Sie war meine Königin

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„Da steht eine Frau an der Pforte. Sie sagt, sie will dir und Papa helfen“, machte ich mich bemerkbar.

Meine Mutter hob ihren Kopf und sah mich an. Ihr Gesicht hatte zum Glück wieder etwas mehr Farbe als in den ersten Tagen nach Melissas Tod, wenn es für meinen Geschmack auch nach wie vor zu hager war. „Dann sei doch so nett und bringe die Frau her. Hören wir uns gemeinsam an, was sie möchte.“

Es machte mich schon etwas stolz, dass meine Mutter mich in das Gespräch anstelle meines abwesenden Vaters mit einbeziehen wollte, und ich rannte zurück zur Pforte, um sie von innen zu öffnen. „Kommen Sie bitte mit“, lud ich die Frau ein, mir zu folgen. „Meine Mutter erwartet Sie hinter dem Haus.“

„Ihr habt aber einen schönen großen Garten“, stellte die Frau fest, während wir zur Terrasse gingen. „Wie herrlich hier alles blüht und gedeiht. Und alles ist so gepflegt. Macht das nicht eine Menge Arbeit?“

Ich fand es etwas merkwürdig, dass die Frau davon ausging, ich als Neunjähriger könnte mich näher mit dem Arbeitsaufwand, den unser Garten erforderte, auskennen. „Darum kümmert sich der Gärtner“, erwiderte ich nur.

„Verstehe.“

Meine Mutter, die die Prospekte offenbar ins Haus gebracht hatte, kam unserem Gast entgegen. „Marianne Hart. Guten Tag.“ Sie gab der Frau die Hand.

„Gesine Knop. Sehr erfreut.“ Die Frau sah sich um. „Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

„Ich habe vor meinem Sohn keine Geheimnisse“, stellte meine Mutter klar. „Und sonst ist hier niemand. Setzen Sie sich doch bitte.“

Die Frau setzte sich auf einen der Korbstühle – bei ihrer Leibesfülle musste sie sich regelrecht zwischen die Armlehnen zwängen - und faltete ihre Hände über ihrem wuchtigen Bauch. Ihre Finger sahen aus wie kleine Würste. Meine Mutter und ich nahmen ebenfalls Platz. Auf der umfangreichen Brust der Frau lag an einer langen goldenen Kette ein großer runder Anhänger, der die Erde darstellte. An mehreren Stellen auf den Kontinenten befanden sich kleine rote Steine, die wie Rubine aussahen, vielleicht aber auch nur aus Glas waren wie die Steine auf Melissas „Prinzessinnentasche“.

„Das sind die bedeutendsten Energiepunkte der Erde“, erklärte die Frau, der mein neugieriger Blick nicht entgangen war, und berührte mit ihrer rechten Hand den Anhänger. „Ich habe sie bereits alle mindestens einmal besucht.“

Mit der Aussage konnte ich nichts anfangen und hielt es daher für besser zu schweigen.

„Was führt Sie denn zu uns?“, wechselte meine Mutter das Thema, und zum ersten Mal seit Melissas Tod lag Interesse in ihrer Stimme.

„Ich habe davon erfahren, was Ihrer Tochter Schreckliches passiert ist“, erklärte die Frau. „Mein herzliches Beileid.“

Meine Mutter nahm die Beileidsbekundung mit einem ernsten Nicken zur Kenntnis.

„Dass der Täter immer noch frei herumläuft, muss für Sie unerträglich sein“, sprach die Frau weiter. „Ich möchte helfen, dass die Person, die das getan hat, zur Rechenschaft gezogen wird und Sie und Ihre Familie Ihren inneren Frieden wiederfinden. Soweit dies nach einem solchen Verlust überhaupt möglich ist.“

„Sind Sie eine Zeugin?“, wollte meine Mutter verwundert wissen.

„Ja, in gewisser Hinsicht. Ich arbeite als Medium und bin spezialisiert auf die Kontaktherstellung mit dem Jenseits, denn die Toten sind die besten Zeugen.“

Ich erwartete, dass meine Mutter die Frau angesichts dieses Unsinns hinauswerfen werde, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, Frau Knop hatte die volle Aufmerksamkeit meiner Mutter. „Sie meinen, ...“ Meine Mutter suchte nach Worten. „Sie meinen, Sie wollen Kontakt zu Melissa aufnehmen?“

Frau Knop nickte. „So ist es. Ich könnte Ihre Tochter nach dem Tathergang und dem Autokennzeichen des Unfallfahrers befragen. In einer Trance würde ich alles, was Melissa beschreibt, vor mir sehen, inklusive des Menschen, der am Steuer saß.“

Meine Mutter atmete tief durch. „Das wäre ... Wenn Sie wüssten, was für eine Erleichterung es für uns wäre, diesen Menschen hinter Gittern zu sehen!“

„Ich weiß“, erwiderte Frau Knop sachlich. „Deshalb bin ich hier.“

„Und ... könnten Sie Melissa auch andere Fragen stellen?“, fragte meine Mutter begierig. „Wie ... es ihr dort, wo sie jetzt ist, geht, zum Beispiel?“

„Sicher. Das ist kein Problem. Sie können mir die Fragen an Ihre Tochter geben, und ich werde die Antworten für Sie in Erfahrung bringen.“

„Das wäre ...“ Die Augen meiner Mutter glänzten feucht. Leise sprach sie weiter. „Wenn Sie wüssten, was uns das bedeuten würde.“

Die Frau nickte nur wissend.

„Wann ... können Sie denn anfangen?“

„Im Grunde genommen sofort. Nachdem wir uns über mein Honorar einig geworden sind.“

„Über Ihr ... Honorar.“

„Ja. Schließlich kostet mich die Kontaktaufnahme mit dem Jenseits immense Energie und schwächt regelrecht meinen Körper. Das merke ich noch Tage später und muss dafür schon um eine Entschädigung bitten.“

Ich fragte mich, ob die Frau deshalb als vorbeugende Maßnahme so viel aß, um dem Energieentzug entgegenzuwirken, hütete mich aber davor, die Vermutung laut auszusprechen.

„Und dann habe ich natürlich auch Spesen“, fuhr Frau Knop fort. „Allein die Anfahrts- und Hotelkosten. Und von etwas leben muss ich ja auch noch.“

„Verstehe“, erwiderte meine Mutter nachdenklich.

„Aber nicht, dass Sie jetzt denken, dass ich Ihre Situation ausnutzen will“, stellte Frau Knop hastig klar.

„Nein, natürlich nicht. An ... welchen Betrag hatten Sie denn gedacht?“

„Fünftausend?“, schlug Frau Knop, ohne mit der Wimper zu zucken, vor.

„Fünftausend Mark?“, fragte meine Mutter nach.

Frau Knop nickte. Als meine Mutter nichts weiter sagte, kam sie ihr entgegen. „Also gut, weil Sie es sind: viertausendfünfhundert.“

„Darüber muss ich erst mit meinem Mann sprechen“, gab sich meine Mutter nun doch etwas zögerlich.

„Wie Sie möchten. Aber bedenken Sie bitte, dass ich dann noch eine weitere Nacht in einem Hotelzimmer bleiben muss. Die Kosten kommen dann noch dazu. Also viertausendsiebenhundert.“

„Könnten Sie uns vorab eventuell schon eine Kostprobe Ihres Könnens geben? Mein Mann steht diesen Dingen sehr misstrauisch gegenüber, und das würde ihn vielleicht überzeugen.“

„Ich habe mich in der Tat schon mit Ihrem Fall beschäftigt und mich gestern in eine leichte Trance begeben, um die Energien zu spüren, die zu dem schrecklichen Ereignis geführt haben“, teilte Frau Knop ganz selbstverständlich mit. Sie sah meine Mutter eindringlich an. „Und eines kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Die Unglücksserie ist noch nicht vorbei. Insbesondere hat es der Unfallverursacher weiter auf Sie und Ihre Familie abgesehen.“

„Was ...?“ Meine Mutter war bei diesen Worten blass geworden.

„Ja“, bestätigte Frau Knop. „Aber dagegen lässt sich zum Glück etwas unternehmen. Eine energetische Reinigung Ihres Hauses würde Sie schon enorm gegen negative Energien von außen schützen. So etwas biete ich auch an. Gegen einen entsprechenden Aufpreis.“

„Das ist ja interessant“, hörten wir plötzlich die sarkastische Stimme meines Vaters, der, noch in Oberhemd und Anzughose gekleidet, in der offenen Terrassentür stand. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er dem Gespräch schon gelauscht hatte, doch war er genau zum richtigen Zeitpunkt nach Hause gekommen, obwohl es für seinen Feierabend noch viel zu früh war. Als hätte er geahnt, dass er hier gebraucht wurde.

Meine Mutter stand auf und ging auf meinen Vater zu. „Konrad, das hier ist Frau Knop.“ Sie wies auf die Besucherin. „Sie möchte uns helfen, den Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, der uns Melissa genommen hat.“

Frau Knop stemmte sich mühsam aus ihrem Stuhl, näherte sich meinen Eltern und hielt meinem Vater lächelnd ihre Hand entgegen. „Gesine Knop, von Beruf Medium, und Ihnen sehr gern für die Kontaktaufnahme mit Ihrer Tochter zu Diensten, Herr Hart. Wir können sofort beginnen. Bei dem Preis sind Ihre Frau und ich uns schon so weit einig. Bargeldzahlungen sind mir am liebsten, aber in Ihrem Fall ...“

„Verschwinden Sie“, erwiderte mein Vater verärgert, ohne die Hand zu ergreifen und das schockierte Gesicht meiner Mutter zu beachten.

„Wie?“ Frau Knops Lächeln erstarb.

„Verlassen Sie sofort mein Grundstück. Oder ich rufe die Polizei.“

„Aber ...“, suchte Frau Knop nach Worten. „Aber Ihre Frau und ich ...“

„Wird‛s bald“, drängte mein Vater.

„Nun gut“, gab Frau Knop pikiert zurück. „Aber eins sage ich Ihnen: Das werden Sie noch bitter bereuen.“

„Und Sie werden es bereuen, wenn Sie uns auch nur noch eine Minute weiter belästigen.“

„Ich bringe Sie zur Pforte“, bot meine Mutter an, die wohl einsah, dass es keinen Sinn hatte, mit meinem Vater zu diskutieren.

„Machen Sie sich keine Mühe. Ich finde allein zurück“, lehnte Frau Knop ab, bevor sie sich in leicht watschelndem Schritt davonmachte.

Mein Vater wartete einen Moment, bevor er nachsah, ob sie das Grundstück auch tatsächlich verlassen hatte.

„Wie konntest du das nur tun!“, griff ihn meine Mutter bei seiner Rückkehr auf die Terrasse in vorwurfsvollem Ton an. „Frau Knop war unsere einzige Möglichkeit, die Person zu finden, die Melissa auf dem Gewissen hat, und du behandelst sie wie eine Betrügerin! Außerdem hätten wir Melissa mit der Hilfe von Frau Knop Fragen stellen können! Weißt du, wie gern ich mit meiner Tochter sprechen würde? Weißt du das?“

Im Gegensatz zu meiner Mutter blieb mein Vater vollkommen ruhig. „Dieses sogenannte Medium ist nichts als eine miese Betrügerin, Marianne, die deine hilflose Situation schamlos ausnutzen wollte.“

 

Meine hilflose Situation?“ Die Stimme meiner Mutter war unangenehm schrill geworden. „Und du? Fühlst du dich nicht hilflos, weil der Täter weiterhin auf freiem Fuß ist? Kümmert dich das alles gar nicht?“

„Natürlich kümmert es mich. Aber deshalb lasse ich mich doch nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Scharlatanen einwickeln.“

„Das werden wir bereuen, dass wir ihre Hilfe nicht in Anspruch genommen haben, hat Frau Knop gesagt.“ Meine Mutter begann zu weinen.

„Das war keine Hilfe.“

Doch meine Mutter hörte meinem Vater gar nicht zu. „Und dass unsere Unglücksserie noch nicht vorbei ist. Dass Melissas Mörder es auch auf uns abgesehen hat!“

Mein Vater ließ sich von dem verzweifelten Klagen nicht im Geringsten beeindrucken. „Ich habe jedes Wort von diesem Unsinn gehört.“ Er stellte sich meiner Mutter dicht gegenüber und umfasste sie an beiden Schultern. „Denn alles, was diese Betrügerin von sich gegeben hat, ist Unsinn. Sieh mich an, Marianne. Hörst du mir zu? Verstehst du, was ich sage?“

„Es wird noch schlimmer kommen“, stammelte meine Mutter und sah dabei über die Schulter meines Vaters hinweg ins Leere. „Wir werden weiter vom Unglück verfolgt werden.“ Dann schrie sie ihn an: „Und du allein bist schuld daran!“ Sie riss sich los und lief ins Haus.

„Es tut mir leid, dass du das miterleben musstest, Constantin“, wandte sich mein Vater an mich.

Ich war am Tisch sitzen geblieben und hatte alles fassungslos mit angesehen. Nun erhob ich mich und ging auf meinen Vater zu. „Und ... wenn diese Wahrsagerin doch Recht hat?“

„Das ist eine Betrügerin, Constantin“, widersprach mein Vater mit fester Stimme. „Die die Verzweiflung von Menschen ausnutzt und nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hat. Es scheint, dass ich gerade im rechten Moment nach Hause gekommen bin. Gleich muss ich aber noch einmal los zu einem Termin. Kümmere dich bitte um deine Mutter. Sie braucht dich.“

Nachdem mein Vater die Terrasse verlassen hatte, blieb ich noch eine Weile dort und dachte über die warnenden Worte von dieser Frau Knop nach. Und wenn sie doch Recht hatte und weiteres Unglück auf uns zukommen würde? Meine Befürchtung, die Weissagung des Mediums könnte eintreffen, sollte sich als nicht unberechtigt erweisen. Denn an diesem Abend sah meine Mutter zum ersten Mal den fremden Mann in unserem Garten.

Ich hatte meine Mutter, weil es der letzte Ferientag war, dazu überreden können, unser Abendessen, bestehend aus von Frau Hubertus zubereitetem Pfannengemüse mit Reis, ausnahmsweise vor dem Fernseher einzunehmen. Vermutlich kam meiner Mutter etwas Zerstreuung sehr gelegen, und so sahen wir uns nebeneinander auf dem Sofa sitzend, beide mit einem Teller auf dem Schoß, eine Vorabendserie an. Meine Mutter lachte sogar wie ich an einigen lustigen Stellen, was mich sehr freute. Als wir unser Essen beendet hatten, trug meine Mutter das Geschirr in die Küche, während ich, da die Serie zu Ende war, zwischen den Programmen hin- und herschaltete, um etwas ebenso Unterhaltsames zu finden. Plötzlich stieß meine Mutter in der Küche einen durchdringenden Schrei aus. Ich dachte, sie habe sie verletzt, und eilte sofort zu ihr, um ihr zu helfen. Meine Mutter stand am Küchenfenster, das einen Blick auf den Garten neben dem Haus bot, und starrte hinaus.

„Mama ...“ Ich umfasste sie von hinten. Ihr Körper war ganz steif, und sie reagierte überhaupt nicht. „Mama, was hast du denn?“

„Geh vom Fenster weg“, forderte mich meine Mutter unvermittelt auf und zog die orangegelb karierten Vorhänge vor dem Fenster energisch zu. Zusammen mit mir ging sie zurück ins Wohnzimmer und lugte hinter der Gardine auf die Terrasse und in den dahinter gelegenen Garten.“

„Mama, was ist denn?“, fragte ich erneut.

„Schsch!“ Meine Mutter legte kurz einen Finger an ihre Lippen. „Sonst hört er uns noch“, flüsterte sie und verdunkelte den Raum, indem sie auch dort die Vorhänge vor die Fenster und die Terrassentür zog.

„Wer?“, flüsterte ich nun ebenfalls.

„Es ist am besten, wenn du jetzt schlafen gehst“, forderte mich meine Mutter unvermittelt mit leiser Stimme auf, ohne auf meine Frage einzugehen. „Morgen fängt die Schule wieder an.“

„Was, jetzt schon?“, protestierte ich. „Ich bin doch kein Baby und außerdem überhaupt nicht müde! Ich will noch aufbleiben und fernsehen!“

„Du sollst leise sein, habe ich gesagt!“, zischte meine Mutter. „Und jetzt gehst du nach oben und machst dich fürs Bett fertig!“

„Mann!“ Wütend stapfte ich die Treppe hinauf. Ich hatte keine Ahnung, was auf einmal in meine Mutter gefahren war, sah aber ein, dass Diskussionen sinnlos waren. Ich hoffte inständig auf die sofortige Rückkehr meines Vaters. Vielleicht könnte er ein zweites Mal an diesem Tag zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und mich vor einer viel zu frühen Bettruhe bewahren.

Ich war im Badezimmer und putzte mir die Zähne, als ich meine Mutter kurz darauf die Treppe hinaufkommen hörte. Meinen Schlafanzug hatte ich mir noch nicht angezogen, weil ich das einfach zu blöd fand. Wahrscheinlich hatte meine Mutter nun ihren Irrtum eingesehen und wollte sich bei mir entschuldigen und mich auffordern, wieder nach unten zu kommen, um weiter fernzusehen. Bei dem Gedanken spülte ich schnell meinen Mund aus. Doch meine Mutter kam nicht zu mir ins Badezimmer. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Es konnte doch nicht wahr sein, dass meine Mutter jetzt auch schon schlafen ging! Dann wäre sie bald wieder in genauso einem schlechten Zustand wie direkt nach Melissas Tod. Dabei hatte ich angenommen, dass es ihr von Tag zu Tag langsam besser ging. Diese verdammte Frau Knop war schuld an alledem! Sie hatte meine Mutter mit ihrem dummen Geschwätz vom Jenseits ganz verrückt gemacht! Ich verließ das Badezimmer und war im Begriff, die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern zu öffnen, um nach dem Rechten zu sehen, als ich die Stimme meiner Mutter hörte, die offenbar telefonierte. Ich ließ die Türklinke los und horchte angespannt.

„Mami?“, sagte meine Mutter und klang dabei wie ein kleines Mädchen. „Hat Erich dich endlich gefunden? Wo warst du denn?“ ... „Er ist wieder da, Mami.“ ... „Na, wer wohl?“ ... „Bruno Buhr!“ Meine Mutter klang schrecklich verängstigt, als sie den Namen, der mir nicht das Geringste sagte, aussprach, und begann zu weinen. „Es geht alles wieder von vorn los, Mami! Bruno hat unsere Melissa überfahren, und jetzt hat er es auf uns alle abgesehen!“ ... „Weil mir das ein Medium heute gesagt hat!“ ... „Aber ich habe ihn doch gesehen! Heute Abend! In unserem Garten! Er stand nur da und hat mich angestarrt!“ ... „Das weiß ich doch nicht! Er wird wohl irgendwie hinübergeklettert sein!“ ... „Was soll ich denn jetzt machen, Mami?“ ... „Konrad? Auf gar keinen Fall! Der weiß das doch alles nicht! Kannst du nicht zu uns kommen, Mami, und für eine Weile bei uns wohnen? Ich habe Angst allein. Morgen muss Constantin wieder zur Schule, und Frau Bäumler fühlt sich schnell gestört, wenn ich mich dort aufhalte, wo sie saubermacht.“ ... „Ja. Ja, ist gut. Auf dich ist Verlass, Mami. Was sollte ich nur ohne dich machen? Dann bis später.“

Ich zog mich zurück in mein Zimmer, legte mich sicherheitshalber in mein Bett und zog die Decke hoch bis unter mein Kinn, falls meine Mutter nach mir sehen sollte, obwohl mir das unwahrscheinlich schien, denn offensichtlich beschäftigten sie zurzeit ganz andere Dinge. Bruno Buhr. Wer mochte das nur sein? Und es hatte sich während des Telefonats meiner Mutter so angehört, als würde meine Großmutter diesen Bruno Buhr ebenfalls kennen. Wieso kam meine Mutter auf einmal darauf, er könnte Melissa überfahren haben? Ich verstand das alles nicht.

Es war draußen immer noch hell, als ich die Klingel der Pforte hörte. Kurz darauf vernahm ich die Stimme meiner Großmutter und schlich zum Treppenabsatz, um zu lauschen.

„Mami, endlich!“, schluchzte meine Mutter.

„Anni, mein Mädchen. Was ist denn nur los?“

„Das habe ich dir doch schon am Telefon gesagt! Bruno Buhr ist wieder hier! Hast du ihn denn nicht im Garten herumlungern sehen?“

„Nein, mein Kind“, erwiderte meine Großmutter mit beschwichtigender Stimme. „Da war niemand. Soll ich auch noch im Rest des Gartens nachsehen?“

„Um Gottes willen, Mami! Das ist viel zu gefährlich! Wenn Bruno dir nun etwas antut! Er ist doch viel stärker als du und kann dich ohne Schwierigkeiten überwältigen!“

„Wann erwartest du Konrad denn zurück?“ Die Stimme meiner Großmutter klang, als wäre ihr die Situation unangenehm. „Und wo ist Constantin?“

„Constantin habe ich in sein Zimmer geschickt. Oben ist er am sichersten. Und Konrad? Was weiß ich, wann der nach Hause kommt! Das kann bei ihm spät werden! Dafür taucht er in den unpassendsten Momenten auf! Frau Knop, das Medium, das uns helfen wollte, hat er heute Nachmittag vertrieben! Einfach vom Grundstück gejagt hat er sie! Dabei hätte sie uns vor dem Unglück bewahren können, das nun im wahrsten Sinne des Wortes vor der Tür steht!“

„Nun beruhige dich erst einmal“, schlug meine Großmutter vor. „Komm, wir setzen uns in Ruhe ins Wohnzimmer und warten auf Konrad.“

„‚In Ruhe?‛“, fragte meine Mutter fassungslos. „Wie soll ich da ruhig bleiben, wenn Bruno Buhr draußen herumstreift?“

„Du solltest mit Konrad darüber sprechen.“ Die Stimme meiner Großmutter wurde leiser. Ich schlich die Treppe hinunter, um weiterhin zu verstehen, was im Wohnzimmer gesprochen wurde.

„Damit mich Konrad auslacht, oder was? Und dann müsste ich ihm auch von früher erzählen, was Bruno Buhr mit Dodo gemacht hat. Das weiß er doch alles gar nicht. Wahrscheinlich würde ich mich sofort verlassen.“

Wer um Himmels willen war Dodo? Ich hatte den Namen noch nie zuvor gehört.

„Ich spreche mit Konrad“, entschied meine Großmutter. „Lass dir helfen, Anni.“

„Nein! Mami, ich flehe dich an! Kein Wort zu Konrad! Wir tun einfach so, als hättest du dich spontan entschieden, uns zu besuchen und ein paar Tage zu bleiben. Ja, Mami?“

Meine Großmutter schwieg.

„Ja?“, drängte meine Mutter beinah verzweifelt. „Wir lassen uns Konrad gegenüber nichts anmerken und halten in den nächsten Tagen zusammen Ausschau nach Bruno Buhr. Und wenn wir ihn auf frischer Tat ertappen, wie er hier ums Haus schleicht, rufen wir die Polizei, damit sie ihn festnehmen kann. Ja, Mami? Ja?“

„Meinetwegen“, gab sich meine Großmutter geschlagen. „Aber wenn wir ihn nicht sehen, hörst du auf damit, Anni.“ Sie klang plötzlich streng. „Hast du mich verstanden! Dann siehst du ein, dass du dich geirrt hast, und gibst Ruhe von dem Thema!“

„Aber ich habe mich nicht geirrt, Mami. Nie im Leben! Ich kenne doch Bruno Buhr! Bis an mein Lebensende werde ich sein Gesicht nicht vergessen! Bis an mein Lebensende!“

In dem Moment wurde die Haustür aufgeschlossen, und mein Vater betrat den Flur. „Nanu, Constantin. Was stehst du denn hier herum?“ Dann hörte er die Stimmen aus dem Wohnzimmer und betrat den Raum, wobei ich ihm folgte. „Annemarie.“ Die sachliche Feststellung ließ nicht die geringste Freude über den Besuch seiner Schwiegermutter, die neben meiner Mutter auf dem schwarzen Ledersofa gesessen hatte und sich nun erhob, erkennen.

„Ja, Konrad. Ich habe mich spontan entschlossen, euch für ein paar Tage zu besuchen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.“

„Für ein paar Tage gleich?“ Mein Vater gab sich nicht die geringste Mühe zu verbergen, dass er davon alles andere als angetan war.

„Hallo Constantin.“ Meine Großmutter kam auf mich zu, statt auf die Bemerkung meines Vaters einzugehen, und drückte mich an sich. „Wie geht es dir? Morgen beginnt wieder die Schule, nicht war?“

Ich nickte nur. Dabei hätte ich am liebsten gefragt, wer Bruno Buhr und Dodo seien.

„Wieso habt ihr die Vorhänge zugezogen und sitzt hier im Dunkeln?“, wollte mein Vater verwundert wissen.

„Wir dachten, das wäre gemütlicher“, lautete die wenig überzeugende Antwort meiner Großmutter, die sich wieder zu meiner Mutter auf das Sofa setzte.

„So ein Unsinn.“ Mein Vater zog nacheinander die Vorhänge auf. Die Augen meiner Mutter weiteten sich vor Entsetzen, jedoch sagte sie nichts. „Im Sommer bleiben die Vorhänge gefälligst offen“, entschied mein Vater und wandte sich an meine Großmutter. „Untersteh dich, hier neue Sitten einzuführen.“

„Das hatte ich keineswegs vor“, erwiderte meine Großmutter ruhig.

„Ich weiß nicht, wie es euch geht“, sagte mein Vater und ging auf die Bar zu, die sich hinter einer der Schranktüren befand, „aber ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und brauche jetzt erst einmal einen Drink. Und dann will ich mir im Fernsehen gleich eine politische Diskussion ansehen, die mich sehr interessiert. Falls das bei euch nicht der Fall ist, schlage ich vor, dass ihr euch woanders weiterunterhaltet.“

 

„Wir leisten dir gern Gesellschaft“, antwortete meine Großmutter freundlich, während es meiner Mutter angesichts dieser Unhöflichkeit offenbar die Sprache verschlagen hatte. „Und stoßen mit dir auf deine Erfolge an.“

„Wie ihr meint, obwohl ich nicht weiß, wie gut sich das mit den Tabletten verträgt, die Marianne konsumiert. Und du, Annemarie, nimmst doch sicher auch regelmäßig Medikamente ein. Würde mich in Anbetracht deines Alters jedenfalls wundern, wenn es nicht so wäre.“ Mein Vater goss seelenruhig etwas von einem bernsteinfarbenen alkoholischen Getränk in drei Gläser, während sich meine Großmutter und meine Mutter nur fassungslos ansahen. „Wie kommt es eigentlich“, fragte er, als er meiner Mutter und meiner Großmutter jeweils ein Glas reichte, „dass Constantin im Flur herumsteht, während ihr es euch in unserem abgedunkelten Wohnzimmer gemütlich macht?“ Mein Vater hatte eine sehr gute Beobachtungsgabe und konnte es förmlich wittern, wenn etwas auch nur ansatzweise verdächtig war.

Wieder antwortete meine Großmutter anstelle meiner Mutter. „Constantin war oben in seinem Zimmer und kam wohl gerade herunter, als du ihn im Flur antrafst.“

„Stimmt das?“, wandte sich mein Vater an mich.

Ich nickte aus Angst, etwas Falsches zu sagen.

„Nun gut. Belassen wir es dabei, obwohl ich weiß, dass ihr lügt. Ihr werdet schon eure Gründe dafür haben.“ Mein Vater stellte sein Glas auf dem Couchtisch ab und schaltete den Fernseher an, in dem bereits die politische Diskussionsrunde lief.

„Aber Konrad“, sprach nun endlich meine Mutter. „Wir lügen dich doch nicht ...“

Mein Vater hob abwehrend die Hand. „Ich habe gesagt, ich will mir das hier in Ruhe ansehen, Marianne. Hör jetzt also bitte mit dem Gerede auf.“

Meine Mutter presste beschämt die Lippen aufeinander.

„Komm, wir gehen in die Küche“, schlug ihr meine Großmutter flüsternd vor.

Ich zog es vor, bei meinem Vater zu bleiben, der konzentriert das Streitgespräch auf dem Bildschirm verfolgte. Obwohl ich nicht wusste, ob es ihn überhaupt interessierte, tat ich so, als fände ich die Diskussion ebenfalls sehr spannend. Dabei dachte ich die ganze Zeit darüber nach, was mein Vater dazu sagen würde, wenn ich ihm von Dodo und Bruno Buhr erzählen würde.

Am nächsten Morgen nahm mein Vater sein Frühstück demonstrativ allein im Esszimmer ein, während ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter am Küchentisch saß. Ich fand es seltsam, dass meine Großmutter schon so früh aufstand, wo sie doch hätte ausschlafen können, aber sie erklärte mir mit einem Seitenblick auf meine Mutter, dass ältere Menschen nicht mehr so viel Schlaf benötigten und der frühe Vogel den Wurm fange.

Im Gegensatz zu sonst freute ich mich sehr auf meinen ersten Schultag nach den Ferien. Endlich würde ich wieder unter Menschen sein und mit meinen Freunden auf dem Schulhof spielen können. Große Hoffnung, dass mir meine Mutter demnächst wieder erlauben würde, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, machte ich mir angesichts ihrer seltsamen Sorge um Bruno Buhr derzeit nicht. Doch damit, dass mich meine Mutter an diesem Morgen sogar zur Bushaltestelle begleiten wollte, wie sie während des Frühstücks ankündigte, statt mir nur von unserem Grundstück aus hinterherzusehen, hätte ich nie und nimmer gerechnet.

„Es ist sicherer, wenn ich mitkomme“, erklärte sie, während ich mir im Flur meinen Schulranzen auf den Rücken schnallte, obwohl sie das während des Frühstücks sicher schon dreimal gesagt hatte, ohne Widerworte zuzulassen. „Ich will nicht, dass dir etwas so Schlimmes passiert wie Melissa. Das könnte ich nicht ertragen.“

„Mama ...“, versuchte ich ein letztes Mal, missmutig einzuwenden. „Ich werde demnächst zehn! Die anderen lachen mich doch aus, wenn du mit zur Bushaltestelle kommst.“

„So, tun sie das?“, gab meine Mutter spitz zurück. „Dann erzähle ihnen doch mal, was deiner Schwester zugestoßen ist! Dass sie ein Verrückter überfahren und anschließend wie Müll in einen Graben geworfen hat! Dann vergeht ihnen vielleicht das Lachen!“

„Was ist hier schon wieder los?“, fragte mein Vater in der Esszimmertür stehend.

„Ich begleite Constantin zur Bushaltestelle“, erwiderte meine Mutter entschlossen. „Das ist alles. Kein Grund für dich, dich da einzumischen.“

„Und ob das ein Grund für mich ist. Du lässt den Jungen gefälligst allein zur Bushaltestelle gehen! Und das morgendliche Hinterherschauen hört jetzt auch auf! Du machst uns alle noch zum Gespött der Leute mit deinem Geglucke!“

Einerseits tat es richtig gut, diese Worte, die ich meiner Mutter gern gesagt hätte, aus dem Mund meines Vaters zu hören. Andererseits lag nun schon wieder ein Streit in der Luft, nachdem sich beide während der letzten Zeit zusammengerissen hatten.

„Du kannst mir nicht verbieten, meinen Sohn zu beschützen!“, widersprach meine Mutter.

„Du kannst ihn nicht vor allem beschützen! Und er muss selbständig werden, Gefahren allein erkennen! Das kannst du ihm nicht abnehmen!“

„Und wenn er auch überfahren wird, Konrad? Was dann? Dann haben wir beide Kinder verloren!“ Meine Mutter begann zu weinen. „Ich will nicht, dass er da draußen allein ist. Außerdem muss ich gleich erst einmal nachsehen, ob jemand in unserem Garten ist!“

„Wie bitte?“ Mein Vater runzelte verständnislos die Stirn. „Wer soll denn in unserem Garten sein?“

„Weiß nicht“, antwortete meine Mutter ausweichend. „Irgendein ... Spinner eben.“

„Irgendein Spinner, soso. Das muss dann aber ein fliegender Spinner sein, oder wie soll er über den Zaun kommen?“

„Es gibt Leitern“, gab meine Mutter in würdevollem Tonfall zurück.

„Leitern. Aha. Marianne, wir haben in unserem Garten unnötigerweise mehrere Überwachungskameras, falls ich dich daran erinnern darf. Weil du es damals unbedingt so wolltest. Niemand schleicht ungesehen in unserem Garten herum.“

„Doch“, widersprach meine Mutter. „Gestern war da jemand. Deshalb habe ich auch die Vorhänge zugezogen.“

„Wusste ich doch, dass irgendwas faul war. Ich sehe mir heute Abend die Bilder der Überwachungskameras an. Dann werden wir Mister X ja durchs Bild huschen sehen.“ Sarkastisch fügte mein Vater hinzu: „Vielleicht hat er ja Flügel.“

„Ich glaube, mein Schulbus ist gleich weg“, traute ich mich, mich vorsichtig in das Gespräch einzumischen.

„Da siehst du mal wieder, wie viel kostbare Zeit uns deine hysterischen Anfälle kosten, Marianne. Herzlichen Glückwunsch.“ Lächelnd sah mich mein Vater an. „Weißt du, Constantin, ich habe mich schon länger gefragt, weshalb du bei dem schönen Wetter nicht mit dem Fahrrad fährst. Die Schule liegt doch nur einen Katzensprung entfernt.“

„Nein, Konrad, bitte nicht“, wimmerte meine Mutter.

„Doch. Komm, Constantin, nimm dein Fahrrad, und los geht‛s. Du hast lange genug darauf verzichtet. Und geholfen hat es anscheinend überhaupt nichts.“

„Nein ... nein.“ Meine Mutter hielt sich weinend beide Hände vor das Gesicht und schüttelte langsam ihren Kopf. „Bitte tu mir das nicht an, Konrad.“

Meine Großmutter erschien mit besorgtem Gesicht in der Küchentür.

„Du hältst dich gefälligst da raus“, befahl mein Vater ihr und zeigte dabei drohend mit dem Zeigefinger auf sie. Dann drängte er mich: „Los, Constantin. Beeil dich, damit du es noch rechtzeitig schaffst.“

Zweifelnd sah ich zu meiner Mutter.

„Du sollst dich beeilen, habe ich gesagt“, wiederholte mein Vater im Kommandoton. „Wird‛s bald.“

„Tschüss, Mama.“ Ich ging auf meine Mutter zu, um sie zu umarmen, doch sie wich zurück, drängte sich an meiner Großmutter vorbei und verschwand in der Küche.

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