Hinter seinem Rücken

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Ich blickte verstohlen zu Nathalie hinüber, die sich ganz auf das Fahren konzentrierte. Es schneite leicht. Dennoch glaubte ich nicht, dass das der Grund dafür war, dass sie, seit wir uns vor etwa einer Viertelstunde bei Max verabschiedet hatten, kein Wort mehr mit mir gesprochen hatte.

„Was macht Max eigentlich beruflich?“, fragte ich schließlich, um das unangenehme Schweigen zu unterbrechen.

„Er ist IT-Spezialist“, antwortete Nathalie sachlich und ergänzte, als hätte ich daran gezweifelt: „Er ist ein sehr, sehr schlauer Kopf.“ Als ich nichts darauf erwiderte, fügte sie hinzu, als müsste sie Max vor mir verteidigen: „Nur weil jemand mit dreißig noch zu Hause wohnt, Spielzeugautos sammelt und etwas ungeschickt tanzt, heißt das nicht, dass derjenige ein Idiot ist, über den man sich lustig machen kann.“

Verwundert sah ich Nathalie an. So kannte ich sie gar nicht. „Das habe ich doch auch gar nicht behauptet“, rechtfertigte ich mich. „Und ich habe mich nicht über Max lustig gemacht. Ich habe ... mich einfach nur gut amüsiert.“

Meine Freundin blickte schweigend geradeaus.

Ich entschied mich für ein offenes Wort. „Du stehst auf Max, richtig? Es stört dich, dass ... er mich ein bisschen hofiert hat.“

Nathalie schüttelte den Kopf und sah, als wir vor einer roten Ampel hielten, zu mir herüber. „Ach was. Tut mir leid, wenn das, was ich eben gesagt habe, komisch geklungen hat. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir. Ständig so viele Überstunden ... und kein Ende in Sicht. Aber es ist nicht richtig, das an anderen auszulassen. Erst recht nicht an meiner besten Freundin.“

„Schon gut“, gab ich mich versöhnlich.

Den Rest der Fahrt über vermieden wir es, über den Abend zu sprechen, und redeten stattdessen über belanglose Themen. Doch als ich etwas später in meinem Bett lag und den Abend Revue passieren ließ, fragte ich mich, ob ich mit meiner Vermutung, dass Nathalie in Max verliebt war, nicht doch Recht hatte.

An einem Samstag Mitte März hatte ich Max‛ Geburtstagsfeier schon fast wieder vergessen. Ich war an diesem Tag verärgert, da meine Mutter mich schon am frühen Morgen angerufen hatte, obwohl sie, auch wenn sie selbst nur einige Stunden pro Woche in der Buchhaltung eines Warenhauses aushalf, sich doch denken konnte, dass jeder, der werktags zeitig aufstehen musste, froh darüber war, am Wochenende etwas länger schlafen zu können, zumal ich auch oft noch samstags im Küchenstudio sein musste. Die frühe Uhrzeit des Anrufs meiner Mutter war es allerdings nicht allein, die mir meine Laune verdorben hatte, sondern der Grund, weshalb meine Mutter mich anrief. Es war der Grund, der seit ungefähr Weihnachten ihr einziges Gesprächsthema zu sein schien: ihr sechzigster Geburtstag im Mai, den sie groß in einem Gasthaus feiern wollte. Anfangs hatte sie mich mit der Gästeliste und der Essensauswahl genervt, anschließend mit der Gestaltung der Einladungskarte, der sie als dezentem Hinweis für mögliche Geschenkideen eine kleine Wunschliste beifügen wollte. In letzter Zeit hatte sie mich dann fast täglich über den aktuellen Stand der Zu- und Absagen auf dem Laufenden gehalten. Es würde eine große Feier werden, denn es hatten sich bereits fast einhundert Gäste angemeldet, und es war noch mehr als ein Monat Zeit, um zuzusagen.

Nachdem mich meine Mutter an diesem Morgen über die neuesten Zusagen in Kenntnis gesetzt hatte, hatte sie vielsagend hinzugefügt: „Du kannst auch jemanden mitbringen, wenn du willst, Sandra. Dein Vater und ich würden uns freuen.“ Seit ich mich durch das ständige Fragen meiner Eltern, wann sie meinen angeblichen viel reisenden Verlobten denn endlich kennenlernen würden, vor etwa zwei Jahren dazu gezwungen gesehen hatte, ihnen von dem Aus der von mir erfundenen Beziehung zu berichten, hoffte insbesondere meine Mutter inständig, ich würde bald einen adäquaten Ersatz finden und ihnen diesmal auch persönlich vorstellen.

„Ja, mal sehen“, hatte ich leicht verschlafen gemurmelt. „Vielleicht bringe ich Nathalie mit, wenn das für euch in Ordnung ist.“

„Ach, Sandra!“, hatte meine Mutter in einem missmutigen Tonfall erwidert, als hätte ich ein wichtiges Spiel verdorben. „Ich hatte da ehrlich gesagt an eine männliche Begleitung gedacht. Wie sieht das denn aus, wenn du eine Frau an deiner Seite hast. Auf das Gerede kann ich wirklich verzichten.“

Ich bin eben nicht wie dein Liebling Caroline, die zusammen mit ihrem Mann in einem Labor Medikamente entwickelt, um die Welt zu retten, und nebenbei noch zwei Kinder großzieht, hatte mir auf der Zunge gelegen, doch ich hatte die giftige Bemerkung heruntergeschluckt und stattdessen geheimnisvoll geantwortet: „Lasst euch doch einfach überraschen.“

„Sandra, soll das etwa heißen ...“

Es war mühevoll gewesen, das unerfreuliche Telefonat mit meiner Mutter zu beenden. Ich ging es in Gedanken noch einmal durch, insbesondere ihre wissbegierigen Fragen nach einem potenziellen Schwiegersohn am Ende des Gesprächs, während ich meinen Wagen an einer Tankstelle volltankte. Vielleicht sollte ich eine meiner flüchtigen Bekanntschaften aus der Online-Singlebörse zur Geburtstagsfeier meiner Mutter mitbringen. Das wäre sicher eine Überraschung, die niemand so schnell vergessen würde. Ich stellte mir die schockierten Gesichter meiner Eltern, meiner Schwester und ihres Göttergatten Boris, der gewöhnlich zum Lachen in den Keller ging, vor, wenn ich wie selbstverständlich erklärte, dass ich ihnen über meinen Begleiter leider nichts erzählen könne, da ich ihn erst heute zum ersten Mal persönlich getroffen hätte, nachdem mir am Vortag sein Online-Profil in der Singlebörse zugesagt habe.

„Guten Morgen“, sagte plötzlich eine männliche Stimme neben mir. „Die Welt ist klein.“

Wo hatte ich diesen Satz kürzlich schon einmal gehört? Ich drehte mich um und sah in das lächelnde Gesicht von Torben Brandt. Torben Brandt, dem Gymnasiallehrer. Wie gut würde das meinem Vater, einem pensionierten Leitenden Regierungsdirektor, gefallen.

„Guten Morgen“, grüßte ich freundlich zurück und hängte den Zapfhahn zurück an die Zapfsäule. Wenn ich mich recht erinnerte, hatten Torben Brandt und ich uns auf Max‛ Party am Ende geduzt. „Hast du schon gefrühstückt?“, fragte ich ihn. „Ich lade dich ein.“

Am Ende bestand Torben darauf, die Rechnung in dem kleinen Café in der Nähe der Tankstelle, in dem wir frühstückten, zu bezahlen, doch das war mir egal, denn ich war mir sicher, es würden noch weitere Treffen folgen, bei denen ich mich dafür revanchieren könnte.

Ich sollte Recht behalten. Torben und ich sahen uns in der Folgezeit mindestens einmal wöchentlich. Er war, als wir uns kennenlernten, fünfunddreißig, zwei Jahre älter als ich, ein intelligenter, unterhaltsamer, liebenswerter Mensch. Aber er war nicht der Mann meines Lebens. Das war mir von Anfang an klar. Denn dafür war er zu bieder. Ich brauchte immer viel Spannung und Abwechslung in meinem Leben. Dennoch fragte ich Torben an einem sonnigen Tag Anfang Mai, den wir wie viele andere auf einer Wolldecke liegend am Ufer eines Sees in der Nähe der Großstadt verbrachten, ob er mich zu der Geburtstagsfeier meiner Mutter begleiten würde.

„Dann heißt das, dass wir jetzt ein festes Paar sind?“, fragte mich Torben erfreut.

Als Antwort küsste ich ihn. Ja, das hieß es dann wohl.

Schon ein halbes Jahr später zogen Torben und ich zusammen. Viel zu übereilt im Nachhinein. Oder auch einfach nur überflüssig. Das Haus, in dem ich meine Mietwohnung besaß, sollte umfangreich saniert werden. Die anschließende Mieterhöhung, die bereits angekündigt worden war, ließ mich schwindelig werden. Obwohl ich nicht schlecht verdiente, sah ich es nicht ein, so viel Geld für ein Dach über dem Kopf auszugeben. Auch Torben war in seiner derzeitigen Wohnung unglücklich. Eine Familie mit mehreren kleinen Kindern war kürzlich über ihm eingezogen, und obwohl Torben Kinder sehr gern hatte, war das ständige Geschrei und Getrampel eine Zumutung, wie ich selbst feststellen musste, wenn ich bei ihm war.

Torben hatte durch einen Bekannten seiner Mutter die Möglichkeit, an eine schöne, helle Drei- oder Vierzimmerwohnung mit Südbalkon in einem Neubau in einer ruhigen Straße in der Innenstadt zu gelangen. „Wieso machen wir nicht Nägel mit Köpfen und ziehen zusammen?“, wollte er von mir wissen. „Ich meine“, sprach er hastig weiter, „zwischen uns beiden läuft es doch sehr gut, und deine Eltern mögen mich, glaube ich, auch.“

Das taten sie allerdings. Der Auftritt mit Torben auf der Geburtstagsfeier meiner Mutter war ein voller Erfolg gewesen. Noch Monate später dachte ich mit Genuss an das beeindruckte Gesicht meines Vaters und seinen anerkennenden Kommentar: „Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, so so“, während meine Mutter zufrieden lächelte, und an die verdutzten Gesichtsausdrücke von Caroline und Boris, die mir zu sagen schienen, dass sie mir so einen guten Fang gar nicht zugetraut hätten.

„Was soll denn mit deiner Katze passieren?“, fragte ich etwas unbehaglich statt einer Antwort. Ich mochte Katzen nicht sonderlich und konnte mir nicht vorstellen, eine in meiner Wohnung zu halten.

Als ich Torben das erste Mal in seiner Wohnung besucht hatte, hatte er mir stolz Miezi präsentiert, eine weiße Katze mit grauen Pfoten und einem grauen Fleck auf dem Hinterkopf, der mich von dem Tag an immer an den hellblonden Fleck auf dem Hinterkopf von Philipp Hansen erinnerte. Torben hatte Miezi auf den Arm genommen und sie mir hingehalten, damit ich sie streichelte. Ich hatte es mit Widerwillen getan. Dennoch hatte Miezi bei der Berührung geschnurrt, und Torben hatte sich gefreut wie ein kleiner Junge. „Sie hat dich gern“, hatte er voller Überzeugung gemeint. Das hatte mich gerührt, und ich hatte mich gezwungen, die Katze noch ein wenig weiter zu streicheln. Ich hatte Torben nie gesagt, wie wenig ich Katzen mochte.

 

„Der neue Vermieter hat nichts gegen Haustiere“, erwiderte Torben, der meinen Einwand nicht verstanden hatte. „Von meiner Miezi würde ich mich auch nie und nimmer trennen. Das wird also kein Problem sein.“ Etwas ironisch fügte er hinzu: „Sonst noch irgendwelche Einwände gegen unser Zusammenziehen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Dann nehmen wir aber die Vierzimmerwohnung statt der Dreizimmerwohnung, ja? Du brauchst ein ruhiges Plätzchen für deinen Schreibtisch, und im vierten Zimmer bringen wir alles unter, was sich im Laufe der Jahre angesammelt hat und zu schade für den Keller ist.“

„Ja, ja, versteh schon“, lachte Torben. „Du denkst schon weiter und findest es praktisch, wenn ein Kinderzimmer vorhanden ist. Nicht, dass wir demnächst noch einmal umziehen müssen, weil die Wohnung zu klein wird.“

Ich ließ ihn in dem Glauben. Ich sagte ihm nicht, dass ich bei dem Gedanken an eine gemeinsame Wohnung ein ungutes Gefühl hatte. Dass ich befürchtete, meine Freiheit zu verlieren. Dass ich Alltagstrott nicht ertragen konnte und Torben nicht ständig um mich haben wollte. Dass ich wenigstens ein Zimmer brauchte, in das ich mich, wann immer ich es für nötig hielt, zurückziehen konnte.

Schon einige Tage, nachdem Torben und ich zusammengezogen waren, trat an den Innenseiten meiner Unterarme ein juckender Hautausschlag auf. Besonders bei Wärme machte mir das Ekzem zu schaffen, und durch das nächtliche Kratzen im Schlaf hatten sich schnell kleine, blutende Wunden gebildet. Ich war froh über die herbstliche Jahreszeit, die es mir erlaubte, meine kaputte Haut unter langärmeligen Oberteilen zu verstecken. Dennoch war mir schnell klar, dass ich eine Lösung für das Problem finden musste. Insgeheim hatte ich Miezi als Ursache des allergischen Ausschlags in Verdacht, denn dass es sich um eine Allergie handelte, stand für mich außer Frage. Torben, dem das Ekzem natürlich nicht verborgen geblieben war, drängte mich geradezu, einen Allergietest beim Arzt machen zu lassen. Seine verwitwete Mutter, die ebenfalls in der Großstadt lebte und der Torben am Telefon von dem Ausschlag erzählt hatte, empfahl Dr. Kandell, bei dem sie schon mehrfach in Behandlung gewesen sei. Obwohl es mich insgeheim störte, dass sich Torbens Mutter um meine gesundheitlichen Belange kümmerte, musste mich mein Freund nicht lange überreden. Zum einen war das ständige Jucken quälend, zum anderen wollte ich endlich Gewissheit darüber haben, was es auslöste. Außerdem benötigte ich ein ärztliches Attest, bevor ich Torben möglichst einfühlsam bitten würde, seine Katze wegzugeben. Die Vorstellung, wie er auf die notwendige Trennung von Miezi reagieren würde, war deprimierend.

Zahlreiche Pflaster mit potenziell allergieauslösenden Substanzen wurden in der Hautarztpraxis auf meinem Rücken aufgebracht, darunter Katzenhaar, da ich dem etwa sechzigjährigen, auf dem Kopf fast komplett kahlen, dafür aber vollbärtigen Dr. Kandell von meinem Verdacht berichtet hatte.

Am nächsten Tag suchte ich die Praxis erneut auf. Eine Arztgehilfin nahm alle Pflaster vorsichtig ab, bevor Dr. Kandell meinen Rücken begutachtete. Nachdem ich mich wieder angezogen hatte, setzte ich mich aufgeregt dem Arzt gegenüber vor seinen Schreibtisch und wartete gespannt auf seine Diagnose.

„Nun wissen wir wenigstens schon einmal, was den Hautausschlag nicht auslöst“, teilte mir Dr. Kandell ruhig mit. „Wir haben alle Substanzen, die am häufigsten Kontaktallergien auslösen, auf Ihrem Rücken getestet. Das Ergebnis ist negativ.“

„Keine Katzenhaarallergie?“, fragte ich verwundert.

„Nein. Ich schlage vor, dass Sie ein Tagebuch führen, in dem Sie aufschreiben, was Sie täglich zu sich nehmen und wie Ihre Haut darauf reagiert. Möglich, dass bestimmte Nahrungsmittel Ihre Beschwerden auslösen. Es kann eine Weile dauern, bis man den Übeltäter findet. Es empfiehlt sich außerdem, möglichst wenig Pflegeprodukte zu benutzen und wenn ja, nur sehr milde, um die Haut nicht noch weiter zu reizen.“

„Aber das Ekzem ist immer da!“, wandte ich entrüstet ein. „Seit ich mit meinem Freund in eine neue Wohnung gezogen bin! Vielleicht ist dort ja die Ursache zu finden! Gift im Gemäuer oder was weiß ich!“

„Möglich ist in der Tat, dass Schimmel der Auslöser ist. Wenn es sich also um eine schon ältere Wohnung handelt ...“

„Nein.“ Ich schüttelte bekräftigend den Kopf. „Es ist ein Neubau. Vor uns hat noch niemand in der Wohnung gewohnt. Und es gibt dort auch nirgends Schimmel.“

„Ob es an der Wohnung liegt, könnten Sie herausfinden, indem Sie ein Wochenende oder am besten mehrere Tage nutzen, um wegzufahren. Ein Tapetenwechsel kann im wahrsten Sinne des Wortes Wunder bewirken. Ich verschreibe Ihnen jetzt erst einmal eine Salbe, um den Juckreiz zu lindern.“ Dr. Kandell reichte mir das von ihm erstellte Rezept und schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr. „Ich kenne Ihre Lebensumstände nicht, Frau Jordan, aber bedenken Sie bitte auch, dass Stress, Trauer, Wut oder nicht gelöste Probleme über die Haut zum Ausdruck gebracht werden können. Denken Sie doch einmal darüber nach.“

„Eure Wohnung ist traumhaft“, lautete Nathalies bewundernder Kommentar einige Tage später, als sie sie zum ersten Mal besichtigte. Torben nutzte den milden Herbstabend, um mit Miezi im Korb eine Fahrradtour zu machen. Mein Freund und ich hatten bereits eine kleine Einweihungsfeier veranstaltet, doch Nathalie hatte kurzfristig absagen müssen, da sich ihr Dienstplan geändert hatte. „Was habt ihr mit den Möbeln gemacht, die ihr nicht unterbringen konntet?“

Ich öffnete die Tür zu dem vierten Zimmer, auf das ich bestanden hatte, obwohl wir dafür keine spezielle Verwendung hatten. Unter anderem beherbergte es die zwar schicke, aber schon etwas durchgesessene weinrot karierte Sitzgarnitur aus meinem ehemaligen Wohnzimmer, da Torbens schwarze Ledermöbel neuer waren und edler aussahen. Außerdem stand hier mein ehemaliger Küchentisch, auf dem ich an meinem Laptop im Internet surfte, mit einem Stuhl. Die anderen drei Stühle hatte ich in den Keller gestellt. Ich hatte mich von keinem meiner geliebten und mir vertrauten Möbelstücke trennen wollen, da ich nicht sicher war, ob und wie lange das Zusammenleben von Torben und mir funktionieren würde.

„Ich gratuliere euch von Herzen“, sprach Nathalie weiter, als sie alle Räume bestaunt hatte. Es war typisch für sie, dass sie wie jetzt neidlos ihre Begeisterung zeigte, obwohl sie selbst in einer günstigen, dafür aber sehr hellhörigen Altbauwohnung lebte, in der ich stets das Gefühl hatte, kein Wort sagen zu können, ohne dass die Nachbarn es hörten. Umgekehrt fand ich die Geräusche aus den umliegenden Wohnungen ebenfalls sehr störend, doch Nathalie war mit ihrer Unterkunft zufrieden und dachte anscheinend nicht einmal an die Möglichkeit eines Umzugs. „Wirklich, Sandra, es ist so schön, dass du endlich den Mann fürs Leben gefunden hast. Was wohnen denn noch so für Leute im Haus?“

„Ach, keine Ahnung. Hier ist alles ziemlich anonym wie überall in der Großstadt. Ein paar Gesichter kommen mir inzwischen bekannt vor, wenn mir Leute im Treppenhaus begegnen, aber die Namen kenne ich nicht.“ Lachend fügte ich hinzu: „Jedenfalls muss man noch rüstig sein, wenn man hier wohnt. Das Haus hat nämlich keinen Fahrstuhl, wie du sicher schon gemerkt hast. Wahrscheinlich ist der Architekt, der es entworfen hat, Fitnessfanatiker.“

„Oder Sadist“, ergänzte Nathalie mit ernstem Gesicht.

Ich vermutete, dass das als Scherz gemeint war, war mir aber nicht sicher und schlug daher, statt etwas darauf zu erwidern, einen gemeinsamen Kaffee in der Küche vor. Dabei ging mir durch den Kopf, dass meine beste Freundin und ich uns auseinandergelebt hatten und offensichtlich nicht einmal mehr denselben Humor teilten. Aufgrund ihrer Schichtarbeit und ihrer häufigen Überstunden sah ich Nathalie nach wie vor selten, seltener als andere Freundinnen, die mir nicht so viel bedeuteten und denen ich längst nicht so viel anvertraute wie Nathalie. Trotzdem wusste Nathalie jetzt nicht einmal etwas von dem Hautausschlag, der mir weiterhin zu schaffen machte, wenn die wunden Stellen aufgrund der von Dr. Kandell verordneten Salbe auch zurückgegangen waren. Als Nathalie und ich es vor einigen Monaten endlich einmal wieder geschafft hatten, uns zum Essen zu verabreden, hatte ich ihr erzählt, dass Torben und ich nun ein Paar waren. Nathalie hatte sich aufrichtig für mich gefreut. Etwas anderes hatte ich von ihr auch nicht erwartet. „Dann musst du dich jetzt ja nicht mehr in dieser Online-Singlebörse herumtreiben“, hatte meine beste Freundin gemeint. Es hatte belanglos klingen sollen, doch ich hatte gespürt, dass Nathalie tatsächlich Bedenken hatte, ich könnte mich weiterhin mit anderen Männern treffen.

„Ach was.“ Ich hatte den Kopf geschüttelt, als wäre der Gedanke völlig abwegig. „Diese Zeiten sind vorbei.“

Das war nur die halbe Wahrheit. Es stimmte, dass ich nicht mehr an der Online-Singlebörse teilnahm, ich hatte mein Konto dort sogar gelöscht. Aber das lag daran, dass ich den viel interessanteren Chat-Room „Dirty Flirty“ entdeckt hatte, in dem ich seit einigen Wochen aktiv war, wann immer ich die Zeit dazu hatte. Die Teilnehmer benutzten alle Nicknames und symbolische Profilbilder. Ich hatte mich für eine Frauenhand mit langen, rot lackierten Fingernägeln, die einen ebenso roten Apfel hielt, entschieden. Es war sehr aufregend, mich mit Männern über intime Details zu unterhalten, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Zu persönlichen Treffen war es noch nicht gekommen, weil mir die Chats bisher ausgereicht hatten. Doch konnte ich nicht vollkommen ausschließen, dass sich in Zukunft etwas daran ändern würde. Black Tiger, dem ich einige Monate später in dem Chat-Room begegnen sollte und dessen Profilbild den Kopf einer schwarzen Raubkatze zeigte, war zum Beispiel ein Kandidat, bei dem ich nicht Nein sagen würde, sollte er mehr als eine Online-Bekanntschaft wollen.

„Noch Nachschlag?“, holte mich Torben in die Gegenwart zurück.

Ich blickte auf meinen leeren Teller. „Nein, danke. Ich bin vollkommen satt. Aber das Gulasch war wie gesagt köstlich.“

Zuvorkommend wie er war, nahm mir mein Freund den Teller ab, um ihn in die Küche zu bringen. Kurz darauf kehrte er mit einem Umschlag in der Hand in das Wohnzimmer zurück. „Hier.“ Er reichte mir den Brief. „Da stehen bestimmt gute Neuigkeiten drin, bei der farbenfrohen Aufmachung.“

Ich sah mir den Umschlag an, der mit lauter bunten Blumenaufklebern übersät war. Mein Name und meine Anschrift waren in ordentlicher Handschrift auf die einzig freie Fläche geschrieben worden. Der Brief war frankiert, und als Absender war eine Postfachadresse ohne Namen angegeben. Auf einmal hatte ich ein beklemmendes Gefühl. Wenn nun ein ehemaliger Typ aus der Online-Singlebörse ... Aber die kannten ja nicht meine neue Adresse. Ich blickte etwas unsicher zu Torben, der auf einem Sessel Platz genommen hatte, Miezi auf dem Schoß hielt und mich erwartungsvoll ansah. Entschlossen riss ich den Umschlag auf und faltete den weißen Papierbogen auseinander, der sich darin befand.

Der Abschlussjahrgang von 1990 gibt sich die Ehre!!!,

lautete die große, fett gedruckte, am Computer geschriebene Überschrift.

Ich atmete erleichtert aus. Das erste Abitreffen nach fünfzehn Jahren. Das hatte ich ganz vergessen. Dabei gehörte Nathalie zum Organisationskomitee. Sie war so herzensgut, ihre knappe Freizeit dafür zu opfern, damit ihre ehemaligen Mitschüler eine gelungene Jubiläumsfeier erlebten. Mein Herz begann aus mir unerklärlichen Gründen, schneller zu klopfen, als ich weiterlas.

Liebe Leute,

haltet Euch unbedingt Samstag, den 17 . September 2005 frei. Und wenn Ihr an diesem Tag schon etwas eingetragen habt, streicht es. Denn nichts geht über unsere ABIFEIER!!! Wir starten round about 17:00 Uhr mit lockerem Geplauder, zu späterer Stunde geht‛s weiter mit Essen und Tanz. Ach ja, Getränke gibt es natürlich auch - sogar für die Alkoholiker unter Euch wird genügend da sein. Ihr dürft eine Begleitung mitbringen (bitte nicht mehr als eine Person, also lasst Eure Großfamilie zu Hause, falls Ihr inzwischen eine habt). Und keine Angst: Wenn Ihr allein zu unserer geilen Party kommt, werden wir KEINE blöden Fragen stellen – VERSPROCHEN!!!

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Wer hatte sich nur diesen dämlichen Einladungstext ausgedacht. Nathalie hatte damit sicher nichts zu tun. Ich hatte mich nicht sonderlich für das Abitreffen und dessen Vorbereitungen interessiert und mich daher nicht bei Nathalie erkundigt, wer die Feier zusammen mit ihr organisierte. Mit wenig Begeisterung überflog ich den Rest.

 

Zum Schluss noch das Wichtigste: DIE LOCATION!!! Nur so viel: Unsere geile Party findet bei demjenigen aus unserem Jahrgang statt, der es mit Abstand von uns allen am weitesten gebracht hat UND DER DIE GANZE FEIER AUS EIGENER TASCHE BEZAHLT!!! Wer der edle Spender ist, wird an dieser Stelle noch nicht verraten, nur seine Adresse. Merkt sie Euch gut.

Es folgte eine Anschrift in der Großstadt, die mir nichts sagte.

Wer absolut nicht teilnehmen kann, schickt eine E-Mail an die untenstehende Adresse, ansonsten zählen wir auf Euch! Und seid sicher: Wir werden KEINE Ausrede akzeptieren!

Bis zum 17 . September in alter Frische!

Euer Organisationsteam (Autogramme gibt‛s auf der Feier)

„Alles in Ordnung?“, fragte Torben mit besorgter Stimme. „Du wirkst wenig erfreut.“

Ich fühlte mich gezwungen, ihm den Briefbogen zu reichen, damit er selbst lesen konnte, was darauf stand.

„Das ist doch lustig“, fand mein Freund amüsiert. „Das wird bestimmt eine gelungene Feier.“

„Ja“, gab ich ernst zurück. „Aber ohne mich.“

„Was?“ Torben sah mich verwundert an. „Wieso willst du denn nicht hingehen? Ist nicht auch Nathalie im Organisationsteam? Das kannst du ihr doch nicht antun.“

Torben hatte ja keine Ahnung. Dass ich nicht an dem Jahrgangstreffen teilnehmen wollte, hatte mit Nathalie überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil, es tat mir leid, dass ich die Mühe, die sie und die anderen Organisatoren sich gegeben hatten, nicht würdigen konnte. Doch die Wahrscheinlichkeit war zu groß, einer Person aus meiner Vergangenheit auf der Feier wiederzubegegnen. Einer Person, die ich in meinem ganzen Leben nie mehr wiedersehen wollte.

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