deutschen Ehepaar adoptiert worden, das in derselben Wohnsiedlung lebte wie ich mit meiner Familie. Meine beste Freundin hatte keine schöne Kindheit verbracht. Ihre Adoptivmutter war eine gefühlskalte Frau, die ihre Launen an Nathalie ausließ, und ihr Adoptivvater ein schweigsamer Mann, dem alles egal zu sein schien, auch, dass der Vorname seiner Adoptivtochter auf Wunsch seiner Frau geändert wurde. Nathalies ursprünglicher Name war Neyla gewesen. Frau Steinbrink hatte damals, um es milde auszudrücken, nicht sehr positiv reagiert, als sie zufällig erfuhr, dass ihre Adoptivtochter mir dies anvertraut hatte.

Die Party fand an einem eisigen Februarabend statt, doch Nathalie hatte zu hohen schwarzen Pumps und einer schwarzen Netzstrumpfhose ein knappes kurzärmeliges schwarzes Kleid gewählt, das sie mit ihrer sportlichen Figur sehr gut tragen konnte. Darüber trug sie nur ein grobmaschiges Häkeljäckchen. Nathalie hatte langes, dickes, dunkelbraunes, welliges Haar, um das ich sie beneidete. Sie hatte es kunstvoll hochgesteckt und eine große goldfarbene Spange an ihrem Hinterkopf befestigt. Ihr Mund war dunkelrot geschminkt und ihre großen dunkelbraunen Kulleraugen schwarz umrandet und mit reichlich Wimperntusche betont. Nathalie redete oft davon, dass ihre Nase zu groß sei, und versuchte mit diesen Schminktricks, davon abzulenken. Obwohl ich diesen Schwachpunkt kannte, hätte ich meine beste Freundin, nachdem wir uns zur Begrüßung umarmt hatten, angesichts ihrer Aufmachung fast im Scherz gefragt, ob sie auf Männerfang sei. Ich wusste, dass das gemein war, und so verbiss ich mir den Kommentar, nicht zuletzt, weil ich ihre sichtlich gute Stimmung nicht verderben wollte.

Ich selbst hatte mir mit meinem Erscheinungsbild weitaus weniger Mühe gegeben. Bis zuletzt hatte ich damit gewartet, mich zurechtzumachen, da mir der Sinn viel mehr nach einem Fernsehabend als nach einer Feier stand. Meine langen schlanken Beine, die ich glücklicherweise von meiner Mutter geerbt hatte, steckten in einer engen verwaschenen Jeans, die ich schon seit Ewigkeiten besaß. Dazu hatte ich einen dünnen roten Pullover mit V-Ausschnitt und schwarze Wildlederstiefel gewählt. Leider hatte ich meiner Mutter auch mein feines hellblondes Haar zu verdanken, das bei feuchtem Wetter dazu neigte, sich zu kräuseln. Damit ließ sich beim besten Willen nicht viel anfangen. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich einen längst fälligen Friseurtermin immer wieder aufgeschoben, so dass meine normalerweise kinnlangen Haare nun fast meine Schultern berührten. Es wäre geschmeichelt gewesen, den derzeitigen Zustand auf meinem Kopf als Frisur zu bezeichnen. Ich hatte einen hellen Teint, blaue Augen und einen – im Gegensatz zu meiner kleinen Nase – breiten Mund. Alles in allem fand ich mein Aussehen ganz passabel. Dass ich mich an diesem Abend bis auf eine Make-up-Grundierung, etwas Puder und Wimperntusche nicht geschminkt hatte, lag allerdings daran, dass ich mir von der Party nicht viel versprach und nicht einsah, weshalb ich mich dafür groß zurechtmachen sollte.

„Du siehst toll aus“, lobte Nathalie mein Erscheinungsbild, und es klang aufrichtig. Ich konnte mir aus ihrem Mund auch keine unehrlichen Worte vorstellen. Trotz ihrer Vergangenheit, über die sie ungern sprach, hatte meine beste Freundin nicht den Glauben an das Gute verloren und war zu allen stets freundlich. Sie war auch Polizistin geworden, um anderen Menschen zu helfen. Für diese unerschütterlich positive Einstellung bewunderte ich Nathalie.

„Ach was, du siehst toll aus!“, widersprach ich.

„Na, dann sehen wir eben beide toll aus“, bot sie mir lachend als Kompromiss an.

„Ist es nicht etwas peinlich, wenn wir bei der Party ohne Geschenk für den Gastgeber auftauchen?“, wagte ich doch noch einen Versuch, den Abend, statt auszugehen, vor dem Fernseher zu verbringen.

„Mach dir keine Sorgen, ich habe etwas besorgt“, erwiderte Nathalie unbeschwert. „Das wird bestimmt gut ankommen. Ich verrate dir nicht, was es ist, ja? Lass dich einfach überraschen.“

„Na gut“, gab ich mich geschlagen, zog meine Winterjacke an und nahm Handtasche und Schlüssel.

Wir erreichten das Haus, in dem die Geburtstagsfeier stattfinden sollte, mit Nathalies Kleinwagen. Ich wunderte mich jedes Mal, dass sie in egal welchen Schuhen fahren konnte. Ich nahm, wenn ich elegante Schuhe trug, zum Fahren immer ein Paar Turnschuhe mit.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde hielten wir vor einem Einfamilienhaus, das in einem Wohngebiet am Stadtrand lag.

„Hat der mit dreißig schon ein eigenes Haus?“, fragte ich beeindruckt, als wir ausstiegen.

Der heißt Max“, erklärte Nathalie freundlich. „Du solltest dir besser den Namen unseres Gastgebers merken. Und es ist das Haus seiner Eltern.“

„Er ... Max wohnt mit dreißig noch zu Hause?“, erkundigte ich mich. Ich wusste über diesen Max so gut wie gar nichts, war ihm bisher höchstens dreimal begegnet.

„Ja ...“, gab Nathalie zögernd zu und ging mit dem kleinen, in buntes Papier eingewickelten Geburtstagsgeschenk in der Hand durch die niedrige Gartenpforte. „Ist eine längere Geschichte.“

„OK, ich kann darauf verzichten. Sehen wir lieber zu, dass wir ins Warme kommen.“

Auf unser Klingeln wurde sofort geöffnet, und vor uns stand Max, ein etwas übergewichtiger Mann mit sehr kurzen blonden Haaren und Brille in einem kurzärmeligen, hellblauen Oberhemd, das eindeutig zu eng saß, dunkelblauer Jeans und ... Pantoffeln, wie ich erstaunt feststellte, als ich automatisch an ihm heruntersah.

„Hallo Max!“, rief Nathalie erfreut, umarmte ihn und strich ihm über das pelzartige Kopfhaar. Eine seltsam vertraute Geste, wie ich fand, doch Max ließ sie sich gern gefallen. „Alles, alles Gute zum Geburtstag! Dein Geschenk bekommst du sofort, nur lass uns bitte erst ins Warme.“

„Ja, natürlich, kommt doch rein“, forderte uns das Geburtstagskind auf und trat einen Schritt zur Seite, um uns in den Flur zu lassen, an dessen Wände mehrere Geweihe hingen.

„Auch von mir herzlichen Glückwunsch“, sagte ich ungewohnt steif und gab Max die Hand.

Er hatte breite Hände und einen festen Händedruck. „Willst du deine Jacke ausziehen?“, bot er mir an.

„Ja, gern.“

Max nahm mir meine Winterjacke ab und versuchte, sie noch an der bereits gut gefüllten Garderobe unterzubringen, was ihm schließlich gelang. „Die Feier findet im Wohnzimmer statt“, teilte uns unser Gastgeber mit. „Also, eigentlich sind es zwei Wohnzimmer mit einer mobilen Trennwand. Werdet ihr gleich sehen.“

Wir folgten ihm durch eine offen stehende Tür in ein beachtlich großes Zimmer, aus dem angeregte Unterhaltungen drangen.

„Wir haben die Musik noch nicht angemacht“, erklärte uns Max, „damit wir die Klingel hören. Aber demnächst, wenn alle da sind, geht die Party richtig los.“

Ich sah mich um. Etwa zwanzig Personen standen auf einem Holzdielenboden in kleinen Gruppen in dem hell tapezierten Raum, der zu unserer Rechten durch eine hellbraune, faltbare Kunststofftrennwand geteilt werden konnte. Einige Gäste hielten bei unserer Ankunft die Hand hoch oder riefen uns eine Begrüßung zu, andere nahmen von uns überhaupt keine Notiz. Mir kamen auch nur wenige Gesichter bekannt vor.

An der Wand rechts neben der Tür stand ein breiter Schrank aus Kiefernholz mit Schnitzereien in den Fronten, die Jagdszenen nachempfunden waren. Einen ähnlichen, etwas schmaleren Schrank gab es ein Stück weiter an derselben Wand im zweiten Wohnzimmer. Vor den Schränken lagen zusammengerollte große Teppiche, die vermutlich angesichts der vielen Gäste in Straßenschuhen geschont werden sollten. Die Wand links von der Tür wurde von einem mit hellblauem Stoff bezogenen Sofa eingenommen. Davor standen zwei dazupassende Sessel. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums gab es eine mit braunem Stoff bezogene, aber ansonsten identisch aussehende Sitzgruppe, nur war dort zusätzlich noch ein weiteres, kleineres Sofa vorhanden. Was für eine eintönige Möblierung. Ich hätte die Raumteile so eingerichtet, dass sie einen interessanten Kontrast zueinander gebildet hätten. Die beiden Tische, die sicher ursprünglich zwischen den Sofas und Sesseln gestanden hatten, waren nebeneinander an die Wand gegenüber der Tür vor die Fenster geschoben und mit weißen Tischdecken verziert worden, um darauf ein Büfett aufzubauen. Außerdem waren noch einige Stühle zu den eigentlichen Sitzmöbeln gestellt worden, die aufgrund ihres dunkleren Holzes nicht so recht mit den restlichen Möbeln harmonierten, um allen Gästen eine Sitzmöglichkeit zu bieten. Ferner stand an der Seite des vorderen Raums, an der geöffneten Trennwand und zwischen den beiden Tischen mit dem Büfett, auf einer Kommode ein Fernseher und daneben eine Musikanlage, die angesichts der restlichen unmodernen Einrichtung fehl am Platz wirkte. Die Sitzmöbel, vielleicht auch die Kommode, waren so weit verrückt worden, um in der Mitte des großen Raumes eine ausreichende Tanzfläche zu schaffen. Die Wände waren mit diversen Geweihen und Bildern, die Jagdszenen zeigten, geschmückt.

„Mein Vater ist leidenschaftlicher Jäger“, teilte uns Max mit. „Deshalb sind wir so eingerichtet. Aber für mich ist das nichts. Obwohl die Braten, die meine Mutter aus den erlegten Tieren zubereitet, fantastisch schmecken. Sie hat übrigens alle Snacks für das Büfett zubereitet. Sie hätte für die Party auch etwas Richtiges gekocht, aber ich wollte nur Kleinigkeiten, weil es sonst so umständlich mit dem Essen ist.“

„Hier, Max, dein Geschenk“, wechselte Nathalie das Thema. „Von Sandra und mir. Ich bin so gespannt, was du sagst!“

Ich konnte die Aufregung meiner besten Freundin nicht nachvollziehen und hatte so langsam den Eindruck, sie könnte in diesen Max verschossen sein.

Der nahm das kleine Geschenk entgegen, löste vorsichtig das Geschenkband und wickelte es aus, wobei er darauf achtete, das bunte Geschenkpapier möglichst wenig zu beschädigen. Zum Vorschein kam ein Karton.

„Mach auf! Ich kann es kaum erwarten, dein Gesicht zu sehen!“, drängte Nathalie.

Max hob den Deckel des Kartons ab, und darin befanden sich ... drei kleine bunte Metallautos. Das konnte doch nicht Nathalies Ernst sein.

„Und?“, wollte sie wissen. „Hast du die schon? Ich habe neulich stundenlang auf einem Flohmarkt gesucht, bis ich die zusammenhatte!“

„Nein, ich ...“ Max schien vollkommen überwältigt und nahm vorsichtig einen grünen Miniwagen aus dem Karton, um ihn näher zu betrachten. „Wow, die sind ... einfach fantastisch. Die fehlten mir tatsächlich noch in meiner Sammlung. Ich danke dir.“

 

„Die Autos sind von Sandra und mir“, stellte meine korrekte Freundin richtig. „Ich habe sie nur ausgesucht, weil ich dich besser kenne und weiß, dass du sie sammelst.“

Die Türklingel unterbrach das Gespräch. Max deponierte den Karton samt Verpackung sorgfältig in einem Schrankfach, in dem sich anscheinend schon weitere Geschenke befanden, bevor er im Flur verschwand.

Kurz darauf kehrte unser Gastgeber mit einem sportlich wirkenden, dunkelhaarigen Mann zurück, der in Jeans und Jeanshemd gekleidet war und den etwa einen Meter siebzig großen Max um fast einen Kopf überragte. Von allen anwesenden Männern schien der neue Gast der attraktivste zu sein, doch er mischte sich unter die Anwesenden und war schnell in ein Gespräch vertieft, bevor ich Gelegenheit hatte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Nathalie und ich standen etwas verloren herum. Das bemerkte anscheinend auch Max. „Darf ich euch meine Spezialmischung anbieten?“, sprach er uns an. „Um warm zu werden, meine ich.“

„Das ist lieb von dir, Max, aber ich muss noch fahren“, lehnte Nathalie freundlich ab. „Wenn du eine Cola für mich hättest?“

„Na klar.“ Er sah zu mir. „Und für dich die Spezialmischung? Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir.“

Ich wollte nicht unhöflich wirken und nickte daher. Dabei hatte ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen und war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, den Abend mit einem alkoholischen Cocktail zu beginnen. Unser Gastgeber holte die gewünschten Getränke aus einem Fach in einem der beiden Wohnzimmerschränke, das zur Bar umfunktioniert worden war, und kehrte mit zwei gefüllten Gläsern zu uns zurück.

Mir fiel auf, dass sich die anderen Gäste einfach selbst bedienten, und ich fühlte mich ein wenig wie eine unbeholfene Außenseiterin. Wieder kam mir in den Sinn, dass ich den Abend nicht auf dieser Party hatte verbringen wollen. Max blieb bei Nathalie und mir erwartungsvoll stehen, als ich den ersten Schluck von dem orangefarbenen Getränk nahm. Es schmeckte fruchtig, nicht zu süß und kaum nach Alkohol.

„Na, was sagst du?“, wollte Max von mir wissen. „Der Drink ist ‛ne Wucht, oder? Habe ich selbst kreiert.“

„Ja.“ Ich nickte und nahm noch einen Schluck. „Ist dir gelungen.“

Max begann ein Gespräch mit Nathalie über seine Autosammlung. Ich hatte Mühe, der Unterhaltung, die mich sowieso nicht sonderlich interessierte, zu folgen, und trank hauptsächlich aus Langeweile immer wieder aus meinem Glas, bis es leer war. Ich gab es auf, dem Gespräch neben mir zu lauschen, und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Wahrscheinlich waren nun alle Gäste eingetroffen. Da wurde es doch Zeit, dass jemand die Musikanlage in Betrieb nahm.

Ich stellte mein Glas in einem Schrankfach ab und bahnte mir meinen Weg durch die Menschengrüppchen zur Musikanlage. Nacheinander nahm ich einige CDs, die ordentlich in einem Turm untergebracht waren, in die Hand und sah sie mir an. Die obersten enthielten Schlager und Volksmusik und gehörten vermutlich Max‛ Eltern. Weiter unten wurde es schon interessanter. Es war sogar eine CD meiner Lieblingsband dabei. Ich legte die CD ein, drehte die Lautstärke hoch und drückte „Play“. Eine Sekunde später dröhnte Hardrock durch die beiden Lautsprecher, und alle Augen waren für einen kurzen Moment auf mich gerichtet. Meine Musikwahl stieß anscheinend auf allgemeines Wohlgefallen. Einige der Anwesenden begannen wie ich, automatisch im Rhythmus der Musik mitzuwippen, doch ich war die Einzige, die kurze Zeit später tatsächlich ausgelassen tanzte.

Ich war ganz in die Musik vertieft und erschrak beinahe, als die Lautstärke nach einigen Songs durch Max gedrosselt wurde, der verkündete, dass das Büfett nun eröffnet sei. Daraufhin bewegten sich alle zu den beiden Tischen, auf denen diverse Snacks standen. Ich hielt es ebenfalls für eine gute Idee, etwas zu essen, da sich mein Kopf so unangenehm leicht anfühlte. Unter den Wartenden befand sich auch der attraktive Dunkelhaarige, der mich sogleich ansprach. „Eine gute Musikwahl.“

„Ja, finde ich auch“, gab ich zurück und musste lachen.

Der Mann lächelte. „Ich bin Torben Brandt.“

„Sandra Jordan. Hallo.“ Ich gab ihm die Hand. Seine Hand war schlank, trocken und warm.

„Sandra. Ein schöner Name.“

„Finden Sie? Da sind Sie aber der Erste, der dieser Ansicht ist.“ Ich merkte, dass mir erneut ein Lachen die Kehle heraufkroch. Ich musste dringend etwas essen. Was war nur in diesem verdammten Drink gewesen?

„Ich kenne Max vom Squash. Und Sie?“

„Keine Ahnung.“ Mir fiel beim besten Willen nicht ein, wo ich Max zum ersten Mal gesehen hatte. „Jedenfalls nicht vom Squash.“ Diese Bemerkung schien mir sehr komisch zu sein, und ich konnte ein ausgelassenes Lachen nicht unterdrücken.

Dem Mann gefiel meine heitere Art anscheinend, und er lachte ebenfalls. Vielleicht machte er sich auch insgeheim über mich lustig.

„Torben!“, hörte ich plötzlich Nathalies Stimme neben mir. „Schön, dich hier zu treffen!“

„Hallo Nathalie“, grüßte mein Gesprächspartner zurück. „Die Welt ist klein.“

„Ihr kennt euch?“, fragte ich verdutzt, obwohl es ja offensichtlich war.

Der Mann öffnete den Mund, um zu antworten, doch Nathalie kam ihm zuvor. „Ja, von einem Schulprojekt.“

Von einem Schulprojekt? Dann hatte der Kerl etwa Kinder im Schulalter? Ich geriet doch immer an den Falschen. Sofort war meine gute Laune dahin.

„Ich bin Gymnasiallehrer“, erklärte Torben Brandt zu meiner Erleichterung. „Wir hatten vor einigen Wochen die Polizei für Gastvorträge an unsere Schule geladen. Es ging um Gewaltprävention und Aufklärung über Drogen. Das war ein wichtiges Projekt und ist bei den Schülern sehr gut angekommen.“

„Das freut mich.“ Nathalie war sichtlich geschmeichelt. „Für mich war ...“

„Na, unterhaltet ihr euch gut?“, unterbrach Max sie und wandte sich sogleich an mich. „Ich fand es übrigens eben sehr cool von dir, dass du einfach die Musik angeschmissen und getanzt hast. Hat mich echt beeindruckt. Und die allgemeine Stimmung auf jeden Fall um einiges aufgelockert.“

„Danke.“ Ich fühlte die Blicke von Nathalie und Torben Brandt auf mir und war auf einmal verlegen. „Ich glaube, das lag nicht zuletzt an deiner Spezialmischung“, gab ich Max gegenüber zu. „Die hatte es in sich.“

„Ja, die ist nicht schlecht, oder? Soll ich dir noch ein Glas ...“

„Nein, nein“, lehnte ich schnell ab. „Ich brauche jetzt erst einmal etwas Festes im Magen.“

„Wie wäre es mit Roastbeef-Sandwich, Hackklößen und einem mit Mozzarella und Tomate gefüllten Wrap?“ fragte Torben Brandt, der sich bereits an dem Büfett bedient hatte, und reichte mir den von ihm gefüllten Teller.

Als Nathalie und ich Stunden später nach Hause fuhren, hatte ich beste Laune, während Nathalie ungewohnt schweigsam war. Ich hatte mich während des Essens gut mit Torben Brandt unterhalten, den ich zwar für etwas spießig, aber nett hielt, und anschließend mit einigen anderen Gästen geplaudert, die ich flüchtig kannte. Max hatte immer wieder meine Nähe gesucht, und auf sein Drängen hatte ich noch eine Spezialmischung getrunken, die dank meines vollen Magens keinen so starken Effekt wie der erste Drink gehabt hatte. Die Tanzfläche hatte sich wie von selbst gefüllt, als ich Max gebeten hatte, eine CD mit typischer Partymusik aufzulegen, und ich hatte großen Spaß beim Tanzen gehabt, nicht zuletzt wegen Max‛ roboterhaftem Tanzstil. Nathalie hatte uns Gesellschaft geleistet, doch hatte ich das Gefühl gehabt, dass sie nicht so recht bei der Sache war. Nach einer Weile hatte sich sogar Torben Brandt auf die Tanzfläche gewagt, und ich fragte mich, ob das an mir gelegen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass das an mir gelegen hatte.

Teised selle autori raamatud