Hinter seinem Rücken

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2. Das Virus

Torben hatte die Einladung zum Klassentreffen in einem Fach in unserem Wohnzimmerschrank deponiert, falls ich es mir doch noch anders überlegen sollte, wie er optimistisch gemeint hatte. Ich hatte so getan, als wollte ich tatsächlich noch einmal darüber nachdenken. Dabei stand mein Entschluss fest. Ich würde nicht zu der Abifeier gehen. In Gedanken malte ich mir aus, wie ich im September zwei Wochen Urlaub nehmen und, da es außerhalb der Schulferien war, ohne Torben verreisen würde. Weit weg. Irgendwohin, wo den ganzen Tag über die Sonne schien. Ich fand den Gedanken sehr verlockend. Torben und Nathalie gegenüber könnte ich behaupten, Philipp Hansen habe mir keinen Sommerurlaub während der Ferien genehmigt und mich genötigt, erst danach Urlaub zu nehmen. Tatsächlich gab es wegen der Urlaubsplanung im Büro immer wieder Reibereien, da viele Mitarbeiter schulpflichtige Kinder hatten, doch Philipp hatte stets den Ehrgeiz, so lange am Urlaubsplan zu feilen und Kompromisse zu finden, bis alle zufrieden waren. Das allerdings wussten Torben und Nathalie nicht. Mein Freund würde zwar enttäuscht sein, seine Sommerferien ohne mich an seiner ständigen Seite verbringen zu müssen, doch das würde sich geben, wenn ich ihm vorschlug, stattdessen mit seiner Mutter zu verreisen.

Torben und Edelgard Brandt hatten ein sehr inniges Verhältnis, was sicher daran lag, dass Torben Einzelkind war und seinen Vater früh durch einen Verkehrsunfall verloren hatte. Torben war damals zehn Jahre alt gewesen. Er hatte das Thema mir gegenüber nur einmal erwähnt, und ich hatte ihn nicht gedrängt, mir mehr darüber zu erzählen, da es ihn offenbar immer noch schmerzte. Torbens Eltern hatten ein Schreibwarengeschäft in der Innenstadt, das seine Mutter weiterhin mit einigen Mitarbeitern betrieb. Sie war eine schlanke Frau Anfang sechzig mit grauen kurzen Haaren, einem freundlichen Gesicht und warmen braunen Augen, die Torben von ihr geerbt hatte. Obwohl es „Möglichkeiten gegeben hätte“, wie mein Freund es einmal mir gegenüber formuliert hatte, hatte seine Mutter kein zweites Mal geheiratet und war seit dem Tod ihres Mannes alleinstehend geblieben. Sie könne es ihrem verstorbenen Mann nicht antun, einen anderen in ihr Leben zu lassen, hatte sie von sich aus auf ihre sympathische Art mitgeteilt, als sie in Torbens Beisein unsere neue Wohnung zum ersten Mal besucht hatte. Ich konnte das nicht so recht nachvollziehen, hatte mich aber gehütet, mich entsprechend dazu zu äußern. Edelgard war nicht unattraktiv und in den besten Jahren, tat aber so, als läge alles bereits hinter ihr. Sie hatte ihre ganze Kraft und Zeit ihrem Geschäft und vor allem ihrem Sohn gewidmet, der nun längst auf eigenen Beinen stand. Das musste doch frustrierend sein und zu einem Gefühl der Leere führen. Allerdings legte Torben großen Wert darauf, Edelgard in unser Leben einzubeziehen. Fast täglich telefonierten Mutter und Sohn zumindest kurz miteinander, „um sich auf dem Laufenden zu halten“, wie Torben es nannte. Häufig schaute Edelgard auch spontan persönlich vorbei, wenn es die Arbeit im Geschäft zuließ, um sich mit ihrem Sohn auszutauschen, und wenn es nur ein halbes Stündchen war. War ich ebenfalls anwesend, zog ich mich meistens nach ein paar Minuten unter einem Vorwand in das ungenutzte Zimmer zurück, wo ich dann vorgab zu bügeln und nebenbei prüfte, ob im Chat-Room „Dirty Flirty“ neue Nachrichten auf mich warteten. Dabei mochte ich Edelgard, und ich hatte auch nichts gegen ihre Besuche. Dennoch war es mir unangenehm, den innigen Unterhaltungen mit ihrem Sohn beizuwohnen, da es mir vor Augen führte, wie distanziert mein Verhältnis zu meinen Eltern war, die immer hauptsächlich darauf bedacht waren, nach außen hin den Schein zu wahren, und ihr Leben entsprechend fassadenhaft ausrichteten. Wenn mich meine Mutter – nach ihrem runden Geburtstag zum Glück wieder seltener – alle paar Wochen anrief, um sich zu erkundigen, wie es mir ging, schien sie in Wirklichkeit wissen zu wollen, ob ich auch brav funktionierte und das Bild der perfekten Tochter abgab, das sie von mir erwartete. Mein Vater kam selten ans Telefon und wenn, gab er gern Lebensweisheiten von sich wie „Harte Arbeit hat noch niemandem geschadet“, „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ und, sollte er heraushören, dass ich ein Problem hatte oder eine Niederlage hatte einstecken müssen: „Im Glück nicht jauchzen, im Unglück nicht klagen, das Unvermeidliche mit Würde tragen“. Es war schwierig, mit meinem Vater ein Gespräch zu führen, das über allgemeine Floskeln hinausging, weshalb ich es inzwischen aufgegeben hatte.

Am Samstag nach dem Eingang der Einladung zum Klassentreffen war Edelgard nachmittags wieder einmal bei uns zu Besuch, und ich hatte mich, nachdem ich anstandshalber einige Minuten an dem Gespräch im Wohnzimmer teilgenommen hatte, in das Zimmer zurückgezogen, in dem mein Laptop stand. Ich müsse einige Küchenzeichnungen überprüfen, hatte ich behauptet.

„Es ist wirklich schlimm mit Sandra“, hatte sich Torben in freundlichem Ton bei seiner Mutter beklagt. „Nicht nur, dass sie fast jeden zweiten Samstag im Geschäft stehen muss. Nein, sie bringt auch noch reichlich Arbeit mit nach Hause. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Überstunden sie hier macht.“

„Harte Arbeit hat noch niemandem geschadet“, gab ich eine Lebensweisheit meines Vaters zum Besten.

„Aber du lässt dich so ausnutzen“, fand Torben und sah nach Beistand suchend zu seiner Mutter hinüber.

„Es wird nicht lange dauern“, versprach ich. „Macht ihr beiden es euch ruhig weiter gemütlich. Ihr habt euch ja immer viel zu erzählen und werdet gar nicht merken, dass ich nicht anwesend bin.“

Es hatte nicht böse klingen sollen, und doch spürte ich selbst, dass mich Edelgards Anwesenheit an diesem Nachmittag nervte. Ich hatte in meiner eigenen Wohnung einfach nie meine Ruhe.

Erleichtert atmete ich aus, als die Tür des Bügelzimmers hinter mir geschlossen war. Wenigstens hier konnte ich ungestört tun und lassen, was ich wollte. Vielleicht hatte ich Glück und Black Tiger war online, obwohl wir an diesem Nachmittag nicht verabredet waren. Entsetzen packte mich, nachdem ich meinen Laptop gestartet und mich eingeloggt hatte. Der Bildschirm war anschließend wie eingefroren. Weder mit der Maus noch mit Tastaturbefehlen konnte ich das Internet oder ein sonstiges Programm starten. Ungeduldig schaltete ich den Laptop ab und versuchte es erneut – mit demselben niederschmetternden Ergebnis.

Schnell ging ich in den Flur und zog die Gelben Seiten aus dem obersten Fach der Kommode, auf der das Telefon stand.

„Hast du es dir doch anders überlegt?“, hörte ich Torben hoffnungsvoll fragen und drehte mich zu ihm um. Er stand in der Wohnzimmertür. Offensichtlich hatte ich Unrecht gehabt, und es war ihm nicht egal, ob ich bei dem Gespräch mit seiner Mutter anwesend war oder nicht. „Setz dich doch wieder zu uns“, fügte er einladend hinzu.

„Mein Laptop hat den Geist aufgegeben. So ein verdammter Mist!“, schimpfte ich und blätterte hektisch in dem Telefonbuch. „Ich muss einen Reparaturdienst finden.“

„Sandra.“ Torben griff sanft meinen Arm und stoppte so meine Bewegung. „Es ist fast halb sechs. Du wirst heute niemanden mehr finden, der deinen Laptop repariert. Und ist das so schlimm? Kannst du nicht das Wochenende genießen wie andere auch? Oder meinst du, dein Chef reißt dir am Montag den Kopf ab, wenn du deine freien Stunden nicht für ihn geopfert hast?“

Ich warf das Telefonbuch resigniert zurück in das Kommodenfach. „Es ärgert mich einfach, dass mein Laptop nicht mehr funktioniert! So alt ist er doch noch gar nicht!“

„Ich habe eine Idee.“ Torben hatte einen Arm um meine Schultern gelegt und führte mich zurück ins Wohnzimmer. „Morgen kommt doch Momme zu Besuch. Vielleicht wird er dir helfen können. Schließlich ist er EDV-Lehrer.“

Ich setzte mich mit meinem Freund wieder zu Edelgard, die uns neugierig ansah.

„Sandras Laptop ist defekt“, erklärte Torben seiner Mutter, während ich über seinen Vorschlag nachdachte.

Momme Steffens war einer von Torbens Kollegen und zählte aus mir unerklärlichen Gründen zu Torbens Freunden. Ich selbst hielt Momme für einen komischen Vogel, und das war noch milde ausgedrückt. Er war Ende dreißig und ziemlich klein, ungefähr einen Meter fünfundsechzig. Mommes mittelblondes, glattes Haar war so lang, dass es seine Ohren komplett bedeckte, und er hatte den Rundschnitt seitlich gescheitelt. Wenn Strähnen über seine Stirn in sein Gesicht fielen, was häufig der Fall war, strich er sie konsequent zur Seite. Mir war, als ich Momme zum ersten Mal begegnet war, in den Sinn gekommen, dass eine Haarspange das Problem lösen könnte, doch ich hatte mich gehütet, den Vorschlag laut auszusprechen. Mommes Gesicht wirkte ungewöhnlich jugendlich, und mit seiner unmodernen Frisur sah Torbens Kollege aus wie ein Streber. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich so ein Knirps vor einer Klasse behauptete, doch nach Torbens Aussage war Momme bei seinen Schülern wegen seiner ausgezeichneten Computerkenntnisse sehr beliebt.

Seltsam fand ich Momme jedoch nicht wegen seiner unvorteilhaften Frisur, sondern wegen seines gehemmten Verhaltens mir gegenüber.

Zum ersten Mal war ich Torbens Kollege im vergangenen Jahr begegnet, als mein Freund noch in seiner alten Wohnung gelebt und Momme eines Abends zu sich nach Hause eingeladen hatte, um mich kennenzulernen. Ich hatte an diesem Tag länger arbeiten müssen und Torbens Wohnung später als geplant erreicht. Momme hatte mit einer Bierflasche vor sich an Torbens Küchentisch gesessen und sich hastig erhoben, als mein Freund mit mir den Raum betreten hatte. Es war ein heißer Sommertag gewesen, und ich hatte nach der Arbeit einen Abstecher zu mir nach Hause gemacht, um mir etwas Luftigeres anzuziehen. Ich hatte einen kurzen Jeansrock und ein schwarzes, körperbetontes Top mit Spaghettiträgern gewählt. Die Turnschuhe, die ich zum Fahren getragen hatte, hatte ich, bevor ich mein Auto verlassen hatte, gegen schwarze Sandalen gewechselt, in denen meine nackten Füße mit sorgfältig dunkelrot lackierten Zehennägeln gesteckt hatten.

 

„Darf ich bekannt machen:“, hatte Torben uns vorgestellt. „Das ist meine Freundin Sandra. Sandra, das ist mein Kollege Momme Steffens.“

Momme hatte an diesem Abend ein kurzärmeliges, grau kariertes Oberhemd getragen, aus dessen Halsausschnitt ein weißes T-Shirt hervorgelugt hatte. Torbens Kollege hatte sich seine rechte Handfläche nervös an seinem in Jeans gekleideten Oberschenkel abgewischt, bevor er mir die Hand zur Begrüßung gereicht hatte. Sie war dennoch widerlich feucht gewesen.

Ich hatte mich bemüht, mir dies nicht anmerken zu lassen, als ich lächelnd gesagt hatte: „Hallo Momme. Freut mich.“

„Ja ...“, hatte er nach Worten suchend zurückgegeben und seinen Blick schnell verlegen auf die Tischplatte gesenkt. „Mich auch.“

Während Torben und ich an diesem Abend das Gespräch in Gang gehalten hatten, hatte Momme so gut wie nichts mehr gesagt und wenn doch, waren es kurze Äußerungen gewesen, die aus möglichst nur einem Wort bestanden hatten. Auch war mir aufgefallen, dass mich Momme wiederholt unauffällig angesehen hatte, wenn er geglaubt hatte, ich bemerkte es nicht. Doch war er meinem Blick sofort verschämt ausgewichen, sobald dieser auf ihn gefallen war.

„Dieser Momme ist mir unheimlich“, hatte ich Torben anvertraut, als sich sein Kollege endlich verabschiedet hatte und unbeholfen aus der Wohnung gestolpert war, als hätte er aufgrund meiner Anwesenheit das Laufen verlernt.

„Wenn du ihn erst näher kennst, wirst du ihn sehr mögen“, hatte sich mein Freund zuversichtlich gegeben. „Momme ist nämlich richtig, richtig cool und hat einen tollen Humor.“

Davon war nun wirklich nicht das Geringste zu spüren gewesen.

„Hat er eine Freundin?“, hatte ich mich schließlich durchgerungen zu fragen, obwohl ich überzeugt gewesen war, die Antwort bereits zu kennen.

„Er ist seit einer Weile Single“, hatte Torben geantwortet.

„Und er hat anscheinend ein riesiges Problem mit Frauen“, hatte ich festgestellt.

„Ach was“, hatte Torben lachend erwidert. „Ich glaube, er ist ein bisschen in dich verschossen. Was ich gut verstehen kann.“ Er hatte mir einen Kuss in den Nacken gegeben.

Von diesem Tag an hatte ich Momme insgeheim Memme getauft. Doch erzählte ich Torben nichts davon, denn ich war mir sicher, dass er diesen Spitznamen völlig unpassend und zudem überhaupt nicht komisch finden würde.

„Sag Momme bitte nichts von meinem defekten Laptop“, bat ich Torben, als wir später, nachdem Edelgard gegangen war, gemeinsam auf dem Sofa saßen und ein Fernsehquiz im Vorabendprogramm verfolgten.

Torben sah mich verwundert von der Seite an. „Wieso das denn nicht? Du glaubst gar nicht, wie sehr er neulich seine Schüler verblüfft hat, als er ihnen gezeigt hat, wie man vermeintlich auf dem Computer gelöschte Daten problemlos wiederherstellen kann. Du, Momme macht das sicher gern für dich. Wir können uns ja gelegentlich bei ihm bedanken, indem wir ...“

„Nein! Ich will nicht, dass er an meinen Laptop geht!“, gab ich heftiger als beabsichtigt zurück.

„Und ... warum nicht?“

Es hätte Torben zu sehr verletzt, wenn ich ihm gestanden hätte, wie sehr mich sein Kollege anwiderte. Aber noch wichtiger war, dass ich auf keinen Fall riskieren wollte, dass Momme nachvollziehen könnte, auf welchen Seiten ich im Internet gewesen war, zumal mein Passwort für den Chat-Room „Dirty Flirty“ auch noch dummerweise im Browser gespeichert war. „Weil ...“, suchte ich nach Worten, „weil ich denke, dass das lieber ein Fachmann machen sollte. Dann habe ich danach auch eine Garantie, wenn der Laptop wieder den Geist aufgibt.“

„Also ich glaube kaum, dass es den sogenannten Fachmann interessieren wird, falls dein Laptop eine Woche nach der Reparatur wieder defekt sein sollte. Der wird behaupten, dass es diesmal eine andere Ursache hat. Schließlich leben die selbsternannten Experten von den Problemen anderer. Und kassieren dafür viel Geld. Aber wie du willst. Es ist deine Entscheidung.“

Natürlich hatte Torben Recht. Ich würde bei einem Fachmann einiges bezahlen und hatte keine Sicherheit, dass der Schaden nicht erneut eintreten könnte. Und der Fachmann würde sicher auch so manches auf meinem Laptop entdecken können, was ich auf keinen Fall preisgeben wollte. Aber Momme traute ich einfach nicht über den Weg. „Ich hab‛s!“, schlug ich als Kompromiss vor. „Ich lasse Max einen fachkundigen Blick auf meinen Laptop werfen und entscheiden, ob er den Schaden kurzfristig beheben kann und will. Wenn nicht, bringe ich das Gerät am Montag zur Reparatur zu einem IT-Laden.“

Torben ging, soweit es sich einrichten ließ, einmal pro Woche zum Squashspielen. Ich liebte diese ruhigen Abende, die mir die Illusion vermittelten, ungebunden zu sein. Beim Squash traf Torben hin und wieder auf Max, der direkt nach seinem gewöhnlich recht späten Feierabend zum Sport ging, da sich die Sportanlage in der Nähe seines Arbeitsplatzes befand. Torben hatte in der vergangenen Woche gegen unseren Bekannten gespielt und diesen spontan zu einer kleinen Feier am morgigen Abend eingeladen. Ich kannte noch nicht einmal den Anlass. Torben tat sehr geheimnisvoll und hatte bisher nur verraten, dass er gute Neuigkeiten habe, die gefeiert werden müssten. Anscheinend hatten diese Neuigkeiten mit seiner Arbeit zu tun, da er ursprünglich nur Momme als Gast vorgesehen hatte. Ich war regelrecht erleichtert gewesen, als ich gehört hatte, dass auch Max kommen werde, und hatte nicht gezögert, Nathalie dazuzuladen, die doch für Max schwärmte, wenn sie es mir gegenüber auch nicht zugeben wollte. Meine beste Freundin hatte die Einladung dankend angenommen. Ich hoffte, sie und Max als Paar zusammenführen zu können, und würde mit Nathalie außerdem am morgigen Abend weibliche Verstärkung haben.

„Weißt du was?“ Ich stand auf, bevor Torben etwas gegen meinen Vorschlag sagen könnte. „Ich rufe Max an und bitte ihn, sein Werkzeug oder was auch immer mitzubringen, um meinen Laptop zu untersuchen. Als Dank werde ich ihm ein Spielzeugauto auf einem Flohmarkt kaufen, auch wenn ich davon überhaupt keine Ahnung habe.“ Mit diesen Worten ging ich in den Flur und begann, in dem Büchlein zu blättern, in dem Torben die Telefonnummern seiner wichtigsten Kontakte vermerkt hatte. Unter „M“ wurde ich nicht fündig. „Wie heißt Max noch mal mit Nachnamen?“, rief ich ins Wohnzimmer.

„Brückner“, half mir Torben auf die Sprünge. Anscheinend hatte er nichts gegen mein Vorhaben.

Zunächst hatte ich Max‛ Mutter am Apparat, die ihren Sohn sogleich ans Telefon holte. Ich schilderte Max das Problem, und er war ohne zu zögern bereit zu helfen. Es war mir um einiges lieber, wenn er sich meinen Laptop ansah als dieser Momme, denn ich hielt Max im Gegensatz zu Momme für so anständig, nicht unnötig in meinem Laptop herumzuschnüffeln.

Zufrieden kehrte ich nach dem Telefonat ins Wohnzimmer zurück und setzte mich neben Torben auf das Sofa, der nun Miezi auf dem Schoß hatte und streichelte. „So, das wäre geklärt. Max ist so hilfsbereit! Er scheint das als Herausforderung zu sehen und ist schon jetzt voller Tatendrang! Er hat mir auch schon einige Fragen gestellt, um sich ein Bild von dem Problem zu machen. Wirklich nett von ihm.“

Meine gute Laune bekam einen Dämpfer, als Torben neckisch erwiderte, während er Miezis Kopf kraulte: „Klar ist Max voller Tatendrang. Wenn es um dich geht, immer. Er hat mich schon des Öfteren nach dir gefragt. Vielleicht hofft er ja, auf deinem Laptop Nacktbilder von dir zu finden.“

Max war am nächsten Abend der erste unserer drei Gäste. Er hatte zu seiner Jeans ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift „CHIP CRUSHER“ gewählt. Vermutlich hatte der Begriff unter IT-Kennern eine besondere Bedeutung, die mir verborgen war. Ferner hatte Max einen Laptop bei sich und einen kleinen Koffer. „Falls wir ans Eingemachte müssen“, erklärte er, als er die Sachen im Flur abstellte und Torben und mir anschließend in die Küche folgte, während sich Miezi an die Beine meines Freundes schmiegte. „Ich hoffe natürlich, dass es nicht so schlimm ist“, fügte Max angesichts meines beunruhigten Gesichtsausdrucks hinzu. „Mmmh, das riecht aber schon sehr lecker“, wechselte er das Thema, als er sich mir gegenüber an den für fünf Personen gedeckten Küchentisch setzte, während Torben den Deckel von einem großen, auf dem Herd stehenden Topf nahm und umrührte.

„Es gibt Spargelcremesuppe“, teilte Torben mit, deckte den Topf wieder ab und nahm am Kopf des Tisches Platz, da er so dem Herd am nächsten war. „Nach einem Rezept meiner Mutter.“

„Toll, da freue ich mich schon drauf“, erwiderte Max. „Ich habe auch ehrlich gesagt einen Mordshunger. Wen erwartet ihr denn noch?“

„Einen von Torbens Kollegen“, antwortete ich und fügte mit besonderer Betonung hinzu: „Und die Fünfte in der Runde wird Nathalie sein.“ Ich wartete gespannt auf Max‛ Reaktion.

„Nathalie. Cool“, war jedoch alles, was er dazu sagte. Vermutlich wollte er seine Freude nicht zu sehr zeigen, was ich verstehen konnte.

Es klingelte an der Tür, und Torben erhob sich, um die Haustür unten über einen Summer zu öffnen. Kurz darauf kehrte er mit Momme, der an diesem Abend ein grasgrünes T-Shirt trug, und, zu meiner Überraschung, Nathalie zurück. Meine beste Freundin hatte ein rotes Jeanskleid gewählt, das ihr vorzüglich stand, und ihr welliges braunes Haar mit einem rot gemusterten Tuch zu einem bauschigen Zopf zusammengebunden. Plötzlich kam ich mir in meiner Jeanshose und meinem weißen T-Shirt nicht gut genug angezogen vor. Andererseits hatte ich mich extra nicht zu sehr zurechtgemacht, um nicht wieder die ganze Zeit heimlich von Momme angegafft zu werden.

„Wir sind uns unten an der Haustür begegnet“, erklärte Nathalie den Umstand, dass sie gleichzeitig mit Momme eingetroffen war.

„‛N Abend allerseits“, grüßte Momme sichtlich verunsichert in die Runde und hob leicht seine rechte Hand, während er mit der linken seine Haare aus der Stirn strich.

„Darf ich bekannt machen:“, wandte sich Torben an seinen Kollegen. „Die Dame, mit der du angekommen bist, heißt Nathalie.“

Momme gab Nathalie die Hand, ohne sie direkt anzusehen, wie mir auffiel.

„Und das“, Torben wies auf Max, der sich wie ich beim Eintreffen der beiden Gäste erhoben hatte, „ist Max. Max ist IT-Spezialist. Ihr habt also was gemeinsam.“

Momme begrüßte auch Max per Handschlag, was ihm offensichtlich leichterfiel als bei Nathalie.

„Max und Nathalie: Das ist mein Kollege und guter Freund Momme, von Beruf EDV-Lehrer.“ Torben wandte sich wieder an Momme. „Sandra kennst du ja schon.“

„Hallo Momme.“ Ich ließ die feuchtwarme Hand von Torbens Kollege möglichst schnell wieder los und sah mit Wohlwollen, dass Nathalie zunächst Max umarmte, bevor sie mich begrüßte.

„Setzt euch hin, wo ihr wollt“, forderte Torben unsere Gäste auf. „Nur der Platz am Kopf der Tafel muss für den Chefkoch frei bleiben.“

Nathalie wählte den freien Stuhl neben Max, was mich freute, und saß Momme gegenüber, der zu meiner Rechten Platz nahm und so, zumindest über Eck, auch neben Torben saß.

„Was möchtet ihr trinken?“, fragte ich, während Torben die Suppe in eine Terrine füllte, das Baguette aus dem Backofen nahm und aufschnitt. Miezi hockte neben ihm auf dem Boden und sah ihm genau dabei zu. „Bier, Wein, Cola, Wasser, Saft?“

Max, Momme, Torben und ich wählten ein Bier, nur meine anständige Freundin Nathalie entschied sich für Cola. Sie trank nie auch nur einen Tropfen Alkohol, wenn sie fahren musste.

Kurz darauf löffelten wir alle die von Torben zubereitete Suppe, die allgemeines Lob fand. Nathalie erzählte von einer heiklen Situation mit mehreren betrunkenen Randalierern, die sich bei ihrer letzten Schicht zugetragen hatte, Torben und Max berichteten über ihr letztes Squashspiel und überboten sich dabei auf ironische Weise darin zu betonen, wer besser in Form gewesen sei. Ich musste wohl oder übel auf eine Frage von Nathalie zu den roten Pusteln an meinen Unterarmen Stellung nehmen und wünschte, ich hätte ein langärmeliges Shirt angezogen. Auf ihren mitleidigen Blick, auch wenn sie es nicht böse meinte, konnte ich sehr gut verzichten.

„Hast du eine Ahnung, was mit meinem Laptop nicht stimmen könnte?“, wandte ich mich an Max, um das für mich unangenehme Thema zu beenden. Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Momme neben mir den Kopf hob und eine Haarsträhne aus seiner Stirn strich. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass ich das Gefühl hatte, er interessiere sich für etwas, das um ihn herum gesprochen wurde.

 

„Also, ich will dir keine Angst machen und würde mir den Laptop gerne erst ansehen, bevor ich eine eindeutige Diagnose abgebe“, antwortete Max, der seinen Teller fast geleert hatte und die Reste der Suppe mit einer Baguettescheibe aufnahm. „Aber nach dem, was du mir geschildert hast, könnte es sich um ein Virus handeln.“

„Ein Virus?“, fragte ich bestürzt. Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Wohl den falschen E-Mail-Anhang geöffnet, was?“, gab überraschenderweise Momme neben mir von sich und lachte schadenfroh. „Ich könnte euch da Sachen aus meinem Bekanntenkreis erzählen ...“ Das Bier hatte offensichtlich seine Zunge gelockert. „Leute öffnen die Anhänge von E-Mails irgendwelcher Pseudoabsender, mit denen sie überhaupt nichts zu tun haben. Anscheinend alles arme Würstchen, die froh sind, überhaupt eine neue E-Mail im Posteingang zu haben. Ganz ehrlich: Wie blöd muss man eigentlich sein, um auf so was reinzufallen?“

Ich hätte Momme in dem Moment am liebsten gebeten zu gehen.

„Sandra ist bestimmt auf nichts reingefallen“, nahm mich Max dankenswerterweise in Schutz.

Diese Worte hätte ich mir von Torben gewünscht, doch der sah seinen Kollegen nur interessiert an, als hätte dieser gerade eine große Weisheit von sich gegeben.

„Teilweise sind die Viren wirklich gut versteckt“, fuhr Max fort. „Das hat nichts mit Blödheit zu tun. Und wir wissen ja auch noch gar nicht, ob es wirklich ein Virus ist. Ich werde mir den Laptop gleich einmal ansehen. Danach sind wir schlauer.“

„Aber erst einmal gibt es noch Mousse au Chocolat“, bot Torben unseren Gästen an. „Wenn niemand mehr einen Nachschlag von der Suppe möchte.“

„Sag du uns doch endlich mal, was wir hier heute eigentlich feiern“, forderte ich Torben auf, als wir den fluffigen Nachtisch genossen. „Bist du zum Schulleiter befördert worden, oder was?“, fügte ich ironisch lachend hinzu. Trotz Mommes dämlichem Kommentar hatte ich meine gute Laune nicht verloren.

„Fast.“ Torben blickte verschwörerisch zu Momme, bevor er uns nicht ohne Stolz mitteilte: „Ich habe mich an unserer Schule auf die Stelle als Vertrauenslehrer beworben und sie bekommen.“

Nathalie und Max gratulierten ganz selbstverständlich und erhoben lobend ihr Glas auf Torben. Momme klopfte meinem Freund anerkennend auf die linke Schulter, während ich davon überzeugt war, Torben habe einen schlechten Scherz gemacht.

Vertrauenslehrer?“, fragte ich schließlich verdutzt nach. „Heißt das, du lässt dir jetzt auch noch zwischen den Unterrichtsstunden und nach der Schule von Schülern die Ohren vollheulen? Dabei ist es dir doch immer so wichtig, nachmittags sofort nach Hause zu kommen, damit Miezi nicht so lange allein ist.“

„Ja, ich weiß“, erwiderte Torben ernst. „Und es ist mir auch weiterhin wichtig, Miezi nicht so lange allein zu lassen. Aber die Schüler brauchen jemanden, dem sie ihre Sorgen und Probleme anvertrauen können. Ich habe schon damals während des in Zusammenarbeit mit der Polizei durchgeführten Schulprojekts gemerkt“, Torben suchte kurz Nathalies Blickkontakt, „wie wichtig es mir ist, den Schülern mehr zu vermitteln als nur Unterrichtsthemen. Ich möchte für die Schüler da sein, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Deshalb habe ich mir überlegt, ich könnte meine Unterrichtsstunden etwas reduzieren und dafür hier zu Hause nachmittags so eine Art Schülersprechstunde nach Vereinbarung, die gegebenenfalls auch telefonisch erfolgen kann, anbieten. Das hat auch den Vorteil, dass kein Mitschüler etwas davon erfährt, wenn mich jemand hier besucht. Alles läuft viel diskreter ab. Ich glaube, auf diese Weise viele erreichen zu können, die sich nicht trauen würden, in der Schule auf mich zuzukommen. Ich habe schon länger darüber nachgedacht und letzte Woche meine Idee erst dem Schulleiter und dann dem Kollegium vorgestellt, da mein Vorgänger ständig klagte, dass niemand das Angebot nutze, sich ihm anzuvertrauen, und den Job deswegen an den Nagel hängen will. Jedenfalls ... zeigt sich der Schulleiter zum Glück offen für Neues, und die Kollegen haben meine Idee einstimmig angenommen. Nächste Woche geht es los. Erst einmal probeweise bis zu den Sommerferien.“

„Nächste Woche“, wiederholte ich trocken. „Also morgen.“ Ich machte mir nicht die Mühe, das restliche Bier aus meiner Flasche in mein Glas nachzugießen, sondern leerte die Flasche in zwei großen Schlucken.

„Es sollte eine Überraschung sein“, erklärte Torben, dem meine wenig begeisterte Reaktion anscheinend nichts ausmachte.

„Aha.“ Ich legte meinen Löffel in meine noch halb gefüllte Dessertschale. Mehr wollte ich vor den anderen nicht zu dem Thema sagen. Ich würde später mit Torben darüber sprechen, unter vier Augen.

„Ist die Einladung eigentlich angekommen?“, wechselte Nathalie das Thema, um die plötzlich eisige Stimmung am Tisch wieder aufzuwärmen.

„Die ... Einladung?“ Für einen Moment hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach.

„Na, zum Abitreffen“, half mir Nathalie auf die Sprünge.

„Ach, natürlich. Ja, ist sie. Vielen Dank. Wieso habt ihr eigentlich Briefe versandt und keine E-Mails?“

„Das hat gleich zwei Gründe“, erwiderte meine beste Freundin. „Erstens sollte es Stil haben. Zweitens haben wir von längst nicht allen die E-Mail-Adresse. Natürlich kennen wir auch nicht alle Postadressen. Im Zweifelsfall haben wir die Briefe an die Anschriften von damals gesandt, wo hoffentlich zumindest die Eltern noch leben. Die Idee mit der Postfachadresse als Absender hatten Anton und Bruno. Die haben auch den Einladungstext entworfen. Es sollte etwas geheimnisvoll wirken.“

Anton und Bruno. Ich hatte nur verschwommene Gesichtszüge von damals vor Augen, vielleicht nicht einmal die richtigen. Mir fiel ein, dass ich bei Philipp morgen zwei Wochen Urlaub für September würde einreichen müssen. „Da habt ihr euch ja richtig Mühe gegeben“, zwang ich mich, so begeistert wie möglich zu sagen.

„Warte erst die Feier ab, die wird der Kracher“, versprach Nathalie.

Das glaubte ich gern. Nur würde der Kracher ohne mich stattfinden.

„Soll ich mir jetzt einmal deinen Laptop vornehmen?“, bot Max an, nachdem alle gesättigt waren.

„Ja, gern.“ Ich stand auf. „Ich zeige dir, wo er steht.“

„Du musst dich bitte erst einmal einloggen, bevor ich loslegen kann.“

Momme erhob sich gleichzeitig mit Max. „Den Laptop würde ich mir auch gern ansehen“, sagte Momme und wich dabei meinem Blick aus. „Wenn ich darf, natürlich nur. Vielleicht ergibt sich dabei etwas Interessantes, das ich im Unterricht verwenden kann.“

„Zum Beispiel die Betrüger-E-Mail mit dem Anhang, den ich armes Würstchen angeklickt habe?“, fragte ich bissig und zwang Momme, seinen Blick gesenkt zu halten, indem ich ihn direkt anstarrte.

Einen Moment lang schwiegen alle etwas verlegen oder auch verblüfft angesichts meiner Unhöflichkeit gegenüber Torbens Kollege.

„Das sollte ein Scherz sein“, zwang ich mich klarzustellen, obwohl das keineswegs der Fall war, und fügte so freundlich wie möglich an Momme gewandt hinzu: „Natürlich habe ich nichts dagegen, wenn du Max Gesellschaft leistest. Vier Augen sehen schließlich mehr als zwei.“

Während Max in Mommes Beisein meinen Laptop im Abstellzimmer wieder zum Laufen brachte, nachdem ich mich mit meinem Passwort eingeloggt hatte, unterhielten Nathalie, Torben und ich uns anlässlich des geplanten Klassentreffens über die lustigsten Ereignisse unserer Schulzeit. Zwischendurch hörte ich, wie entweder Momme oder Max für einige Minuten im Badezimmer verschwand. Fast eine Stunde waren sie nun schon mit der Reparatur meines Laptops beschäftigt. Ich hatte kein gutes Gefühl und stellte mich darauf ein, mir ein neues Gerät anschaffen zu müssen.

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