Die zweite Reise

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„Ein ziemlich großes Loch“, antwortete Janok lapidar.

Das Loch in der Rückwand der Zelle gehörte zu einem kreisrunden Gang mit einem Durchmesser von drei Metern, welcher schräg nach unten verlief. Man konnte das Ende nicht sehen und es wäre auch keine gute Idee gewesen, sich gleich auf die Suche danach zu machen: Die Wände und der Boden des Ganges glühten hell und flüssiges Gestein tropfte herab. Jeder, der es wagen würde, dort hineinzugehen, hätte von Glück reden können, wenn er es als lebendige Fackel wieder zurück zum Anfang des Tunnels geschafft hätte, bevor sein Körper restlos verkohlt wäre. Und dies wäre mit fehlenden Füßen gar nicht so einfach gewesen.

Jedoch schien Erwin dieses Kunststück vollbracht zu haben, denn seine Zelle war leer.

„Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun“, gab Schimascha zu.

„Jetzt erst?“, fragte Janok erstaunt und sah in die Zelle hinein.

„Wir müssen hinterher und ihn suchen“, platzte April auf einmal heraus.

„Vergiss es!“, ermahnte Janok sie barsch und hielt sie mit seiner Hand zurück. „Wenn du da jetzt hineingehst, verlierst du deine Füße und womöglich noch mehr. Wir müssen warten, bis das Gestein sich abgekühlt hat“, meinte er eindringlich.

„Bis dahin sind Erwins Entführer schon über alle Berge“, erwiderte April.

Der Ork sah sie erstaunt an: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass Erwin unfreiwillig abgehauen ist. Der Gang wurde eindeutig von hier aus geschaffen und nicht von außen, sonst würde auch in der Zelle glühendes Gestein liegen. Erwin ist aus unbekannten Gründen geflohen.“

„Warum sollte er?“, hakte April bissig nach.

„Erwin hat in letzter Zeit schon ein paar Dinge getan, die nicht nachvollziehbar sind. Zum Beispiel unschuldigen Orks ins Herz zu stechen …“

April starrte ihn jetzt nur noch an, unfähig, darauf etwas zu erwidern.

Janok stierte zornig zurück und fragte sich: ‚Was ist denn mit der auf einmal los?‘

Bevor er sich weiter den Kopf über Aprils Verhalten zerbrechen konnte, mischte sich Neptunia ein: „Es dürfte kein Problem sein, das heiße Gestein mithilfe unserer Wassermagie abzukühlen.“ Sie trat vor das Loch, streckte ihre Hände der Hitze entgegen und schon floss von ihren Handflächen ausgehend eine große Woge kaltes Wasser den Gang hinunter. Zischend erstarrte das Gestein, sodass der Gang nun begehbar war.

Die Gruppe kam aber nicht so schnell voran wie erwartet. Der Gang führte immer tiefer in den Berg hinein und sie mussten häufig anhalten und warten, bis die beiden Wassermagerinnen den nächsten Abschnitt des Tunnels abgekühlt hatten.

„Ich frage mich, wo Erwin hinwill“, murmelte Schimascha.

„Vermutlich nach draußen. Es ist inzwischen ganz schön kalt geworden“, antwortete Janok.

Tatsächlich fegte ein kühler Wind durch den nun endlich vollständig begehbaren Tunnel und die zwei Elfinnen sowie die Tarborianerin waren froh, dass sie ihre Mäntel anbehalten hatten, während der Ork aufgrund seiner leichten Kleidung zu frieren begann.

„Verdammt, hat dieser Wahnsinnige sich wirklich bis nach draußen durchgeschossen? Dann fängt er sich aber mit seiner dünnen Robe eine Mordserkältung ein“, mutmaßte Schimascha und erntete dafür einen bösen Blick von April.

Neptunia überlegte laut: „Das müsste aber dann eine ungeheure Menge an Gestein gewesen sein, die er einfach weggeschmolzen hat. Die Stadt und damit auch die Kellergewölbe der Zitadelle befinden sich in der Mitte dieses Berges und der Gang führt schräg nach unten. Ein möglicher Ausgang müsste dann auf der Höhe des Tales am Fuße des Berges liegen.“

„Darüber jetzt weiter nachzudenken, ist nicht mehr nötig“, sagte Janok und deutete dorthin, wo Tageslicht hereinfiel.

Sie hatten den Tunnel durchquert. Der Gang endete in einer Felswand zwei Meter über dem Boden. Das herausgeflossene Gestein hatte sich dort zu einer unförmigen Anhäufung angesammelt, über welche die Gruppe vorsichtig zum Boden herabsteigen konnte. Sie befanden sich in einer kleinen Schlucht zwischen dem Berg Goldspitze, der die Stadt Goldia unter seiner halbierten Spitze beheimatete, und dessen namenlosen Nachbarn. Die Zwerge gaben nur wichtigen Bergen Namen, was auch verständlich war, da es Hunderte von Bergen im Eisigen Norden gab.

Diese Schlucht hatte nur einen Ausgang, zu dem auch Spuren, die vermutlich zu Erwin gehörten, führten. Wortlos folgten sie den Abdrücken und gelangten in eine enge Seitenschlucht, die sich ohne Abzweigungen hinschlängelte und wo sie nur hintereinandergehen konnten. Da es somit nur einen Weg gab, war das Fehlen von Spuren aufgrund des Nichtvorhandenseins von Schnee nicht weiter problematisch.

Etwas anderes beunruhigte April allerdings. Überall auf dem Felsboden und an den Schluchtwänden klebten kleine Klumpen aus Blut und Speichel. Es schien, als hätte Erwin sich immer wieder erbrechen müssen.

„Das sieht nicht gut aus. Erwin scheint unter Magiebrand zu leiden“, befürchtete Neptunia.

„Magie… was?“, fragte Janok nach.

April erklärte es ihm, während sie eilig weitergingen: „Wenn ein Magier bei der Magiebenutzung seine Kraft überstrapaziert, kann es passieren, dass er einen Teil der Energie nicht mehr kontrollieren kann. Diese bewegt sich dann frei und unkontrollierbar im Körper des Magiers und richtet innere Verletzungen an. Die Symptome unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Arten der Magie, was aber fast immer vorkommt, sind innere Blutungen. Von denen ist meist die Lunge betroffen. Deshalb berichten die Geschichten über kämpfende Magier fast immer von kleineren Mengen Blut, die ausgehustet werden. Man könnte es als Warnzeichen ansehen, da es zu diesem Zeitpunkt noch nicht kritisch ist.“

„Aber solche Mengen, die in regelmäßigen Abständen ausgestoßen werden“, fügte Neptunia hinzu und ihr Blick fiel auf einen der Blutklumpen, „weisen auf einen schlimmen Magiebrand hin. Wir müssen ihn schnell finden und hoffen, dass sein Körper mithilfe der Regeneration den Magiebrand unter Kontrolle bekommt.“

Die Gruppe bewegte sich noch schneller durch die enge Schlucht. Endlich wurde diese breiter und die vier entkamen der bedrückenden Enge, um dann in einem dichten und undurchdringlich erscheinenden Tannenwald zu landen. Der Wald gehörte zu einem riesigen Tal, das inmitten der Berge des hohen Nordens lag. Erwin hätte von hier aus überallhin verschwinden können. Und zufälligerweise schien sein Magiebrand erloschen zu sein, als er die Schlucht verlassen hatte, denn nirgendwo in der Nähe war geronnenes Blut zu entdecken. Das war zwar für die Gesundheit des Elfen erfreulich, jedoch waren so diejenigen, die ihn suchten, einer wichtigen Spur beraubt. Und da selbst die mächtigen Tannen keinen absoluten Schutz vor dem starken, unglücklicherweise jetzt einsetzenden Schneefall boten, gab es immer noch keine Fußspuren, denen man hätte folgen können.

„Verdammte Axt! Hätte es jetzt wenigstens mal nicht schneien können?“, fluchte Janok und sprach aus, was alle dachten.

Schimascha trieb zur Eile: „Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Wir müssen uns aufteilen. April, Neptunia, ihr beide geht nach rechts, an der Felswand entlang. Ich suche die Felswand links von uns ab. Janok, du gehst in den Wald.“

„Warum soll ich allein in den Wald gehen?“, fragte Janok missmutig, mehr aber aus Streitlust als aus Widerwillen.

„Hast du etwa Angst?“, spöttelte Schimascha. „Keine Sorge. Hier gibt es keine Monster, deren Mägen stark genug wären, etwas so Ungenießbares wie dich zu verdauen.“

Diesmal erreichte der Spott Janok nicht, denn er antwortete nur lasch: „Das ist auch gut so.“

„Hört auf, euch zu streiten. Jede Sekunde, die wir verschwenden, entfernt sich Erwin weiter“, fauchte April die beiden wütend an. Ein zorniges Leuchten lag in ihren Augen und alle hatten es auf einmal noch eiliger, nach dem Elfen zu suchen.

„Erwin! Erwin! Verdammte Axt, was soll das Ganze, Erwin?!“, brüllte Janok zornig in den Wald, bekam jedoch keine Antwort. Und immer wieder fragte sich der Ork, warum er eigentlich frierend nach dem Verrückten suchte, der ihm ein Herz durchstochen hatte. Das widersprach doch selbst der unkomplizierten Logik eines Orks, die immer dann aussetzte, wenn sich ein ehrenhafter Kampf anbot. Allerdings, wenn Janok so nachdachte, hatte er auch nie einen Grund gehabt, nach Norden zu gehen. Dann wären ihm aber einige gute Kämpfe entgangen. Vielleicht war er als einer der fünf ungleichen Reiter tatsächlich an ein Schicksal gebunden, dem er unbewusst folgen musste. ‚Na gut‘, dachte Janok grimmig. ‚Ich tue, was du willst, Schicksal. Besorge mir dafür aber ein paar richtig gute Kämpfe.‘

Es schien, als hätte das Schicksal seinem Handel zugestimmt, denn Janok hörte plötzlich ein monströses Knurren hinter sich. Entweder hatte das unbekannte Wesen eine kräftige Stimme oder es war selbst monströs. Janok blieb stehen, blickte aber noch nicht nach hinten und tastete nach seinen Schwertern. Als seine Hände ins Leere griffen, fiel dem Ork wieder ein, dass seine Zwillingsschwerter von demselben Verrückten zerstört wurden, dem er gerade hinterherrannte.

Schimascha ging an der Felswand entlang und fragte sich, ob es eine gute Idee war, Janok allein in den Wald zu schicken, denn ihr war eingefallen, dass er unbewaffnet war. ‚Pah, der reißt doch mühelos jeder Bestie den Kopf ab‘, versuchte Schimascha sich selbst zu beruhigen, bevor sie sich ärgerte, dass sie sich um diesen Idioten Sorgen machte.

Dann aber wurde ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Vor ihr, unmittelbar an der Felswand, befand sich ein kreisrundes Loch im Boden. Es hatte einen Durchmesser von ungefähr einem Meter und war wegen des dichten Schneefalls nicht sehr gut zu sehen. Wäre Schimascha etwas schneller gegangen, hätte sie das Loch wahrscheinlich übersehen und wäre hineingefallen, da man so ein Loch hier nicht erwarten würde. Sie bückte sich und versuchte, etwas im Loch zu erkennen, das Tageslicht verlor sich jedoch in der tiefen Dunkelheit. ‚Das Loch ist vermutlich sehr tief. Wenn Erwin da reingefallen ist, könnte er sich schwer verletzt haben‘, vermutete Schimascha. Also rief sie hinein: „Erwin! Kannst du mich hören?“ Die Antwort bestand aus mehrstimmigen, schrillen Schreien, die eines verdeutlichten: Das Loch war nicht durch Umwelteinflüsse entstanden.

 

Noch besorgter als zuvor kamen April und Neptunia zurück zum Eingang der Schlucht, durch die sie das Tal betreten hatten. Sie waren ungefähr einen halben Kilometer an der Felswand entlanggegangen, ohne auch nur eine Spur von Erwin zu finden. Überraschenderweise fanden sie Gribus und Tropandus vor, die ihnen entgegenkamen.

„Ich hoffe, es gibt eine gute Erklärung dafür, warum auf einmal ein Gang vom Keller hierher ins Tal führt“, forderte Tropandus höflich und man sah ihm an, dass ihm die gesamte Situation über den Kopf wuchs.

Neptunia zuckte mit den Schultern: „Bis jetzt wissen wir nur, dass Erwin verschwunden ist. Und alle Hinweise deuten darauf hin, dass er es war, der den Tunnel ins Gestein gebrannt hat und so entkommen ist.“

„Aber warum?“, wollte Gribus wissen.

April seufzte traurig: „Wir wissen ja nicht einmal, was überhaupt mit ihm los ist.“ Eine einzelne Träne der Sorge kullerte über ihre Wange.

Gribus schien Aprils Kummer nicht zu beachten, denn nachdem er sich noch einmal umgeblickt hatte, fragte er stattdessen: „Wo sind die anderen? Waren nicht Janok und Schimascha bei euch?“

April nickte und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter: „Wir haben uns aufgeteilt, damit wir in verschiedenen Richtungen suchen können. Ich hoffe, sie haben ihn gefunden.“ April deutete in die beiden Richtungen, in die die anderen gegangen waren.

Wie der Zufall es wollte, kam Schimascha genau in diesem Moment zurück. Sie sah furchtbar aus, denn an mehreren Stellen waren kleine Bissspuren in ihrer Kleidung und auf ihrer Haut.

„Ach, du heiliger Stein, was ist denn mit dir passiert?“, fragte Gribus erschrocken. „Bist du in ein Nest voller Schneevipern gefallen?“

Schimascha sah ihn wehleidig an: „Falls deine Schneevipern blau mit weißen Streifen sind, dann ja. Sind sie giftig?“

Tropandus schüttelte den Kopf: „Sie haben nur ein leichtes Nervengift, welches dafür sorgt, dass die Bisswunden noch eine Weile brennende Schmerzen verursachen. Für größere Wesen ist das Gift ansonsten harmlos. Schneevipern greifen eigentlich auch nur Beutetiere an, die nicht größer sind als sie selbst.“

„Oder jene, die ihrem Nest zu nahe kommen“, vermutete Schimascha missmutig. „Diese verdammten Drecksviecher haben sich selbst durch meine Schuppenhaut durchgebissen.“ Die Tarborianerin blickte um sich und fragte: „Ist die Grünhaut noch nicht zurück?“

Die anderen verneinten und Schimascha blickte in den Wald, in den sie Janok geschickt hatte. Da ihr Gesicht von den anderen abgewendet war, konnten sie nicht ihren sorgenvollen Blick sehen. Es war wohl wirklich keine gute Idee gewesen, Janok allein in den Wald zu schicken. Womöglich gab es dort unter den finsteren Tannen noch schlimmere Kreaturen als die Schneevipern.

Schwere Schritte ließen plötzlich den Boden vibrieren und kündigten eine dieser schlimmen Kreaturen an. Sofort richtete die Gruppe die Blicke auf den Wald und wartete auf das Monster, das jeden Moment aus diesem hervorbrechen konnte. Und es kam. Es war ein weißer Warg und er war groß. Er hatte eine Schulterhöhe von zwei Metern und überragte sie alle. Jedoch rührte er sich nicht, sondern stand einfach da, während aus seiner rechten Seite der Lebenssaft herausfloss. Schimascha ließ das Holz ihrer Arme wuchern und formte sie zu Holztentakeln, für den Fall, dass der todgeweihte Warg in seinen letzten Zügen angreifen würde. Doch das tat er nicht. Auf seinem ausdruckslosen Gesicht erlosch der letzte Lebensfunke und der weiße Riese fiel zu Boden.

Fassungslos starrten alle das mächtige Tier an, das einfach so vor ihren Augen gestorben war. Nun konnten sie seine Verletzungen genauer betrachten. In seiner Seite klafften mehrere große, kreisrunde Wunden, aus denen Organe hingen und Blut herausfloss. Es war schwer zu sagen, ob das Tier verblutet oder an seinen Organverletzungen gestorben war. Schimascha trat vorsichtig an den Warg heran und stupste ihn mit einem Holztentakel an. Ein paar weitere, kräftigere Anstupser versicherten der Tarborianerin, dass der Warg wirklich tot war.

„Beim Dschungelgott, wer oder was hat dieses Riesenbiest getötet?“, fragte Schimascha laut.

„Was es auch immer war, ich hoffe, es ist in die entgegengesetzte Richtung gelaufen“, antwortete Tropandus und man sah ihm an, dass er einer Panik nahe war.

Plötzlich raschelte es im Gebüsch hinter dem Kadaver des Wargs. Dies gab den Nerven des Beraters den Rest. Er schrie auf, rannte kreischend in die Schlucht zurück und war augenblicklich verschwunden. Die anderen sahen ihm nach, doch dann konzentrierten sie sich auf das, was nun kam.

Das Gebüsch wurde von einer kräftigen Hand zur Seite geschoben und ein schlecht gelaunter Janok mit blutbesudelten Händen kam zum Vorschein. Als der Ork die erstaunten und zugleich fragenden Gesichter sah, beantwortete er die nicht gestellte Frage: „Nein, ich konnte Erwin nicht finden. Dieses verdammte Vieh kam dazwischen.“ Die letzten Worte brüllte der Ork und er trat gegen den Kadaver.

Schimascha sah ihn verblüfft an: „Ich dachte, Orks schätzen einen guten Kampf.“

„Nicht, wenn er zum falschen Zeitpunkt stattfindet“, gab Janok genervt von sich. „Und die Suche nach einem Elfen in leichter Stoffkleidung und ohne Schwerter ist ein falscher Zeitpunkt. Na ja, jedenfalls bin ich, nachdem ich diesem Mistvieh ein paar in die Seite gedonnert habe, noch etwas weitergegangen. Ich habe aber keine einzige Spur gefunden, weshalb ich wieder zurückgekommen bin.“

„Dann bleibt Erwin immer noch spurlos verschwunden“, fasste April zusammen und man sah ihr an, welche Schmerzen ihr diese Worte bereiteten.

„Ja, es sieht schlecht aus“, musste Gribus zugeben. „Er könnte nun überallhin verschwunden sein und dieses Tal ist groß und gefährlich.“

Alle sahen sich an und jeder, auch April, stimmte schweigend zu, die Suche vorerst abzubrechen. Wortlos gingen der Zwerg, die zwei Elfen und die Tarborianerin. Nur Janok fragte fast beiläufig: „Wer ist eigentlich gerade schreiend weggerannt?“

4. Kapitel – Was ist von mir geblieben?

Forschungsstation 67, irgendwo im Süden der Wüste

Zur selben Zeit

Es war still. Kein Laut durchdrang die metallene Ummantelung und das Wasser im Inneren des Behälters. Das Wesen, das sich im Behälter befand, schlief tief und fest. Es hatte einige harte Stunden hinter sich. Stunden, in denen kalte Maschinen aus dem Menschen Sinnas etwas Neues erschaffen hatten. Etwas, was es zuvor noch nie gegeben hatte. Seine Erschaffer hielten ihn für noch nicht vollendet, da sein kybernetisch verbessertes Gehirn noch nicht die Steuerungsprogramme aufgespielt bekommen hatte. Diese sollten es dem Bio-Cyborg ermöglichen, seinen neuen Körper zu kontrollieren. In seinem speziellen Fall sollten die Programme aber auch gleichzeitig das Werkzeug zu seiner Kontrolle sein. Noch konnten sie nicht in den Sentio-Chips, die in sein Gehirn implantiert worden waren, abgespeichert werden. Zuerst musste das Biologische mit dem Kybernetischen zusammenwachsen.

Was aber keiner der Erschaffer ahnte, waren zwei Dinge. Erstens: Der biologische Prozess des Zusammenwachsens fand viel schneller sein Ende als bei einem durchschnittlichen Menschen. Und zweitens: Sinnas Gehirn brauchte keine speziellen Programme, um den kybernetisch stark modifizierten Körper unter seine Kontrolle zu bringen.

Der Grund, warum es im Behälter so still war, war der, dass es in der Lagerhalle selbst still war. Obwohl der Tag schon längst angebrochen war, herrschte nur wenig Betriebsamkeit. Das lag daran, dass sämtliche Arbeiten von den Robotern erledigt wurden. Die Wissenschaftler brauchten etwas Uran für den neuen Atomgeneratorprototyp? Kein Problem, sofort setzten sich die automatischen Kräne in Bewegung und luden einen Bleibehälter voll Uran in die Hände eines Transportroboters, der dann durch ein Tunnelsystem, zu dem die Menschen aus Sicherheitsgründen keinen Zutritt hatten, zu den Laboren eilte und das Bestellte ablieferte. Da also die gesamte körperliche Arbeit von Maschinen erledigt wurde, gab es normalerweise nur drei Techniker, die diesen geregelten Ablauf überwachten. Sie trugen aus Sicherheitsgründen Schutzanzüge, denn Uran war nicht der einzige gefährliche Rohstoff, der hier gelagert wurde.

Heute aber waren die Techniker nicht allein, denn ein Trupp von fünf Soldaten, die ebenfalls Schutzanzüge trugen, und zwei Delta-Gatling-Roboter bewachten den geheimnisvollen Behälter. Zwei der Techniker standen hoch oben in der Kontrollzentrale, von wo aus sie mithilfe ihrer Computer die Roboter überwachten, während der dritte durch die Halle ging. Selbst die Kameras konnten nicht alles sehen, weil sie tote Winkel hatten.

Zurzeit aber folgte alles seinem geregelten Gang, sodass einer der beiden Techniker der Zentrale durch ein großes Sichtfenster auf den geheimnisvollen Behälter und seine Bewacher herabsehen konnte. „Ich wüsste nur zu gern, was sich in diesem Behälter befindet“, murmelte er.

„Ist doch klar. Irgendein Endprodukt der neuen Experimente. Ich habe gehört, die neue Regierung hat sämtliche gesetzlichen Verbote im Bereich der Wissenschaft aufgehoben“, sagte der zweite Techniker, ohne von seinen Monitoren aufzusehen.

„Na klasse“, stöhnte der erste. „Dann könnte vom herzenfressenden Supermenschen über den armeausreißenden Killercyborg bis zum arroganten Superhirn, das die Weltherrschaft anstrebt, alles Mögliche drin sein. Und wenn jetzt was schiefgeht, sind wir die Ersten, die dran glauben müssen.“ Über diese Aufzählung musste der zweite Techniker lachen und kassierte dafür einen bösen Blick von seinem Kollegen. Dieser fügte nun endgültig gereizt hinzu: „Das meine ich ernst.“

Der zweite unterdrückte mehr schlecht als recht seine Erheiterung und sagte: „Ich bitte dich. Wenn von dem, was auch immer es ist, eine Gefahr ausgehen würde, dann hätte man es nicht hier in diese Lagerhalle gepackt, sondern in die Hochsicherheitszone der Labore.“

Der erste Techniker blickte wieder zum Behälter und gab dem anderen recht: „Stimmt. Wenn es wirklich gefährlich wäre, dann würde man auf den Zeitvorteil verzichten. So aber kann der Behälter von den Robotern in weniger als fünf Minuten durch die Tunnel zum Flughafen gebracht werden.“

Der zweite nickte: „Richtig. Wir werden also diesen unheimlichen Behälter sowieso in ein paar Stunden los sein. Also kein Grund, sich darüber unnötig Sorgen zu machen.“

Langsam regte sich im schlafenden Körper der Geist Sinnas’. Mehr und mehr wurde der Mensch sich wieder seiner bewusst, doch er musste feststellen, dass er sich verändert hatte. Sinnas spürte jedes Stück Kybernetik, das gegen seinen Willen in den Körper gepresst worden war. Er konnte zwar noch nicht sagen, was man alles mit ihm gemacht hatte, jedoch spürte er, dass es nicht wenig war.

Er versuchte, seine eigene Haut zu ertasten. Doch das ging nicht. Egal, wie sehr er sich anstrengte, sein Körper, dessen Knie vor der Brust angezogen und von den Armen umschlungen waren, rührte sich nicht. Erst nach mehreren Minuten reagierten seine Finger träge und nachdem Sinnas weiterhin unermüdlich versuchte, seine Arme zu bewegen, reagierten auch diese endlich.

Als er seinen Körper nun halbwegs bewegen konnte, ließ er seine rechte Hand über die Haut seines linken Armes gleiten. Und er spürte nichts. Sinnas erstarrte, denn was bedeutete das? Hatte er keine fühlbare Haut mehr? Oder ließ ihn sein Tastsinn im Stich? Er hatte Angst vor der Antwort, doch noch mehr quälte ihn die Ungewissheit, weshalb er seine Augen aufriss. Diese einfache Bewegung wurde von einem mechanischen Summen begleitet, doch Sinnas wollte sich keine Gedanken darüber machen, was das bedeuten könnte.

Seine Augen waren nun zwar offen, doch das, was er sah beziehungsweise nicht sah, sorgte für noch mehr Verwirrung und Angst bei ihm. Seine Sicht war so stark verschwommen, dass Sinnas nicht einmal seine eigenen Hände klar erkennen konnte. Zudem zuckte das Bild und wurde von Störungen überlagert. Dies erinnerte ihn an eine Aufnahme, die mit einer defekten Kamera getätigt worden war.

 

Jetzt war Sinnas einer Panik nahe, denn auch wenn er nichts eindeutig erkennen konnte, erkannte er zwei Dinge. Erstens: Er schwamm in einer Art Flüssigkeit, ohne etwas davon zu merken. Sein Tastsinn musste völlig ausgeschaltet sein. Zweitens: Seine Hände waren rot. Metallisch rot sogar, zumindest glaubte Sinnas, das zu erkennen.

Er bewegte seine Hände nach vorn und stieß vermutlich auf einen Widerstand, da er seine Arme nicht weiter ausstrecken konnte. Er ließ seine Hände weitergleiten und musste feststellen, dass er sich in einem engen Behälter befand. Jetzt wurde Sinnas endgültig panisch. Das alles war zu viel für ihn. Er kratze mit seinen Fingern über die Innenwand des Behälters, aber bis auf ein dumpfes, scharrendes Geräusch brachte es nichts. Sinnas gab jedoch nicht auf. Seine Hartnäckigkeit wurde belohnt, denn aus dem kratzenden Geräusch wurde plötzlich ein schneidendes Geräusch. Er machte sich keine Gedanken darüber, wie seine Finger plötzlich die vermutlich metallische Wand aufschneiden konnten. Er wollte nur heraus.

„Hm. Da unten scheint etwas los zu sein“, meinte der erste Techniker.

Der zweite sah von seinen Monitoren auf, erhob sich und ging zum Sichtfenster. Von dort aus konnte er sehen, wie die Wachposten nicht mehr die Gänge zwischen den Lagerobjekten im Auge behielten, sondern den Behälter anstarrten. „Vielleicht bricht ja gerade dein Killercyborg aus“, scherzte er noch, da er das Ganze nicht ernst nahm.

Fast, als wollte man ihm recht geben, zerbrach klirrend das Bullauge und eine wässrige Flüssigkeit spritzte aus dem Behälter. Jetzt erstarb das Grinsen auf dem Gesicht des Technikers. Dabei vermochte er aufgrund der Entfernung nicht einmal die roten Klingen zu sehen, die das Metall des Behälters aufschlitzten. Doch das laute Schlagen gegen die Innenhaut des Behälters konnten die beiden Techniker selbst hoch oben hören und sie sahen auch, wie die Vorderseite des Behälters von innen verbeult wurde. Es dauerte nur Sekunden, bis diese in zwei Teile zerbrach und der Behälter seinen Inhalt freigab. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und die beiden Techniker hatten das Gefühl, als wären sie dabei, einem fremdartigen Wesen bei seiner Geburt zuzusehen.

Dieses Wesen hockte nun in einer Lache auf dem Boden und musste sich mit den Händen abstützen. Auch wenn die Techniker wenig über Biologie wussten, war ihnen klar, dass diese Flüssigkeit zum Schutz der lebenden Wesen diente, die man in solchen Behältern lagerte. Doch das Wesen, das unten in der Halle hockte, konnte kein biologisches Wesen sein. Da waren sich die beiden Techniker sicher, auch wenn sie aus dieser Entfernung keine Details erkennen konnten.

Endlich war er draußen. Sinnas fühlte sich benommen, da er heftig auf den Boden gefallen war. Er konzentrierte sich auf eine ruhige Atmung. Dabei achtete er nicht darauf, dass der Vorgang des Atmens einen maschinellen Klang hatte. Er wollte nur, dass sowohl sein Geist wie auch seine Wahrnehmung klar wurden. Langsam verschwand die Benommenheit und er gewann schrittweise die Kontrolle über seinen Körper. Sinnas nahm Geräusche und Wortfetzen in seiner näheren Umgebung wahr. Er war nicht allein und somit war auch sein Ausbruch nicht unbemerkt geblieben. Und er war sich sicher, dass niemand hier über seinen Ausbruch erfreut sein würde.

Sinnas’ Ausbruch überraschte die fünf Soldaten. Aber sie waren keine einfachen Soldaten, wie die Techniker gedacht hatten, sondern eingeweihte Elitesoldaten, die daher wussten, um wen und was es sich bei dem Cyborg handelte. Deshalb blieben sie nach einer Schrecksekunde ruhig, vor allem, als sie erkannten, dass der Cyborg in diesem Moment so unsicher und schwerfällig wie ein antiker Roboter war. Einer der fünf aktivierte seinen Kommunikator und funkte die Techniker an: „Wir brauchen einen der Transportroboter, um das Objekt an Ort und Stelle zu halten.“

Er bekam keine Antwort.

„Hey, seid ihr taub?“

Jetzt meldete sich einer der Techniker: „Der Roboter ist unterwegs.“

Nur einige Augenblicke später kam der Roboter angerast, blieb stehen und wartete auf Befehle. Da es sich um einen zivilen Roboter handelte, hatte er kein Delta, Gamma oder Beta im Namen, sondern hieß schlicht Zentaur-5982. Den Typennamen trug der Roboter, der deutlich größer als ein Mensch war, wegen seines Körperbaus, der dem eines mythischen Zentauren ähnelte. Der Oberkörper war dem eines Mannes nachempfunden, aber an den Armen waren Greifklauen befestigt. Diese erwiesen sich als nötig, um die zum Teil schweren Gegenstände zu greifen und zu verladen. Der Unterkörper bestand aus einem fahrbaren Untersatz mit Rädern, mitsamt einer großen Ladefläche, auf die der Roboter die Ladung packen konnte. Durch diese Konstruktion war er in der Lage, selbstständig Waren aufzuladen, zu transportieren und abzuladen. Seine umfangreiche Programmierung erlaubte es ihm, auch ungewöhnliche Befehle zu befolgen.

„Halt es fest, Robot. Aber nicht zu fest, es darf nicht verletzt werden … oder beschädigt … oder was auch immer“, befahl einer der Soldaten.

Sinnas wurde plötzlich von kräftigen Armen in die Luft gehoben, doch das interessierte ihn nicht. Er war immer noch damit beschäftigt, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Langsam wurde auch seine Sicht endlich klar. Zuerst nahm er Konturen wahr, die dann zu erkennbaren Gestalten wurden. Er blickte sich um und zählte fünf Soldaten und zwei Delta-Gatling-Roboter. Während er sie ansah, zuckten digitale Anzeigen durch sein Sichtfeld, die zusätzliche Informationen über das, was er sah, anzeigen sollten, doch sie waren undeutlich und gestört. Offenbar funktionierte irgendein Chip noch nicht richtig. Doch schon allein die Tatsache, dass solche Daten in sein Sichtfeld eingeblendet wurden, bereitete Sinnas noch mehr Sorgen darüber, was man mit ihm angestellt hatte. Es kostete ihn seinen gesamten Mut, um nach unten auf seinen Körper zu blicken. Seine schlimmste Befürchtung wurde wahr. Das, was er sah, war kein lebendiger Menschenkörper mehr. Er erblickte rotes Metall, das seinen Körper wie eine Rüstung umgab. Doch es war keine Rüstung – es war sein Körper selbst.

Ein Schrei … wie ein kreischendes Kreissägeblatt. So klang das, was das Wesen von sich gab. Es wehrte sich plötzlich heftig gegen den Griff des Transportroboters. Die Soldaten schreckten zurück und fragten sich, was dieser Cyborg war. War er wirklich nur ein kybernetisch stark veränderter Mensch? Oder eine von der Wissenschaft geschaffene Bestie?

Der Cyborg wehrte sich immer heftiger, aber auch überlegter. Statt sinnlos hin- und herzuwackeln, presste er seine Beine gegen den Rumpf des Roboters und drückte dagegen. Die Soldaten erkannten seine Absicht, doch sie waren sich sicher, dass er den starken Armen des Roboters nicht entkommen konnte. Aber wie heißt es so schön? Irren ist menschlich. Mit einem lauten Knall riss der Cyborg allein durch den Druck, den er mit seinen Beinen erzeugte, die Arme aus, die ihn festhielten. Wieder einmal fiel er auf den Boden, doch diesmal fing er seinen Sturz ab und öffnete mit ungeheurer Kraft die Greifklauen des Roboters, die noch an seinen Armen baumelten.

Der Cyborg verharrte mehrere Augenblicke lang, sodass die Soldaten hofften, er hätte einen Systemabsturz. Doch dann schnellte sein Kopf hoch und er starrte sie mit blau leuchtenden, elektrischen Augen an. Blitzschnell sprang der Cyborg nach vorn. Bevor einer der Soldaten überhaupt mitbekam, was passierte, hatte der Cyborg mit einem kräftigen Kick seinen Fuß in dessen Brust versenkt. Dem Soldaten wurden durch den Tritt mehrere Rippen gebrochen, während sein Körper nach hinten geschleudert wurde. Erst eines der gigantischen Lagerregale stoppte seinen Flug unsanft. Der Soldat prallte mit seinem Rücken gegen eine Kante und trotz der schweren Rüstung glaubte man, seine Wirbelsäule brechen zu hören. Es war unwahrscheinlich, dass er das überlebt hatte. Und es war eindeutig, dass sich der Cyborg nicht so einfach einfangen lassen würde. Die Soldaten eröffneten das Feuer.