Sie war meine Königin

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„Was bist du nur für ein Mensch, Konrad“, sagte meine Großmutter leise, bevor sie zu meiner Mutter eilte, um sie zu trösten.

Glücklicherweise schaffte ich es, rechtzeitig zur ersten Unterrichtsstunde, in der Guido unserer Klasse von unserer Klassenlehrerin als neuer Mitschüler vorgestellt wurde, in der Schule zu sein. Die Tische in unserem Klassenzimmer waren in einer U-Form angeordnet. Ich forderte einige Klassenkameraden auf, jeweils einen Stuhl zur Seite zu rücken, damit Guido neben mir sitzen könne. Seltsamerweise kamen alle meiner Bitte ohne Widerworte sofort nach. Das lag sicher daran, dass sie wussten, was Melissa zugestoßen war, und sie deshalb besonders nett zu mir sein wollten. Alle wussten, dass Melissa tot war, dass ich in den Sommerferien meine kleine Schwester verloren hatte.

„Das ist aber sehr nett von dir, Constantin“, lobte mich meine Klassenlehrerin, Frau Jäger, die noch recht jung war und sehr krauses blondes Haar hatte, das ihr bis zu den Schultern reichte.

„Guido und ich kennen uns schon. Wir sind Freunde“, erwiderte ich nur.

Meine Klassenlehrerin nickte, und ihre Augen glänzten dabei seltsam feucht hinter den Gläsern ihrer Brille. Anschließend sollten alle der Reihe nach von ihren Erlebnissen während der Sommerferien erzählen. Guido berichtete von den Tagen, die er mit seinem Vater verbracht hatte, und sagte anschließend, da Frau Jäger aufgrund seines Namens vermutete, dass er italienische Wurzeln habe, zu ihrem Entzücken noch ein paar melodische Worte in der Muttersprache seiner Mutter. Ich persönlich hätte es viel interessanter gefunden, wenn ich etwas über Angelina selbst erfahren hätte.

Als ich nach Guido an der Reihe gewesen wäre zu berichten, was ich Schönes während der Sommerferien gemacht hatte, überging Frau Jäger mich einfach und rief stattdessen den Jungen auf, der zu meiner anderen Seite saß. Sicher wollte sie es mir ersparen, den anderen zu schildern, wie es war, seine Schwester durch einen leichtsinnigen Raser, der auch noch Fahrerflucht begangen hatte, zu verlieren.

Den ganzen Vormittag wich ich nicht von Guidos Seite, der anscheinend froh war, nicht auf sich allein gestellt zu sein, und nichts dagegen hatte, dass ich ihm alles zeigte und in den Pausen mit ihm über den Schulhof rannte.

„Wollen wir uns nachher zum Spielen treffen?“, fragte er mich, als wir nach dem Unterricht auf die Fahrradständer zugingen. Da erst fiel mir wieder die Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern vom Morgen ein. Glücklicherweise hatten mich der Schulalltag und Guido so abgelenkt, dass ich gar nicht mehr daran gedacht hatte.

„Ich weiß nicht, ob ich darf“, gab ich mich zögerlich, obwohl ich liebend gern zugesagt hätte, schon allein wegen der Chance, so Angelina wiederzubegegnen.

„Ist es ... wegen dem, was mit deiner Schwester passiert ist?“, wollte Guido vorsichtig wissen. Natürlich wusste auch er davon. Alle wussten davon. Doch niemand hatte mir gegenüber heute in der Schule auch nur ein Wort darüber verloren.

„Ja“, antwortete ich nur. Es fiel mir schwer, die für mich nicht nachvollziehbaren Ängste meiner Mutter in Worte zu fassen.

„Ich bin jedenfalls nachher mit meinen Murmeln vor dem Friseursalon“, ließ mich Guido wissen.

„Und wo isst du dein Mittagessen?“, erkundigte ich mich neugierig.

„Meine Mutter kocht was während ihrer Mittagspause“, erklärte Guido. „Obwohl sie nicht gut kochen kann.“

„Nicht?“ Das erstaunte mich. Ich hatte geglaubt, alle Italiener würden ständig Pizza backen und Pasta mit Tomatensauce kochen wie in dem italienischen Restaurant, das ich mit meinen Eltern und Melissa manchmal besucht hatte.

„Nee.“ Guido schüttelte den Kopf. „Was meine Mutter kocht, schmeckt überhaupt nicht, und sonst kriegt sie im Haushalt auch nicht viel hin.“

„Meine Mutter auch nicht“, versuchte ich, Guido zu trösten, obwohl mich seine harten Worte über Angelina schon etwas trafen. „Deshalb erledigen bei uns fast alles Frau Hubertus und Frau Bäumler. Das sind unsere Haushälterinnen, wobei ich Frau Hubertus lieber mag. Frau Bäumler hasst Kinder, glaube ich.“

„Bei uns zu Hause muss ich alles machen“, vertraute mir Guido an, ohne auf meinen Bericht einzugehen.

„Wie: Du musst alles machen? Was meinst du damit?“

„Na, waschen, putzen und so weiter. Seit Kurzem auch noch bügeln. Meine Mutter kümmert sich um gar nichts.“

„Was?“ Ich konnte es nicht fassen. Meine Mutter bestand ab und zu darauf, dass ich mein Zimmer aufräumte, damit ich Ordnung lernte. Das war aber auch alles, was ich an Arbeiten erledigen musste, wenn man das überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das nicht bei allen Kindern so war.

„Ja. Wirklich. Meine Mutter hat nur ihren Salon und ihre Freunde im Kopf.“

„Was denn für Freunde?“, erkundigte ich mich verdutzt. „Sabrina und Emily?“

„Nein, nicht Sabrina und Emily. Du kapierst aber auch gar nichts“, warf mir Guido mit leicht verärgerter Stimme vor. „Männer. Meine Mutter trifft sich ständig mit irgendwelchen Männern.“

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Schon, dass es diesen Harry mit Ferienhaus am Meer und eigenem Boot gab, war für mich schwer zu ertragen. Und das sollte noch nicht einmal der Einzige sein? Das durfte nicht wahr sein. „Das glaube ich nicht“, war alles, was mir als Erwiderung einfiel.

„Es stimmt aber“, bekräftigte Guido unbeeindruckt. „Meine Mutter mag Männer mit viel Geld. Weil sie selbst nicht viel hat und die Männer ihr viel schenken. Darum hat uns auch mein Vater verlassen. Wegen der anderen Männer. Er konnte es nicht mehr ertragen.“

„Echt?“

„Kannst du mir ruhig glauben. Und ich muss den Haushalt machen, während sie unterwegs ist. Und wehe, es ist nicht alles tipptopp, wenn sie zurück ist. Dann gibt‛s richtig Ärger.“

„Aber heute Nachmittag ... hättest du Zeit zum Spielen?“, wollte ich wissen.

„Ja, wenn schönes Wetter ist, darf ich raus. Dafür muss ich dann heute Abend putzen. Sonst gibt‛s ein Donnerwetter.“

„Okay, ich werde sehen, dass ich nachher zum Salon kommen kann“, lenkte ich hastig ein, um das mir äußerst unangenehme Thema zu beenden. „Kann ich aber nicht versprechen.“

„Ist schon in Ordnung.“ Guido lächelte mich an und zeigte dabei seine Zahnspange. „Ich finde es toll, dass du überhaupt was mit mir zu tun haben willst. An meiner alten Schule war ich ganz allein.“

Auf dem Nachhauseweg dachte ich darüber nach, was mir Guido soeben anvertraut hatte. Ich konnte das nicht glauben. Das durfte einfach nicht wahr sein. Angelina war so eine nette, freundliche Frau. Eine bezaubernde Frau, um genau zu sein. Die bezauberndste Frau, der ich je begegnet war. Jemand wie sie behandelte ihr Kind doch nicht wie einen Sklaven. So etwas hatte ich von überhaupt noch niemandem gehört. Guido musste sich das ausgedacht oder im Fernsehen gesehen haben. Mein Vater hatte mich schon oft darauf aufmerksam gemacht, dass im Fernsehen viel Blödsinn gezeigt werde, was die meisten auch noch glaubten, weil sie zu dumm seien zu erkennen, dass alles gelogen sei. Er hatte mir geraten, höchstens zehn Prozent von dem zu glauben, was ich im Fernsehen sah. Wobei ich nicht wusste, was zehn Prozent waren, was ich meinem Vater gegenüber aber nicht zugegeben hatte. Vielleicht nahm Guido es auch einfach mit der Wahrheit nicht so genau wie einige andere meiner Freunde, die zum Beispiel unglaubliche Geschichten über ihre Väter erzählten, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass ihre Väter längst nicht so viel Geld verdienten wie mein Vater.

An unserem Grundstück angekommen, klingelte ich an der Pforte und stellte mein Fahrrad ordnungsgemäß ab, bevor ich das Haus betrat. Frau Bäumler erwartete mich im Flur. „Na, ersten Tag geschafft?“, wollte sie wissen.

Ich wunderte mich, dass sie freiwillig mit mir sprach. Das tat sie sonst nie. Etwas stimmte nicht. „Ja“, antwortete ich.

„Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.“

„Klar.“

„Willst du heute oben in deinem Zimmer essen?“

„Wieso?“ Sonst nahm ich mein Mittagessen immer in der Küche ein.

„Nur so. Wäre mal was anderes.“ Frau Bäumler lächelte etwas gezwungen.

Entschlossen ging ich an ihr vorbei, öffnete die Küchentür und sah in den großen Raum, der völlig im Dunkeln lag. Nicht nur die Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, auch die Außenjalousien waren heruntergelassen worden. Ich drehte mich zu Frau Bäumler um und sah sie fragend an.

„Deine Mutter wollte das so“, erklärte sie. „Weil sie vorhin jemanden im Garten herumstreunen gesehen hat. Die Polizei war deswegen erst hier, hat aber niemanden gefunden. Alle Fenster im Erdgeschoss mussten verrammelt werden.“ Mit einem verständnislosen Kopfschütteln fügte sie hinzu: „Da kann einem ganz anders werden. Nur durch die Scheiben neben der Haustür kommt noch Licht.“

„Wo ist meine Mutter jetzt?“

„Oben in ihrem Schlafzimmer. Oder bei deiner Großmutter in einem der Gästezimmer. So genau weiß ich das nicht. Bin ja schließlich hier nicht der Babysitter.“

„Constantin.“ Meine Großmutter kam die Treppe herunter und strich mir zu Begrüßung über das Haar. „Wie war es in der Schule? Nimm doch den schweren Tornister ab, Junge.“

Ich nahm den Schulranzen von meinem Rücken und stellte ihn ab. „Hier war ein Dieb auf dem Grundstück?“, fragte ich an meine Großmutter gewandt.

„Ja ...“, bestätigte diese zögerlich. „Deine Mutter hat deswegen erst die Polizei gerufen.“ Sie strich mir wieder über mein Haar. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Die Polizei konnte niemanden finden.“

„Und warum ist dann alles abgedunkelt?“

„Ach.“ Meine Großmutter machte eine wegwerfende Bewegung. „Weil deine Mutter das erst so wollte. Alles halb so wild. Frau Bäumler, Sie können jetzt wieder überall Licht hereinlassen.“

 

Frau Bäumler verdrehte kurz die Augen, als wollte sie fragen, was der ganze Zirkus solle, und verschwand in der Küche.

„Dann kann ich auch wie immer in der Küche essen?“

„Ja, sicher. Aber zuerst wäschst du dir die Hände.“

„Wieso kommt Mama nicht nach unten?“, wollte ich wissen, als ich mir kurz darauf in Gesellschaft meiner Großmutter belegte Brote und Salat, die es bei uns gewöhnlich mittags gab, schmecken ließ.

„Oh, deine Mutter ist noch etwas ... aufgewühlt wegen vorhin. Das wird sich bestimmt bald geben“, versicherte mir meine Großmutter aufgesetzt heiter.

„Oma, gibt es Kinder, die zu Hause alles machen müssen?“ Diese Frage brannte mir schon die ganze Zeit seit dem verstörenden Gespräch mit Guido unter den Nägeln.

„Was meinst du damit?“, fragte meine Großmutter freundlich.

„Na, den Haushalt. Gibt es Kinder, die zu Hause den Haushalt machen müssen?“

„Oh, es gibt sicher Kinder, die zu Hause mehr mithelfen müssen als du und ...“ Meine Großmutter presste ihre Lippen aufeinander. „Jedenfalls hast du es ziemlich gut, was deine Pflichten angeht, glaube ich“, fuhr sie schließlich fort.

„Ja, aber gibt es Kinder, die alles machen müssen?“

„Nein, ... ich denke nicht, dass das erlaubt ist. In Deutschland gibt es nämlich für alles Gesetze, weißt du?“

„Ein Junge in meiner Klasse muss aber den ganzen Haushalt machen, weil seine Mutter lieber mit reichen Männern unterwegs ist.“

„Was ...?“ Meine Großmutter sah mich vermutlich genauso ungläubig an, wie ich erst Guido bei seiner Schilderung angesehen hatte. Dann lachte sie heiter. „Da hat dir der Junge bestimmt einen Bären aufgebunden. So was gibt es doch wohl nur im Fernsehen.“

„Mmh.“ Nachdenklich kaute ich auf meinem Brot herum. Doch wirklich überzeugt war ich nicht.

Nach dem Essen machte ich mich mit dem Fahrrad auf zum Friseursalon, nachdem mir meine Großmutter die Erlaubnis dazu erteilt hatte. Meine Mutter hatte ich nicht zu Gesicht bekommen, da diese sich nach der Aufregung hingelegt habe, wie mich meine Großmutter informierte.

Guido hockte wieder einmal auf den Steinplatten vor dem Friseursalon und kullerte Murmeln hin und her. Als ich von meinem Rad abstieg, bemerkte er mich und sah mich lächelnd an. „Du durftest ja doch kommen.“

„Ja, meine Großmutter hat es erlaubt.“

Wir spielten eine Weile mit den Murmeln, wobei ich immer wieder zu der Tür des Friseursalons lugte in der Hoffnung, Angelina möge eine kurze Pause machen und mir sagen, dass das alles nicht stimme. Dass sie ihren Sohn nicht sämtliche Hausarbeiten erledigen lasse, während sie sich mit reichen Männern vergnügte. „Wollen wir deine Mutter im Salon besuchen?“, fragte ich schließlich, als es fast Zeit für mich war, zum Abendessen nach Hause zu fahren.

Guido schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.“

„Wieso nicht?“, wollte ich wissen. Angelina hatte mir doch gesagt, wie sehr sie sich freuen würde, mich wiederzusehen.

„Weil ich Mist gebaut habe und meine Mutter noch sauer auf mich ist.“

„Wieso, was hast du denn gemacht?“

„Ich habe gestern das Bügeleisen zu heiß eingestellt und Mamas Strandkleid, das sie sich selbst genäht hat, verbrannt. Das hat sie herausgefunden, und heute Mittag hat sich mich deswegen ausgeschimpft und mir das Taschengeld für diesen Monat gestrichen.“

Jetzt fing Guido schon wieder von diesen Geschichten an. Das war für mich unerträglich. „Das glaube ich nicht“, erwiderte ich gerade trotzig, als die Salontür geöffnet wurde und Angelina nach draußen trat. „Hallo Constantin“, begrüßte sie mich wie immer mit dieser warmherzigen Stimme.

Ich stand auf. „Hallo Angelina. Wie geht es dir?“

Angelina lachte. „Oh, mir geht es sehr gut.“ Sie drückte Guido, der sich ebenfalls erhoben hatte, an sich und küsste sein Haar. „Uns geht es beiden sehr gut, nicht, mein Schatz?“ Dann wurde sie ernst. „Aber das, was mit deine Schwester passiert ist, ist schlimm. Das tut mir sehr, sehr leid.“

Ich blickte betroffen zu Boden und versuchte so, die Tränen, die mir bei der Erwähnung von Melissa sofort in die Augen gestiegen waren, zu verbergen.

„Komm mal her.“ Angelina nahm mich in die Arme. Ich roch ihr wunderbares Zitronenparfum und wünschte, dieser Moment möge nie vergehen. Viel zu schnell ließ sie mich wieder los. „Guido und ich gehen jetzt nach Hause“, erklärte sie mir. „Ich habe heute etwas früher Feierabend gemacht. Willst du noch mit uns kommen?“

Wie gern hätte ich das Angebot angenommen. Stattdessen schüttelte ich den Kopf. „Ich muss jetzt nach Hause. Vielleicht ein andermal.“

„Ja, sicher.“ Angelina lächelte mich an. „Irgendwann wird es schon besser passen.“ Sie wandte sich an Guido. „Dann gehen wir beide jetzt nach Hause und spielen nach dem Essen auf dem Balkon Memory. Das magst du doch so gern. Oder möchtest du heute lieber Mikado spielen, amore?“

Guido stand nur da und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Angelina drückte ihn übermütig an sich. „Wenn du nicht antworten willst, entscheide ich, verstanden?“, neckte sie ihn lachend und küsste ihn mehrmals hintereinander auf die Wange. „Dann entscheide ich, amore, hörst du?“

Immer noch lachend nahm sie Guido an die Hand. „Tschüss, Constantin“, rief sie mir fröhlich zu. „Und vergiss nicht, uns mal wieder zu besuchen, ja? Wir könnten ja auch mal zu dritt Mikado spielen oder was immer ihr wollt.“

Auf meinem Nachhauseweg war ich noch ganz aufgewühlt von der Begegnung mit Angelina. Sie war immer so herzlich und gut gelaunt. Ich wünschte, meine Mutter könnte zumindest ein wenig so sein wie sie. Und wie lieb sie zu Guido gewesen war. Dabei hatte er behauptet, sie sei verärgert, weil er ihr Kleid beim Bügeln ruiniert habe. Er musste sich das alles ausdenken. Ich verstand nur nicht, wieso er diese Dinge über seine Mutter, die die netteste der Welt war, behauptete.

Meine Großmutter nahm mich an der Haustür in Empfang und teilte mir mit, dass meine Mutter wegen der heutigen Aufregung um den Eindringling auf unserem Grundstück noch immer im Bett lag, um sich auszuruhen. Kurz darauf verzehrten sie und ich im Esszimmer unser Abendessen. Meine Großmutter wirkte nachdenklich und ungewohnt schweigsam. Sicher machte sie sich Sorgen wegen meiner Mutter, vielleicht auch wegen des Mannes namens Bruno Buhr, der es ja wohl anscheinend auf uns abgesehen hatte, wenn mir der Grund dafür auch nicht ansatzweise bekannt war. Nach einer Weile entschloss ich mich, meine Großmutter einfach danach zu fragen. „Oma, wer ist eigentlich Bruno Buhr?“

„Was?“ Meine Großmutter, die mir gegenübersaß, sah mich schockiert an.

„Na, wer Bruno Buhr ist, will ich wissen.“

„Wie ... kommst du denn auf diesen Namen?“

„Ich habe gehört, wie Mama gestern mit dir über ihn gesprochen hat“, gab ich zu.

„Da musst du dich verhört haben“, widersprach meine Großmutter entschlossen und spießte, als wollte sie dieser Aussage Nachdruck verleihen, heftig einige Nudeln auf ihre Gabel.

„Nein, ich habe mich nicht verhört. Ich weiß ganz genau, dass Mama diesen Namen gesagt hat. Und außerdem, dass alles wieder von vorn losgeht. Was geht denn wieder von vorn los?“

„Nichts geht von vorn los. Überhaupt nichts.“ Meine Großmutter stopfte sich die Nudeln in den Mund, obwohl sie bei den vorherigen Mahlzeiten vorbildliche Tischmanieren an den Tag gelegt hatte, und kaute energisch, während sie mich geradezu wütend dabei ansah.

„Was hast du denn auf einmal?“, erkundigte ich mich arglos.

„Du sollst aufhören, solche Sachen zu behaupten“, antwortete meine Großmutter gereizt, nachdem sie den großen Bissen heruntergeschluckt hatte. „Hast du mich verstanden! Das ist genauso ein Unsinn wie die Kinderarbeit, von der du heute Mittag gesprochen hast! Du entwickelst dich noch zu einem richtigen Lügner!“

„Ich bin kein Lügner!“, verteidigte ich mich erbost. „Dass mein Klassenkamerad viel im Haushalt helfen muss, hat er mir sehr wohl erzählt! Und das mit Bruno Buhr habe ich mir auch nicht ausgedacht!“

„Erwähne diesen Namen nie wieder!“, schrie mich meine Großmutter an. „Deine Mutter ist schon unglücklich genug!“

„Ich bin auch unglücklich!“, antwortete ich in nicht geringerer Lautstärke. „Und zwar weil Melissa tot ist!“

Meine Großmutter sah mich betreten an. „Ja, ich weiß“, stimmte sie mir leise zu. „Wir sind alle traurig, sehr traurig sogar, weil Melissa tot ist. Komm, lass uns aufhören zu streiten. Aber versprich mir, dass du deine Mutter nicht aufregst, indem du sie nach dem Mann fragst, der auf euer Grundstück eingedrungen ist.“

„Bruno Buhr“, beharrte ich.

„Constantin.“ Im Tonfall meiner Großmutter schwang eine leise Drohung mit. „Mach es nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.“

Die abweisende Art meiner Großmutter und ihr bestimmender Tonfall ärgerten mich, und obwohl ich sie ganz gern hatte, wünschte ich in diesem Moment, sie würde nach Hause fahren und uns hier in Ruhe lassen.

„Guten Abend.“ Als hätte mein Vater, der plötzlich in der Tür aufgetaucht war, meine Gedanken gelesen, ging er mit ein paar großen Schritten auf meine Großmutter zu und fragte sie ohne Umschweife: „Was bildest du dir eigentlich ein, meinem Sohn vorzuschreiben, was er in meinem Haus sagen darf und was nicht?“

„Konrad, ich ...“

„Gib dir keine Mühe. Ich bin an deinen Ausreden nicht interessiert. Setzt dich hier an den gedeckten Tisch und spielst die Hausherrin, während deine Tochter vermutlich wieder mit den Nerven am Ende im Bett liegt. Kann ich verstehen, dass dir das gefällt. Aber mir nicht. Und zwar ganz und gar nicht. Es ist das Beste, wenn du wieder abreist, und zwar sofort.“

„Aber Konrad, du weißt ja nicht, was heute Vormittag passiert ist.“

„Was für ein tragisches Ereignis hat sich denn während meiner Abwesenheit zugetragen?“ Der Sarkasmus in der Stimme meines Vaters war nicht zu überhören.

„Marianne hat wieder einen Mann auf eurem Grundstück herumstreunen sehen und die Polizei gerufen.“

Mein Vater schien nicht sonderlich beeindruckt. „Und? Hat die Polizei einen Mann auf unserem Grundstück gefunden, der hier nichts verloren hat?“

Meine Großmutter schwieg betreten.

„Gut, dass ich heute extra früher nach Hause gekommen bin, um mir die Bilder der Überwachungskameras anzusehen. Ich werde zweifelsfrei herausfinden, ob hier jemand unbefugt das Grundstück betreten hat oder nicht.“

„Konrad, ich würde gern vorher mit dir über diese ... Vorfälle sprechen.“ Mit einem Blick auf mich fügte meine Großmutter hinzu: „Unter vier Augen.“

„So lange, dass ich vorher noch etwas essen kann, hat es hoffentlich noch Zeit.“ Mein Vater setzte sich auf den Platz neben mir, der ebenfalls eingedeckt war, und bediente sich an dem Nudelgericht. „Und Constantin wird auch in Ruhe zu Ende essen, bevor ich mir deine wichtige Mitteilung anhöre.“

„Dass du immer so garstig sein musst“, erwiderte meine Großmutter eher bekümmert als verärgert.

„Ich kenne dich nun einmal und weiß, dass das der geeignete Umgangston für dich ist“, teilte ihr mein Vater ganz selbstverständlich mit. „Und wenn er dir nicht passt: Da vorn ist die Tür.“ Dann leerte er mit gutem Appetit seinen Teller, während ich angesichts der schlechten Stimmung am Tisch keinen Bissen mehr herunterbekam und nur aus Anstand sitzen blieb, bis mein Vater zu Ende gegessen hatte.

„Darf ich in mein Zimmer gehen?“, erkundigte ich mich.

„Wenn du willst, nur zu“, lautete die gönnerhafte Antwort meines Vaters. „Du kannst dir aber auch gern die wichtigen Dinge anhören, die deine Großmutter mir zu sagen hat.“

„Konrad, bitte ...“, warf meine Großmutter fast flehentlich ein.

„Ich habe bereits versucht, dir zu vermitteln, dass du in meinem Haus nichts zu entscheiden hast“, unterbrach mein Vater sie in kühlem Tonfall. „Anscheinend hast du es nicht verstanden. Also noch einmal: Wenn Constantin bei unserem Gespräch anwesend sein will, dann ist er anwesend. Hast du das jetzt verstanden.“

Meine Großmutter schwieg betreten.

Ich hielt es für besser, das Zimmer zu verlassen. Zwar interessierte es mich brennend, was meine Großmutter mit meinem Vater besprechen wollte, aber ich vermutete, dass sie in meiner Gegenwart nicht so offen sein würde. „Ich gehe in mein Zimmer“, bot ich an.

Mein Vater nickte nur.

Ich schloss die Tür hinter mir und blieb im Flur horchend davor stehen.

 

„So, dann lass mal hören, was du für wichtige Neuigkeiten hast“, begann mein Vater sarkastisch. „Ich kann es kaum erwarten. Aber komm bitte ohne lange Vorreden zum Punkt, denn Zeit ist Geld.“

„Konrad ...“, begann meine Großmutter zögerlich, „ich glaube, dass ... das alles in letzter Zeit einfach zu viel für Anni ... für Marianne war.“

„Was du nicht sagst. Und ich muss dich korrigieren: Es war zu viel für uns alle.“

„Natürlich, so habe ich das auch nicht gemeint. Was ich damit sagen will, ist, dass der ganze Stress und dann auch noch der Besuch des Mediums ...“

„Das war eine Betrügerin“, stellte mein Vater klar.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht“, lenkte meine Großmutter ein.

„Nicht nur wahrscheinlich. Ich habe Recht. Punkt.“

„Ja. Wie auch immer. Jedenfalls denke ich, dass der ganze Stress bei Marianne zu der Neigung geführt hat, ... sich Dinge einzubilden.“

„Was du nicht sagst.“

„Und ich denke, es wäre an der Zeit, ... etwas dagegen zu unternehmen. Etwas ... in medizinischer Hinsicht.“

„Annemarie, wie dir sicher nicht entgangen ist, steht deiner Tochter ein nicht unwesentlicher Bestand an diversen Beruhigungstabletten, die sie von unserem Hausarzt bezieht, zur Verfügung. Es ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie, wenn es nicht ganz nach ihren Vorstellungen verläuft, an ihre psychischen Grenzen gelangt. In medizinischer Hinsicht dürfte sie also mehr als ausreichend versorgt sein. Aber danke, dass du deshalb deinen Kopf angestrengt hast. Das war nicht nötig.“

„Warte noch, Konrad ... Das meine ich nicht. Ich spreche nicht von Beruhigungsmitteln.“

„Sondern?“

„Ich denke, es wäre an der Zeit, dass Marianne sich ... in psychiatrische Behandlung begibt.“

„Ich hoffe sehr für dich, dass du Marianne nicht so einen Floh ins Ohr gesetzt hast. Sonst verlässt du schon deshalb auf der Stelle mein Haus.“

„Nein, nein ... Aber ich denke, dass Mariannes ... Probleme einer besonderen Behandlung bedürfen.“

„Jetzt hör mir mal gut zu, Annemarie. Du hast anscheinend wieder nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe: Es ist nicht das erste Mal, dass Marianne psychisch nicht auf der Höhe ist. Eigentlich ist sie das nie. Sie weiß wie ich am besten, was dann, wenn es ganz schlimm wird, für sie zu tun ist: ein Beruhigungsmittel nehmen und viel schlafen. Nach ein paar Tagen sieht die Welt dann schon wieder ganz anders aus. Also hör auf so zu tun, als wüsstest du es besser.“

„Aber dieses Medium hat Marianne so verschreckt, dass sie sich nun fremde Männer auf dem Grundstück einbildet!“

„Noch einmal: Das war kein Medium, sondern eine Betrügerin. Und danke, dass du es mir gegenüber zugibst, dass die Eindringlinge auf unserem Grundstück nur in Mariannes Fantasie existieren. Das habe ich mir gleich gedacht. Dann kann ich mir zum Glück das Durchsehen der Videoaufnahmen sparen.“

„Aber so etwas muss man doch ernst nehmen!“, wandte meine Großmutter mit verzweifelter Stimme ein. „Wir können doch nicht dabei zusehen, wie Marianne vor Angst fast umkommt!“

„Keine Sorge, Marianne kommt nicht um. Nicht einmal fast. Das weiß ich aus Erfahrung. Sie hat nur einen Hang zum Drama.“

„Du willst ihren psychischen Zustand also nicht behandeln lassen.“

„Doch. Aber auf meine Weise.“

„Was soll das denn heißen?“

„Das hat dich nicht zu interessieren. Denn obwohl du dir offensichtlich etwas anderes einbildest, bist du hier lediglich zu Gast und durch mich nur geduldet. Ich werde mich um Mariannes Problem kümmern. Deine weitere Anwesenheit ist dafür nicht erforderlich. Ich würde daher vorschlagen, dass du deine Sachen packst und dich von deinem Erich abholen lässt.“

„Aber ...“

„Nichts aber. Du reist jetzt ab und kommst auch so schnell nicht wieder hierher, verstanden? Und da Marianne vermutlich schläft, solltest du sie nicht durch unnötige Abschiedsworte stören. Ich werde ihr schon mitteilen, dass du leider kurzfristig wieder nach Hause musstest. Glaube mir, sie wird den Verlust verkraften.“

„Was bist du nur für ein Mensch.“

„Und jetzt entschuldige mich. Ich muss mich noch mit einem komplexen Mandat beschäftigen. Hinaus findest du gleich ja sicher allein.“

Schnell zog ich mich in die Küche zurück. Frau Bäumler wartete darauf, den Tisch abräumen und Feierabend machen zu können. Normalerweise verließen sie oder Frau Hubertus das Haus, wenn das Abendessen zubereitet und der Tisch gedeckt war. Den Rest erledigte meine Mutter. Durch die frühe Rückkehr des Hausherrn sah sich Frau Bäumler offenbar veranlasst, länger als gewöhnlich zu bleiben. Vielleicht hatte sie mein Vater auch wegen irgendetwas kritisiert, und sie fürchtete nun um ihre Anstellung, an der sie sowieso nicht sonderlich hing. Bei meinem Erscheinen in der Küche sah sie mich verwundert an.

„Das Nudelgericht war heute sehr lecker, Frau Bäumler“, behauptete ich. „Das wollte ich Ihnen nur sagen.“ Ich hörte, wie die Esszimmertür geöffnet wurde, und die Schritte meines Vaters im Flur, der sich vermutlich in sein Arbeitszimmer begab, wo er den restlichen Abend verbringen würde.

„Danke ...“ Frau Bäumler war mit dem Lob sichtlich überfordert. „Das ist aber nett von dir, das zu sagen.“

„Gern geschehen“, beendete ich das Thema rasch, verließ die Küche und ging nach oben in mein Zimmer.

Meine Großmutter klopfte einige Minuten später an meine Tür, als ich gerade die Schubladen auf der Suche nach Murmeln durchwühlte, die ich Guido schenken könnte. Sicher würde das Angelina sehr gut gefallen.

„Was machst du denn da?“, wollte meine Großmutter in argwöhnischem Tonfall wissen.

„Ich räume auf.“

„Ach so.“ Sie klang erleichtert. Dann teilte sie mir mit trauriger Stimme mit, dass sie leider schon wieder nach Hause fahren müsse, da es Erich nicht gut gehe.

„Was hat er denn?“, stellte ich mich dumm.

„Ach, ich glaube, er vermisst mich einfach nur sehr“, lautete die nicht gerade überzeugende Ausrede meiner Großmutter.

„Na, dann ...“

Meine Großmutter drückte mich an sich. „Es hat mich jedenfalls sehr gefreut, hier sein zu dürfen. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.“

„Ja, hoffentlich.“

Sie strich mir über mein Haar. „Pass gut auf deine Mutter auf. Versprichst du mir das?“

Ich fand, dass das etwas viel von einem noch nicht einmal zehn Jahre alten Kind verlangt war, und nickte nur. „Sagst du Mama noch tschüss?“

„Nein, ich will sie nicht stören.“

Ich tat so, als bemerkte ich die Tränen, die meiner Großmutter bei diesen Worten in die Augen stiegen, nicht. „Okay.“

Sie nickte nur und schloss die Tür hinter sich.

Ich blieb zurück und fragte mich, wie mein Vater den Zustand meiner Mutter behandeln wollte. Denn so etwas in der Art hatte er doch gesagt. Dabei war mein Vater ja gar kein Arzt, aber auf jeden Fall sehr schlau. Ihm würde sicher etwas einfallen, wie es meiner Mutter schnell wieder besser ging. Die Vorstellung, sie könnte sich den Mann in unserem Garten nur eingebildet haben, war für mich, ähnlich wie die Vorstellung, dass Guido bei sich zu Hause den gesamten Haushalt erledigen musste, äußert unangenehm, und ich versuchte, sie für den Rest des Tages so gut es ging zur Seite zu schieben. Mein Vater würde schon eine Lösung finden, sagte ich mir immer wieder an diesem Abend. Schließlich war er ein sehr kluger Mann, viel klüger als meine Mutter und ich.

Tatsächlich fiel meinem Vater etwas ein, und zwar schon am darauffolgenden Tag. Ich verbrachte den Vormittag in der Schule, nachdem ich mein Frühstück wieder einmal allein mit meinem Vater eingenommen hatte. Als ich zum Mittagessen nach Hause kam, war mein Vater seltsamerweise immer noch da und nahm mich im Flur in Empfang.

„Wieso bist du denn nicht bei der Arbeit?“, fragte ich alarmiert. „Ist was mit Mama?“

„Nein, nein, alles in Ordnung.“ Mein Vater lächelte bei diesen Worten sogar leicht. „Ich bin heute zu Hause geblieben, um mich ein wenig um sie zu kümmern. Das können wir nicht alles Frau Hubertus und Frau Bäumler zumuten. Und es geht deiner Mutter auch schon viel besser. Sie kommt gleich nach unten, um mit uns zu essen.“

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