Rabenschreie

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einer der anderen führen könnte. Also hob sie den schlaffen

Körper des Mannes wieder hoch und warf ihn über ihre

Schulter. Sie sah sich noch schnell nach links und rechts um,

ob sie auch keiner beobachtete und huschte dann in

Richtung Harrow on the Hill davon. Als sie oben an der

Schule ankam – ein sehr teures privates College übrigens,

das sehr beliebt war und schon als Drehorte für einige Filme,

wie auch Harry Potter diente – beschloss sie, die Leiche

einfach dort im Hof zu vergraben. Jetzt wäre Shanias Magie

wirklich praktisch gewesen, aber auch sie war nicht ganz

machtlos. Hinter dem Gebäude fand sie sogar einige

Gartengeräte, unter anderem eine Schaufel. Überall war nur

Kies, aber das machte nichts. Den konnte sie danach wieder

so verteilen, dann würde das gar nicht auffallen und niemand

würde auf die Idee kommen, dass darunter eine Leiche

begraben war. Sie grub und grub und das so schnell, wie es

nicht einmal ein Maulwurf hinbekommen hätte.

Schnelligkeit war eben auch eine Fähigkeit von Vampiren.

Als das Loch groß genug war, warf sie den blutleeren

Taschendieb hinein und schaufelte die Grube anschließend

wieder zu. Dann verteilte sie die Steine wieder gleichmäßig

und sah zu, dass alles ebenerdig aussah und es nicht

auffallen würde. Sie stellte die Schaufel wieder zurück und

rieb sich die Hände. Shania wäre stolz auf sie. Sie hatte nach

ihrer Tat aufgeräumt und dafür gesorgt, dass niemand hinter

das Geheimnis kommen würde. Stolz auf sich selbst und

vollkommen satt und gestärkt machte sie sich schließlich

auf den Weg an den Stadtrand von Harrow, wo Saya in

einem abgelegenen Haus wohnte.

*

Fünfzehn Minuten später erreichte sie auch schon die

entlegene Hütte ihrer Artgenossin. Hoffentlich war sie auch

zu Hause, dachte sich Aniola, schließlich hatten sie sich

nicht verabredet. Wie auch sie, ging Saya selbstverständlich

auch auf die Jagd, außerdem besuchte sie momentan öfters

Raven, der seit Shanias Verschwinden am Boden zerstört

war und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte,

geschweige denn sich um Angelegenheiten wie etwas

einkaufen, essen und Haushalt zu kümmern. Sicherlich war

Kris auch noch da, aber da er die meiste Zeit bei Saya

verbrachte, war es natürlich von Vorteil, wenn sie zu den

beiden nach Hause ging, denn so waren sowohl sie, als auch

Kris für den verzweifelten Rabenmann da und außerdem

konnte Saya sich um den Haushalt kümmern. Sie wollte

zwar nicht unbedingt in das Schema Hausfrau gesteckt

werden, aber in dem Fall war es dringend notwendig. Aniola

wusste das, denn auch sie hatte Raven seitdem schon

besucht und gesehen, wie er zu verwahrlosen drohte. Er

hätte auch schon längst als neues Oberhaupt „gekrönt“

werden sollen, aber in seinem momentanen Zustand war er

nicht in der Lage, seinen Clan anzuführen. Somit waren die

Raben noch immer ohne Anführer und man konnte nur

hoffen, dass kein anderer Clan eine Fehde anfangen würde,

denn dann hätten sie ein Problem. Zum einen keinen starken

Anführer, der sie beschützte und zum anderen keine Hexe,

die den Streit schlichten könnte. Eine absolute Pattsituation.

Aniola seufzte laut und eine junge Frau, die gerade den

einsamen Waldweg entlang ging, offenbar auf den Weg zu

einer Party, so wie sie gekleidet war – kurzer Rock, hohe

Schuhe, viel Bling-Bling -, sah sie skeptisch und auch ein

wenig herablassend an. Die Vampirlady verdrehte ihre

Augen. Die jungen Frauen heutzutage, dachte sie, alles

eingebildete Tussen! Sie hätte sie locker überrumpeln und

aussaugen können, wenn sie gewollt hätte. So schnell hätte

sie überhaupt nicht geschaut. Sie atmete tief durch, um sich

nicht weiter darüber aufzuregen. Das war es doch überhaupt

nicht wert. Außerdem sollte sie doch besser auf sich

schauen, denn in dem Aufzug solche abgelegenen Wege

entlangzugehen, ganz alleine, das war auch nicht gerade

ungefährlich. Gerade wenn Vampire und die anderen Wesen

unterwegs waren. Von deren Existenz wusste sie natürlich

nichts, aber selbst normale Menschen könnten ihr auflauern

und sie überfallen, oder schlimmeres. Schnell verdrängte sie

das wieder und versuchte sich zu erinnern, wo sie gerade mit

ihren Gedanken gewesen war. Ach genau, Raven und die

Tatsache, dass er noch nicht zum Oberhaupt ernannt wurde.

Ja, eine wirklich schlimme Sache. Sie mussten Shania

schnellstmöglich finden, damit alles endlich mal geregelt

werden konnte. Nicht, dass sie am Ende doch wieder Kris

zum Anführer erklären würden. Zwar würde das diesmal

nicht wieder die Beziehung zu Saya gefährden, da der Rat

die Gesetze diesbezüglich geändert hatte, aber trotz allem

war es nicht die Position, die er haben wollte, das hatte ihre

Freundin ihr schon des Öfteren erzählt. Kris wollte nie das

Oberhaupt sein und das obwohl es sein rechtmäßiger Platz

war, als ältester Sohn. Dennoch war von Anfang an klar,

dass Raven derjenige sein würde, denn jeder vom Clan, auch

der Rat, wusste, das er dazu auserkoren war und die ideale

Besetzung für diese verantwortungsvolle Aufgabe. Obwohl

Kris der ältere der beiden Brüder war, kam Raven meistens

erwachsener und vernünftiger rüber, selbst im Moment, wo

er nicht ganz er selbst war. Denn dieser Tiefpunkt war nur

allzu gut nachvollziehbar. Doch nun hatte sie lange genug

in ihren Gedanken geschwelgt. Langsam wurde es doch

etwas kühl hier außen. Es war zwar eine angenehme

Frühlingsnacht und Vampire waren Kälte gegenüber auch

nicht zu empfindlich, aber längere Zeit ruhig an einem Fleck

stehen, wenn es nicht gerade richtig warm war, war dann

doch nicht so ganz ohne. Also schob sie all ihre Gedanken

beiseite, hoffte, dass Saya zuhause war und klopfte an.

Dreimal hämmerte sie lautstark gegen die dunkle Holztür,

damit sie sie auch nicht überhören konnte. Tatsächlich nahm

sie kurze Zeit später Schritte war und mit einem knarzen

ging die Tür auf, vor der Aniola stand. Zu ihrer

Überraschung sah sie aber nicht in das Gesicht ihrer

Vampirfreundin. Stattdessen schaute sie die Person, die ihr

öffnete, verdutzt an.

3

»Was machst du denn hier? Die Verwirrung war ihr deutlich

anzusehen. Die junge Frau, die ungefähr ein Meter sechzig

groß war, braune asiatische Augen hatte und dunkles Haar,

das ihr lässig und glänzend über die Schulter hing, sah sie

freudestrahlend an. Offenbar hatte sie sie bereits erwartet.

»Saya wusste, dass du vorbekommen würdest. Komm doch

erstmal rein.« Sie trat zur Seite. Aniola, noch immer leicht

irritiert, trat ein, umarmte ihre Freundin kurz und schritt

dann schnurstracks auf das Wohnzimmer zu. Auf dem

halben Weg blieb sie allerdings stehen. »Du hast aber meine

Frage noch immer nicht beantwortet, Todesengel.« Den

Spitznamen Todesengel hatte Aniola ihrer halbjapanischen

Freundin vor einigen Wochen gegeben, als diese ihr erzählt

hatte, dass die Silbe Shi im Japanischen ebenfalls Tod

bedeuten konnte. Es kann zwar ebenfalls vier bedeuten und

es gibt noch so einige Übersetzungen, das kommt immer auf

die Zeichen und den Zusammenhang an, aber Tod ist eben

auch eine Bedeutung davon. Aniola fand das gleich so

interessant, dass sie ihr zum Spaß diesen Spitznamen

verpasst hatte. Shina nahm das Ganze mit Humor und so

lächelte sie auch diesmal über den Kommentar. Sie zog

allerdings eine Augenbraue nach oben wegen der Frage, die

sie ihr stellte. »Was meinst du? Was habe ich noch nicht

beantwortet?« Aniola stemmte ihre Hände in die Hüften und

stieß ein wenig Luft aus ihrer Nase aus. »Na, was du hier

machst?« Nun lachte die kleine Halbjapanerin. »Darf ich

jetzt nicht einmal mehr eine Freundin besuchen?« Sie kam

nun einige Schritte auf die Vampirin zu und hatte dabei die

Eleganz einer Raubkatze. Ganz der Werleopard, der sie war.

Den Kopf hatte sie leicht in ihren Nacken gelegt und sah

Aniola mit durchdringendem Blick an. Ein Lächeln lag auf

ihren Lippen und sie schien leicht amüsiert. Auch Aniola

konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Du hast ja Recht.

Eine blöde Frage. Entschuldige!« Shina tat das allerdings

mit einer lässigen Handbewegung ab, die so viel bedeutete,

wie ‚Vergiss es!‘, drehte sich wieder um und machte sich

wieder auf den Weg zum Wohnzimmer, wo sie Saya

vermutete. Und tatsächlich, da saß sie, ihre Schwester der

Nacht und starrte auf das Display ihres Handys. Als sie die

Schritte hörte, die sich ihr näherten, hob sie sofort den Kopf

und strahlte Aniola liebevoll an. Die zweihunderfünfzig-

 

jährige Vampirlady kam auf ihre Freundin zu, die bequem

im Sessel sitzen blieb und umarmte sie. Auch wenn sie um

einige Jahre jünger war – Saya wurde erst vor knapp sechs

Jahren verwandelt und war damals Mitte zwanzig, somit

jetzt also kaum älter wie dreißig – waren die beiden auf

einer Wellenlänge und verstanden sich super. Aniola war

froh noch einen anderen Vampir im Freundeskreis zu haben,

obwohl sie natürlich alle sehr ins Herz geschlossen hatte.

Ansonsten wäre Shanias Verschwinden für sie sicherlich

nicht so schwer, wie es ist. Sie vermisste die Hexe und ihre

guten Ratschläge. »Moin! Na, wie sieht’s aus? Hast du einen

Plan.« Aniola kam gleich zur Sache, ohne lange herum zu

quatschen. Sie hatten ein Ziel und das galt es jetzt zu

verfolgen. Doch Saya schüttelte nur betrübt den Kopf.

»Leider nein, Ani. Ich weiß einfach nicht, wo wir zu suchen

anfangen sollen. Leider haben wir trotz unseres

Vampirdaseins leider nicht die Fähigkeit, uns in

Fledermäuse zu verwandeln, so wie in manchen Filmen, und

die Gegend abzusuchen. Wir sind zwar sehr schnell, aber

was bringt es uns in dieser Situation?« Ratlos schüttelte sie

den Kopf. Die engelsgleiche Frau musste ihrer Freundin

Recht geben. Sie hatten keinerlei Anhaltspunkt. »Wir wissen

leider gar nichts. Weder was dahinter stecken könnte, noch

wer-« Saya sprang urplötzlich auf und unterbrach so den

Redefluss ihrer Freundin. »HALT! Das ist es! DAS IST

ES!« Irritiert musterte Aniola sie. »Was ist was? Wovon zur

Hölle redest du?« Saya fasste sich an die Stirn. »Da hätte ich

sofort dran denken sollen. Warum bin ich nicht gleich darauf

gekommen?« Noch immer sah ihre Freundin sie fragend an,

die Fragezeichen standen ihr förmlich ins Gesicht

geschrieben und ihre Augenbrauen waren nach oben

gezogen. Als Saya dies bemerkte, begann sie endlich alles

zu erklären. »Also, pass auf! Du erinnerst dich an die drei

Vampire, die wir gejagt haben und die sich an den Kindern

vergriffen hatten?« Kopfnicken. »Ok, also, der letzte der

drei, derjenige, der am schwierigsten zum Ausschalten war,

mit dem habe ich am Schluss noch ein paar Worte

gewechselt und er meinte, es stecke noch jemand anderes

dahinter. Etwas Größeres.« Aniola begriff langsam. »Du

meinst also, dass jemand Shania entführt hat, damit sie nicht

hinter das Geheimnis kommt?« Diesmal war Saya es, die

zustimmend nickte. Nachdenklich seufzte die kleine

dunkelhaarige Vampirfrau. »Das wäre schon denkbar, aber

inwiefern hilft uns das bei der Suche jetzt weiter?« Die

rothaarige Vampirin grinste, als hätte sie nur auf diese Frage

gewartet. »Ich habe den Namen des Vampirs am Schluss

herausbekommen. Es stand auf seinem Anhänger. Sein

Name war Sven. Ich vermute er kam ursprünglich aus

Skandinavien oder Deutschland. Ich denke, dass dort eine

Verbindung sein könnte. Immerhin hatte er abgeblockt, als

ich ihn auf seinen Namen angesprochen habe.« Aniola

kratzte sich am Kinn, wobei ihr Strähnen ihres

dunkelbraunen fast schwarzen Haars ins Gesicht fiel. »Eine

durchaus einleuchtende These. Außerdem ist es unser

einziger Anhaltspunkt und wir wüssten sonst nicht, wo wir

zu suchen anfangen sollten. Das heißt, wir suchen die

skandinavischen Inseln und Deutschland ab? Und wenn sie

da nicht ist? Beziehungsweise, wenn wir sie da trotz allem

nicht finden können?« Saya zuckte mit den Achseln. »Dann

weiß ich auch nicht weiter. Wir können ja nicht jeden Fleck

auf der Erde absuchen.«

»Stimmt. Aber es bleibt auch noch die Frage, wie wir da so

schnell hinreisen wollen und wir müssen ja auch Stadt für

Stadt absuchen. Wie sollen wir das anstellen? Vor allem da

es für uns auch nur nachts möglich ist.« Wieder erhielt

Aniola nur ein Achselzucken als Antwort. Doch in diesem

Moment klingelte es erneut an der Tür.

Diesmal war es Saya, die aufstand und zur Tür eilte. Shina

blieb am Türrahmen stehen und lehnte sich dagegen, ihr

Blick auf ihre Vampirfreundin gerichtet.

»Erwartet Saya noch jemanden?« Aniolas Frage galt der

Leopardenfrau, doch diese schüttelte ahnungslos den Kopf.

»Nein. Nicht, dass ich wüsste.« Achselzuckend schlich die

untote Frau aus dem Wohnzimmer heraus in Richtung

Haustür, um herauszufinden, wer der unerwartete Besucher

war. Genau in diesem Moment kam Saya zurück und hinter

ihr-

»Aleksiel!« Aniola war überrascht ihn zu sehen. Sie wusste

zwar, dass Saya und er befreundet waren, hätte aber

trotzdem nicht mit seinem Auftauchen gerechnet und schon

gar nicht auf diese Art und Weise. »Du klingelst? Kannst du

nicht einfach hineinteleportieren, oder wie auch immer du

das machst.« Bei diesem Kommentar fing der gefallene

Engel lauthals an zu lachen.

»Aniola, so amüsant wie eh und je.«

Zornesröte stieg der Vampirfrau ins Gesicht. Wie konnte

dieser Verstoßene es wagen, sie so zu demütigen. Er dachte

wohl, weil er einst ein Engel gewesen war, machte ihn das

zu einem besseren Menschen, oder in seinem Fall, zu einem

besseren Vampir, aber das war er nicht. Er war nicht besser,

wie jeder andere. Eher noch schlimmer. Aniola ballte ihre

Hände zu Fäusten und die Nägel bohrten sich schon in ihr

Fleisch. Der Schmerz ließ sie wieder einigermaßen klar im

Kopf werden.

»Nun, Aleksiel, dann erklär mir doch, wie du das machst.

Schließlich tauchst du doch oft einfach wie aus dem Nichts

auf.«

Die Miene des Ex-Engels wurde ernster und das Lächeln

erlosch.

»Es ist nicht ganz so einfach. Engel sind dazu bestimmt,

über bestimmte Gegenden zu wachen und damit man schnell

an einem Ort sein kann, wenn es von Nöten ist, können wir,

wie du es nennst, teleportieren. Ich würde es eher

„wunschmaterialisieren“ nennen, denn genauso funktioniert

es eigentlich. Wir denken an den Ort, an dem wir am

meisten auf der Welt sein wollen, wir wünschen uns dort zu

sein und dann lösen wir uns in unsere einzelne Atome und

Moleküle auf und diese setzen sich an dem Wunschort

wieder zusammen. Das funktioniert auch nur deswegen, weil

Engel eigentlich keine feste Gestalt haben. Wenn man fällt,

so wie ich, ist das etwas anders. Denn als gefallener Engel

wird man sterblich und man hat einen festen Körper.

Dennoch bleiben uns die Fähigkeiten, die wir als Engel

hatten, weiterhin erhalten. Allerdings ist es um einiges

schwieriger sich zu materialisieren, oder zu

dematerialisieren. Ich habe einige Zeit gebraucht, um in

dieser Gestalt das Wunschmaterialisieren zu erlernen, doch

nun ist es, als wäre es vollkommen normal.«

Aniola nickte und sah den dunklen Engel mit einem Blick

der Bewunderung an. Auch Shina und Saya schauten ihn

ehrfürchtig an. Sie schienen sich über das Thema zuvor

keinerlei Gedanken gemacht zu haben, aber Aniola hatte es

schon immer brennend interessiert, wie es den Engeln

möglich war, plötzlich zu verschwinden oder aufzutauchen.

Nun, hatte sie ihre Antwort. Auf einmal schoss ein Gedanke

durch ihren Kopf. Wie ein Blitzschlag traf sie die

Erkenntnis. Das war die Lösung, dachte sie sich tief in ihrem

Inneren und sie musste Aleksiel diese eine Frage stellen.

»Wenn du in dieser Gestalt, in diesem realen Körper,

materialisieren kannst, könnte das dann auch jemand

anderes? Oder sagen wir mal so, könntest du beim

Wunschmaterialisieren jemanden mitnehmen?«

Die Frage traf den Vampirengel scheinbar vollkommen

unvorbereitet und so sah er Aniola nur mit weit

aufgerissenen Augen und Mund an. Regungslos stand er da

und starrte die Vampirdamen, völlig überrascht über ihre

Frage. Seine Stirn legte sich in Falten und er rieb sich das

Kinn. Er machte den Eindruck, als würde er über diese Frage

ernsthaft nachdenken.

»Hm. Also, ehrlich gesagt, habe ich mir darüber noch

überhaupt keine Gedanken gemacht. Materialisieren können

nur Engel, so viel weiß ich, aber ob man jemanden

mitnehmen kann – ich weiß es wirklich nicht. Ich hatte

eigentlich gelernt, dass es nicht möglich ist, da es ja nur

geht, wenn man keinen festen Körper hat. Da ich jetzt aber

einen Körper habe und weiterhin materialisieren kann,

ändert das natürlich alles. Ich kann mir durchaus vorstellen,

dass es möglich ist.« Aniola runzelte die Stirn ein wenig und

hatte den Eindruck, dass er vielmehr laut dachte, als wirklich

auf ihre Frage zu antworten. Zumal er sie dabei nicht einmal

beachtete. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, ergriff Saya

das Wort.

»Wir könnten es doch einfach mal testen.« Der dunkle,

flügellose Engel hob seinen Kopf und betrachtete die Frau,

die ihm eine gute Freundin geworden war, ganz gespannt. Er

erwiderte nichts, sondern schien zu warten, dass Saya erneut

zu sprechen begann, was diese auch nur wenige Sekunden

später tat.

»Worauf warten wir denn noch?« Die junge Vampirin

schnappte sich seine rechte Hand und sah den Vampirengel

erwartungsvoll an. Auch Aniola betrachtete Aleksiel

gespannt. Würde es wirklich funktionieren? War eine

gemeinsame Materialisierung möglich? Konnte ein Engel,

oder auch ein gefallener Engel, so wie Aleksiel, jemanden

bei einer Wunschmaterialisierung mitnehmen? Und dann

war es soweit. Ein helles Licht umgab Aleksiel und –

Aniolas Augen weiteten sich vor Staunen – es breitete sich

auch um Saya aus und beide Gestalten wurden blasser, bis

sie ganz plötzlich verschwunden waren. Es war, als wären

sie nie dort gestanden. Aniola starrte weiterhin auf die

Stelle, wo ihre Freundin und Aleksiel eben noch gestanden

hatten und wo jetzt nichts weiter als ein leerer Fleck übrig

geblieben war. Leere und Stille erfüllte nun diesen Raum,

doch dann spürte die Vampirfrau etwas. Es war ein warmer

Schleier, direkt hinter ihr. Sie drehte sich ruckartig herum

und da war es wieder, das Licht, das die beiden kurz vor der

Dematerialisierung umgeben hatte. Das Licht strahlte heller

als zuvor und es ging eine angenehme Wärme davon aus.

Aniola sah genauer hin und konnte Umrisse wahrnehmen.

Umrisse, die immer klarer wurden und im nächsten

Augenblick standen dort wieder der Engel und die

Vampirin, als wäre nichts gewesen.

4

»Es funktioniert!« Aniola grinste die beiden Vampire vor

sich beeindruckt an. Saya erwiderte ihren Blick, jedoch

machte sie einen verblüfften Eindruck. Sie wollte einen

Schritt vorwärts gehen, doch musste sich sofort an Aleksiel

festhalten, der sie auch gleich stützte, als er bemerkte, wie

wackelig sie auf den Beinen war. Aniola ging auf sie zu. »Ist

alles ok mit dir?« Die junge Vampirin nickte zaghaft, doch

ihr Gesicht war bleich. Vampire hatten von Haus aus einen

blasseren Hautton, da sie kein Sonnenlicht abbekamen, doch

Saya war weiß wie Schnee. Aniola ging an ihre linke Seite,

packte ihren Arm und warf ihn sich über die Schulter.

Aleksiel tat das Gleiche mit Sayas rechten Arm und während

sie die Vampirfrau stützten, gingen sie auf das Sofa zu, wo

sie sie vorsichtig hinlegten. Aniola schnappte sich ein

Kissen, das am Rand des Sofas lag und legte es unter Sayas

Beine. Sie hatte in ihrem Menschenleben zwar niemals einen

 

Erste-Hilfe-Kurs besucht, weil es das vor über zweihundert

Jahren noch nicht gegeben hatte, aber sie hatte dennoch

mitbekommen, dass man bei Kreislaufproblemen – was hier

der Fall zu sein schien – die Beine nach oben legen sollte.

Prompt bekam die junge Blutsaugerin auch schon ein wenig

Farbe ins Gesicht. Schnurstracks huschte Aniola zum

Kühlschrank und schnappte sich eine Konserve A Positiv,

die sie sofort aufriss und in ein Glas goss. Mitsamt dem Glas

eilte sie zurück ins Wohnzimmer, wo Aleksiel besorgt neben

seiner guten Freundin saß und ihr durchs Haar fuhr. Wenn

sie es nicht besser gewusst hätte, wäre sie davon

ausgegangen, dass zwischen den beiden etwas lief. War

Aleksiel eventuell schwul? Schließlich heißt es ja immer,

dass schwule Männer die besten Freunde von Frauen wären.

Sie hatte leider noch keinen getroffen. Ein schwuler bester

Freund, mit dem sie shoppen gehen könnte und eventuell

noch auf Jagd, wenn er auch ein Vampir war, das wäre

großartig, dachte sie. Bei Aleksiel fände sie es aber schade,

denn der Exengel sah wirklich zum Anbeißen gut aus. Er

jedoch schien keinerlei Interesse an ihr zu haben, was

bedeutete, dass er entweder vergeben war, doch etwas für

Saya empfand oder tatsächlich vom anderen Ufer war. Keine

der drei Möglichkeiten gefiel ihr so richtig, aber das dritte

wäre ihr noch am liebsten, da es dann zumindest nicht

bedeutete, dass sie unattraktiv wäre. Das war sie auch nicht.

Aniola war eine zweihunderfünfzig-jährige Vampirin, die

wie Mitte zwanzig aussah, dunkles seidig glänzendes Haar

hatte, das gerade bis kurz über die Schulter reichte und sich

glatt an sie schmiegte. Ihre Augen waren eine Mischung aus

braun, grau und grün, die je nach Sonneneinstrahlung eine

andere Dominanz hatten. Ihr Hautton war trotz

Vampirdasein nicht so blass, wie der von Saya und manch

anderen Vampiren. Sie hatte einen leicht goldenen Farbton.

Ihre polnische Abstammung verlieh ihr noch eine besondere

Note.

»Hier, trink das!« Sie hielt Saya das Glas mit dem Blut hin

und diese leerte es in einem Zug. Aniola stellte es auf den

Couchtisch, neben dem sie stand und betrachtete ihre

Freundin mit Sorge. »Dir scheint das Materialisieren nicht

sonderlich gut bekommen zu sein.« Saya schüttelte den

Kopf und setzte sich auf. Aleksiel versuchte sie wieder aufs

Sofa zu drücken, doch vergeblich. Das Blut hatte seine

Wirkung entfaltet und die Vampirin war wieder bei Kräften.

»Ja, komisch. Ich habe eigentlich überhaupt nicht

mitbekommen, dass wir weg waren. Ich bemerkte nur, dass

ich an einer anderen Stelle im Raum stand und dann wurde

mir auf einen Schlag ganz flau im Magen. Vielleicht lag es

aber auch daran, dass ich mich heute noch nicht genährt

hatte.«

»Was? Das ist deine erste Mahlzeit heute?« Aniola starrte

sie entsetzt an und deutete mit ihrem rechten Zeigefinger auf

das leere Glas, auf dem rote Rückstände von Blut zu

erkennen waren.

Diesmal nickte die junge Vampirin und Aniola verzog ihr

Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Das würde

so einiges erklären.

»Dann wundert mich das natürlich nicht.« Aleksiel hatte das

Wort ergriffen. »Materialisieren benötigt sehr viel Energie

und wenn du noch kein Blut zu dir genommen hattest, bist

du zu schwach dafür. Jetzt weiß ich auch, warum wir sofort

wieder aufgetaucht sind. Eigentlich hatte ich vor uns weiter

materialisieren zu lassen, aber dafür hatte deine Energie

offenbar nicht gereicht.«

Aniola sah ihn mit einem erkenntnisvollen Blick an.

»Verstehe. Das bedeutet, dass du zwar lenkst, wenn du beim

Wunschmaterialisieren jemanden mitnimmst, aber die Kraft

beider Personen benötigt wird und nicht nur deine eigene.«

Ein stummes Kopfnicken bestätigte ihre Vermutung.

»Offenbar ist es so. Ich konnte es vorher auch nicht wissen,

da es das noch nie gab. Noch nie, wurde jemand dabei

mitgenommen. Engel reisten grundsätzlich alleine und

mussten auch nicht mitgenommen werden. Es war auch gar

nicht sicher, dass es überhaupt funktioniert.« Aniola sah

nachdenklich zu Boden und rieb sich das Kinn. Nach einigen

Sekunden blickte sie wieder auf und sah von Saya zu

Aleksiel hin und her. »Wenn man aber genügend Nahrung

zu sich nimmt und bei Kräften ist, sollte das Ganze aber

doch kein Problem darstellen, oder?« Aleksiel zuckte

unentschlossen mit den Achseln. »Ich kann es nicht

hundertprozentig sagen, aber ich denke die

Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es da keinerlei Probleme

geben würde.«

»Gut.« Aniola schien sichtlich erleichtert. Sie spürte den

fragenden Seitenblick von Saya, die offenbar keine Ahnung

hatte, was ihre Vampirfreundin damit bezweckte. Da sie nun

alle nötigen Informationen hatte und die beiden nicht länger

auf die Folter spannen wollte, beschloss sie, mit der Sprache

herauszurücken.

»Dann können wir uns ja auf die Suche nach Shania

begeben.« Sowohl Aleksiel, als auch Saya rissen ihre Köpfe

herum und starrten Aniola mit aufgerissenen Augen an.

»Was?!« Dieser verblüffte Aufschrei kam unisono aus ihrer

beiden Münder.

Fassungslos starrten die beiden sie an, ihre Münder vor

Entsetzen aufgerissen und Ratlosigkeit stand auf ihren

Gesichtern.

»Wie meinst du das, wir können jetzt nach Shania suchen?

Wo willst du sie denn suchen? Und was hat das Ganze denn

jetzt damit-« Saya brach ab. Sie ahnte offenbar, worauf ihre

Freundin hinauswollte. Ihr Blick war jedoch missbilligend.

»Das ist nicht dein Ernst, Aniola?!« Sie schrie die ältere

Vampirin förmlich an. Aleksiel stand nur ratlos daneben und

hatte keinen blassen Schimmer, was vor sich ging. »Wovon

zum Teufel sprecht ihr zwei denn da bitte?« Ungeduldig trat

er von einem Fuß auf den anderen und sah die beiden Frauen

eindringlich an. Aniola erwiderte seinen Blick und

bemerkte, wie seine dunklen braunen Augen vor Neugier

funkelten. Ihr fiel ein leicht bläulicher Schimmer auf, der ab

und an, je nach Lichteinfall, in seinen Augen aufblitzte. Sie

schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder

voll und ganz auf das aktuelle Thema. Saya hatte ihrem

Kumpel nur einen kurzen Blick zugeworfen und sich sofort

wieder Aniola zugewandt. Sie hatte ihre Hände in die Hüften

gestemmt und baute sich nun vor ihrer Freundin auf. »Du

hast doch gerade eben gesehen, was es mit mir gemacht hat,

oder etwa nicht?!« Aniola nickte, zuckte aber gleichzeitig

mit den Achseln, was allerdings nicht bedeuten sollte, dass

ihr die Angelegenheit gleichgültig war. »Saya, ich verstehe

deine Bedenken. Natürlich habe ich gesehen, wie fertig du

warst. Deswegen habe ich doch nochmal nachgefragt und es

lag doch offenbar nur daran, dass du dich nicht ausreichend

genährt hattest.« Die junge Vampirin schien das kein

bisschen zu besänftigen. »Mag sein, trotzdem ist es

gefährlich!« Aniola sah ihrer Freundin tief in die Augen und

legte ihr eine Hand auf die Schulter. Saya entspannte sich

bei dieser Geste ein klein wenig. »Ich weiß.« Ganz ruhig

kamen diese Worte aus ihrem Mund. Kein Schreien, keine

Zickereien. Einfach nur ein Eingeständnis. Ruhig und

gelassen. »Aber ganz ehrlich, Say. Ist Shania dieses Risiko

nicht wert.« Wieder riss die Blutsaugerin in den Zwanzigern

ihre Augen auf und sah ihre Freundin entsetzt an. Sie machte

ein nachdenkliches Gesicht, rieb sich das Kinn und senkte

ihren Blick dann ein wenig beschämt. Ihre Schultern hingen

schlapp herunter und sie sagte keinen Ton mehr. Aniola

bemerkte das Glänzen auf ihren Wangen und beim

genaueren Hinsehen konnte sie kleine Tränen erkennen, die

aus ihren bereits feuchten Augen quollen und ihr Gesicht

hinabliefen, bis sie schließlich lautlos auf den Boden

tropften. Nun legte Aniola auch ihre andere Hand auf Sayas

Schulter und drückte sie fest an sich. Tröstend nahm sie ihre

Freundin in die Arme. Sie wusste, dass ihr Shanias

Verschwinden schwer fiel und sie damit zu konfrontieren

war nicht gerade das Einfühlsamste, was sie hätte machen

können. »Aniola, es gibt da etwas, das ich dir erzählen muss.

Etwas, das ich bis jetzt keinem gesagt habe, das jedoch von

Bedeutung sein könnte.« Saya schniefte und sah ihre

Artgenossin ein wenig schuldbewusst an. Aniola nickte und

sah ihre Freundin gespannt und erwartungsvoll an. Auch

Aleksiel schien neugierig zu werden, kam einige Schritte

näher und beobachtete aufmerksam das Geschehen. Saya

schickte ihn nicht hinaus, was offenbar bedeutete, dass auch

er ihr Geheimnis erfahren durfte.

»Ein halbes Jahr habe ich es geheim gehalten. Nur Raven

habe ich davon erzählt. Frage mich bitte nicht, wieso ich das

getan habe. Shanias Verschwinden schockte mich so sehr,

dass ich alles andere vergaß und sicherlich zog ich es in

Erwägung, da ich mir sicher bin, dass alles zusammenhängt,

aber dennoch ist da diese Angst. Die Angst davor, wohin

alles führt. Was dahinter steckt. Aniola, es ist wirklich

gefährlich, glaub mir!« Saya schluchzte und überschlug sich

beim Reden. Aniola hatte nicht verstanden, was ihre

Vampirfreundin ihr mitteilen wollte. Die junge Frau schien

sehr aufgeregt, ihr Herz raste, das konnte Aniola deutlich