Douarnenez und das Geheimnis der Sardine

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Douarnenez und das Geheimnis der Sardine
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Jean-Pierre Kermanchec

Douarnenez und das Geheimnis der Sardine

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Bisher erschienen von Jean-Pierre Kermanchec:

Vorankündigung:

Impressum neobooks

Kapitel 1

Roland Morics arbeitete wie besessen an seinem Roman. Er, der in seinem ganzen Leben noch nie mehr als drei Seiten am Stück geschrieben hatte, wenn er von den Briefen an seine in Kanada lebende Schwester einmal absah, wollte seinen ersten und voraussichtlich einzigen Kriminalroman schnell zu einem Ende bringen. Er arbeitete erst seit einigen Tagen an dem Buch. An einem Buch, dessen Geschichte ihm im wahrsten Sinn des Wortes vor die Füße gefallen war.

Die Geschichte hatte am Dienstag vor einer Woche begonnen. Roland Morics hatte sich bei Ebbe zu Fuß auf den Weg zur Île Tristan gemacht, der kleinen Insel in der Bucht seiner Heimatstadt. Von seinem Haus in Douarnenez aus, im Impasse Jacques Giocondi, brauchte er knappe 15 Minuten. Während der meisten Zeit des Jahres war die Insel für Besucher verbotenes Terrain, zum Schutze der Natur. Roland erklomm die wenigen Stufen auf die Kaimauer der Insel, setzte sich auf die Mauer und genoss den Blick auf sein Douarnenez.

An manchen Tagen begegnete er einem der wenigen pêcheurs à pied, wie man die Wattfischer hier nannte. Manchmal kam auch Gall Daumas, der Aufseher der Insel, und setzte sich zu ihm auf die Mauer. Dann unterhielten sie sich und tauschten die letzten Neuigkeiten aus. Heute war Gall Daumas nicht zu ihm gekommen. Er saß seit einer guten halben Stunde alleine auf der Kaimauer und genoss die wenigen Sonnenstrahlen des Tages. Die Mauer war feucht. Roland störte das nicht, auch wenn seine Hose klamm wurde.

In der Nacht hatte es angefangen zu regnen, und den ganzen Morgen über waren weitere Schauer über das Land hinweggezogen. Roland, der zu den Pensionären gehörte, die schon im Alter von 55 Jahren ihre Pension angetreten hatten, machte das Wetter wenig aus. Er hatte sein Haus im Nieselregen verlassen, war über den kleinen Fußweg hinunter zum Boulevard Camille Resaud spaziert, der Straße gefolgt, die sich wie eine Uferpromenade entlang der Meereseinbuchtung hinzog, an der der Hafen Rhu lag. Er mochte den Hafen mit all seinen kleinen Fischerbooten, den Segelyachten und dem geschäftigen Treiben der Fischer. Die größeren Boote lagen im Port du Rosmeur. Dann war er über die steinerne Treppe zum Strand hinuntergestiegen und auf die Insel spaziert.

Jetzt musste er sich auf den Rückweg machen, da er vor der Flut wieder auf festem Boden sein wollte. Er nahm den Fußweg über die Felsen, auf dem er an der Statue der Sirene vorbeikam. Von der Landseite aus war die Statue eine auf dem Schwanz stehende Sardine, von der Insel aus sah der Spaziergänger die wohlgeformten Proportionen einer schönen Jungfrau. Stellte die Skulptur die sagenumwobene Dahut dar, die Tochter des Königs Gradlon, dem Herrscher über die versunkene Stadt Ys? Jene sagenumwobene Dahut, die auch heute noch in Mondnächten den Fischern erscheint, ihr langes blondes Haar kämmt und die Fischer betört? Die Sage erzählt, dass so mancher Fischer den betörenden Gesängen der Dahut gefolgt und in den Tiefen des Atlantiks verschwunden ist.

Roland blieb plötzlich stehen und sah auf einen Spalt zwischen einem der Felsen, genau am Fuße der Sirene. Da lag etwas, etwas was dort nicht hingehörte. Es sah aus wie eine grüne Flasche. Roland näherte sich dem Spalt, er konnte den Gegenstand jetzt erkennen. Dort lag eine von Tang und Algen umspülte Weinflasche. Die Flasche war verschlossen und enthielt ein zusammengerolltes Papier. Roland griff nach ihr und hob sie heraus. Es war eine grüne Bordeauxflasche. Roland hielt seine erste Flaschenpost in Händen! Wie oft hatte er als Kind davon geträumt? Tausend Mal, zehntausend Mal? In seinen Träumen enthielt die Flasche eine Landkarte mit der genauen Lage eines Schatzes, dem Schatz eines Piraten. Heute, fünfzig Jahre nach seinen Kinderträumen, hatte er seine erste Flaschenpost gefunden. Ein Mann von beinahe 60 Jahren fiel in seine Kinderträume zurück. Ist es Dahut gewesen, die ihm diesen Fund zu Füssen gelegt hatte? Er schmunzelte. Er versuchte die Algen und den Tang von der Flasche zu entfernen, um einen besseren Blick auf den Inhalt werfen zu können. Er konnte deutlich sehen, dass mehrere zusammengerollte Seiten in der Flasche steckten. Roland nahm die Flasche mit. Er würde sie zuhause öffnen. Er überquerte die Felsen, kam wieder auf den Fußweg zur Kaimauer und stieg die Treppen hinauf.

Zuhause angekommen stellte er die Flasche vorsichtig auf den Küchentisch, dann hing er seinen Regenmantel an die Garderobe, zog sein festes Schuhwerk aus und schlüpfte in seine Hausschuhe. Er ging in die Küche, nahm die Flasche und begann sie am Spülstein zu reinigen. Aus der Tischschublade holte er einen Korkenzieher und zog den Korken heraus. An der Unterseite des Korkens war die Verfärbung zu sehen, die der Wein dem Korken einst verpasst hatte. Er schüttelte die Flasche, damit das zusammengerollte Papier herausfiel. Das war nicht so einfach, es waren etliche Seiten, zu viele, um einfach herauszufallen. Roland ging in sein Arbeitszimmer und holte eine Pinzette. Mit ihr konnte er das Papierröllchen jetzt fassen und vorsichtig zum Flaschenhals ziehen. Mit viel Geduld zog er die Rolle Zentimeter für Zentimeter durch den Flaschenhals. Es wäre ein Einfaches gewesen, die Flasche einfach zu zerschlagen und das Papier zu entnehmen. Roland war ein Sammler! Diese Flasche, seine erste Flaschenpost, sollte in seiner Sammlung bleiben, die wollte er keinesfalls zerstören.

Vorsichtig entrollte er die Seiten. Es waren zehn eng beschriebene Seiten. Roland begann zu lesen. Das Datum in der ersten Zeile enttäuschte ihn. Das Papier enthielt das Datum vom Anfang dieses Monats. Klar und deutlich las er:

Douarnenez, den 05. Februar 2017

Er hatte doch gehofft, eine vielleicht hundert Jahre alte Flasche gefunden zu haben. Stattdessen hielt er eine Flasche in der Hand, in der vor einer Woche noch Bordeauxwein lagerte. Er las weiter, sein Gesicht wurde bleich und seine Hände begannen zu zittern.

Kapitel 2

Anaïk Bruel war zufrieden, dass sie ihren letzten Fall abgeschlossen hatte. Das Wochenende würde sie entspannt mit Brieg Pellen verbringen können. Auf seinem Boot erwartete Anaïk ein riesiges Rosenbouquet, eine Flasche Champagner, ein vorzügliches Essen, ein umwerfend schöner Diamantring, ein Heiratsantrag und ein großes Bett in der Kajüte. Anaïk hatte den Antrag mit einem klaren, deutlichen, liebevollen und begeisterten ja, ich will, beantwortet. Seither beschäftigte sie nun die Planung ihrer Hochzeit, die in diesem Juli stattfinden sollte. Es traf sich daher gut, dass die Arbeit im Kommissariat etwas ruhiger war. Nur einmal hatten sie sich auf die Suche nach einem verschwundenen 60-jährigen Mann machen müssen, dessen Frau ihn als vermisst gemeldet hatte. Ein Verbrechen wurde nicht ausgeschlossen, so dass die Mordkommission die Ermittlungen aufgenommen hatte. Der Vermisste war nach drei Tagen wieder aufgetaucht. Es hatte sich um kein Verbrechen gehandelt, der Mann war, ohne sich von seiner Frau abzumelden, nach Brest gefahren und hatte seine dort lebende Schwester besucht.

 

Auch Monique Dupont, die Kollegin von Anaïk Bruel, freute sich über die ruhigeren Arbeitstage. Seitdem sie den Arzt, Alain Bost, kennengelernt hatte, waren ihre Feierabende nicht mehr so einsam wie in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit in Quimper. Mittlerweile war aus den einst Verliebten ein richtiges Paar geworden. An eine Hochzeit dachten die zwei im Moment jedoch nicht.

Die beiden Kommissarinnen beschäftigten sich mit der Lektüre von Suchanfragen, Fahndungsfotos, Rundschreiben des Justizministeriums und den berüchtigten Statistiken von Robert Nourilly, ihrem OPJ, dem officier de police judiciaire. Der Chef hatte drei Leidenschaften, dazu gehörten Presseerklärungen, ein notorischer Sparzwang und die Suche nach immer neuen Statistiken zur positiven Darstellung seines Kommissariats. Gestern erst war die Aufforderung an die Mordabteilung ergangen, die Zahlen des vergangenen Jahres in die Tabellen einzutragen und sie mit Kommentaren und kurzen Schilderungen der Vorgehensweise zu ergänzen. Eine Tätigkeit, die weder Monique noch Anaïk schätzte. Das überließen sie gerne ihrer Sekretärin, Anne Kerflor. Aber das Telefon klingelte in den letzten Tagen nur selten, und ein neuer Fall, der sie vor den Statistiken rettete, schien in weiter Ferne zu sein.

Anaïk war in Gedanken bei der Auswahl ihres Hochzeitkleides. Der Ort ihrer Hochzeit stand bereits fest. Sie hatten sich für das Manoir de Kerazan entschieden, einem herrlichen Schloss aus dem 18. Jahrhundert. Das Manoir lag in der Nähe von Loctudy, 20 Kilometer von Quimper entfernt. Es gab dort einen ausreichend großen Saal für bis zu 120 Gästen. So viele kämen bei ihnen nicht zusammen, bisher standen 80 Gäste auf ihrer Liste. Anaïk und Brieg hatten geplant, dass der Cocktailempfang auf der Grünfläche vor dem Schloss stattfinden sollte, so das Wetter mitspielte. Das Schloss beherbergte ein Kunstmuseum, mit Gemälden, Mobiliar und Keramiken. Ihre Gäste könnten auf Wunsch während des Cocktails auch durch das Museum flanieren.

Das Telefon riss Anaïk aus ihren Träumereien.

„Anaïk Bruel.“

„Madame Bruel, hier ist die Gendarmerie von Pont-L´Abbé. Mein Name ist Maxime Le Beux. Wir wurden vor einer halben Stunde nach Loctudy gerufen. Auf dem Gelände der Domaine de Dourdy haben Spaziergänger einen Koffer gefunden, darin liegt eine Leiche.“

„Einen Koffer mit einer Leiche? Das muss ein Schock für die Spaziergänger gewesen sein. Wir kommen sofort, die Spaziergänger sollen bitte auf uns warten. Ist der Fundort bereits abgesperrt?“

„Aber natürlich, Madame la Commissaire. Mein Kollege, Jean Le Doeuff, hat das sofort erledigt. Er achtet auch darauf, dass niemand mehr den Fundort betritt. Wissen Sie, wo die Domaine de Dourdy liegt?“

Und ob sie das wusste. Als sie mit Brieg das Manoir von Kerazan besucht hatte, um sich ein Bild von dem Schloss zu machen, waren sie anschließend noch über den GR 34, den sentier côtier, spaziert und an der Domaine de Dourdy vorbeigekommen.“

„Ja, ich kenne den Ort“, antwortete sie.

„Der Fundort liegt direkt an der Brücke zur Île Garo. Sie können mit dem Wagen unmittelbar bis zum Fundort fahren“, fügte Maxime Le Beux hinzu.

Anaïk informierte Dustin, Yannick und ihre Kollegin Monique. Sie alle mussten zum Fundort kommen. Auf den Pathologen, Yannick Detru, hätten sie bei einer Leiche in einem Koffer vielleicht verzichten können, aber Anaïk kannte Yannick gut. Er wollte grundsätzlich mit zum Tatort kommen, oder wie hier zum Fundort, wenn es um eine Leiche ging.

Anaïk hielt vor der Polizeiabsperrung. Monique war bereits eingetroffen. Sie gingen unter der Absperrung hindurch und grüßten den Gendarmen, der auf sie zukam.

„Bonjour, Sie sind bestimmt Madame la Commissaire?“, begrüßte Maxime le Beux Anaïk.

„Der Koffer liegt hier drüben, wenn Sie mir bitte folgen“, sagte er und führte die Kommissarinnen zur schmalen steinernen Brücke. Auf dem linken Brückenpfeiler stand ein Schild mit dem Hinweis, dass die Brücke Privateigentum und für jeglichen Verkehr gesperrt war. Fußgängern war die vielleicht zweihundert Meter lange Überquerung erlaubt. Der Gendarm ging zur Böschung an der rechten Seite der Brücke und zeigte auf den geöffneten Koffer. Anaïk sah in den Koffer und auf die dort hineingezwängte Leiche eines Mannes mitsamt einiger Algen. Sie beugte sich zu dem Toten. Der Leichnam musste schon einige Tage im Koffer gelegen haben, die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Der Koffer war wahrscheinlich vom Meer angeschwemmt worden. Diese Überlegung beinhaltete, dass der Mann nicht in der Gegend ermordet worden war.

„Madame Bruel beseitigt schon wieder alle Spuren“, stichelte Dustin, der inzwischen zu ihr getreten war. Anaïk ärgerte sich schon lange nicht mehr über Dustins provozierende Bemerkungen. Sie schätzte den Kollegen und arbeitete ausgezeichnet mit ihm zusammen. Auch Yannick war eingetroffen und hatte sich mit der Leiche beschäftigt, der Stellung der Arme und Beine, eventuelle Verletzungen, die auf die Art der Ermordung hinweisen könnten. Er müsste den Mann in der Pathologie genauer untersuchen. Eine erste Aussage machte er dennoch.

„Also, euer Toter ist erschossen worden. Meine Vermutung ist, dass sein Mörder ihm zuerst in den Rücken geschossen und danach mit einem Kopfschuss getötet hat. Dann hat er den Leichnam in den Koffer gezwängt.“

„Wie lange ist das her?“, fragte Monique.

„Schwer zu sagen ohne eine genauere Untersuchung. Ich meine, dass der Mann vor sieben oder acht Tagen ermordet worden ist.“

„Dann sind wir auf der Suche nach einem Mann, der seit mindestens einer Woche vermisst wird? Immerhin ein erster Anhaltspunkt“, meinte Monique.

„Vielleicht finden sich ja noch weitere Spuren“, meinte Dustin und begann mit seiner akribischen Arbeit. Die Spuren rund um den Koffer konnte er ignorieren. Die gesamte Umgebung wimmelte nur so von Fußspuren, Getränkedosen, Zigarettenstummeln und Papiertaschentüchern.

Anaïk und Monique konnten vor Ort nichts mehr machen. Sie fuhren zurück ins Kommissariat und kümmerten sich um die Vermisstenlisten.

„Ein Leichenfund in unmittelbarer Nähe des Schlosses, in dem Brieg und ich im Sommer heiraten wollen. Das gefällt mir nicht“, meinte Anaïk als sie den Motor startete.

Im Kommissariat gingen sie die Listen der vermissten Personen der letzten zwei Monate durch. Es waren zwei Männer und fünf Mädchen oder Frauen.

„Lass uns die Spur der beiden Männer überprüfen“, meinte Monique. Es handelte sich um Marc Le Bras und Hervé Floc´h, die seit einer Woche vermisst wurden. Marc Le Bras wohnte in Locronan, seine Tochter hatte ihn als vermisst gemeldet. Hervé Floc´h kam aus Douarnenez, es war seine Frau, die die Anzeige aufgeben hatte. Von beiden Männern fehlte noch immer jede Spur. Die Kommissarinnen vermuteten, dass einer der beiden im Koffer lag.

Douarnenez oder Locronan lagen ein gutes Stück vom Fundort entfernt. Sollte es sich um einen der beiden handeln, stellt sich die Frage, wie der Koffer in die Nähe von Loctudy gekommen ist? Ist er dort abgelegt worden, oder hat das Meer den Koffer angeschwemmt? Oder stammt die Leiche gar nicht aus der Gegend? Sie hatten bis jetzt nur nach den Vermissten aus dem Finistère gesucht. Anaïk hoffte, dass Dustin ihnen nach der Analyse aller Spuren weitere Hinweise geben konnte.

Kapitel 3

Nachdem Anaïk festgestellt hatte, dass weder Marc Le Bras noch Hervé Floc´h in ihrer Datei zu finden waren, blieb ihnen nichts anderes übrig als die Wohnorte der beiden Vermissten aufzusuchen. Sie brauchten ein Foto, Fingerabdrücke oder die DNA der Männer. Die Kommissarinnen fuhren zuerst nach Locronan, in die Venelle du Roz, die Rosengasse, um mit der Tochter von Marc Le Bras zu sprechen.

Anaïk betätigte den alten schmiedeeisernen Löwenkopfklopfer und wartete.

Eine adrett gekleidete junge Dame öffnete ihnen die Tür.

„Sie wünschen?“, fragte die Frau und sah die beiden Kommissarinnen an.

„Bonjour Madame, Anaïk Bruel und meine Kollegin, Monique Dupont, wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Es geht um das Verschwinden ihres Vaters. Dürfen wir eintreten?

„Entschuldigen Sie, selbstverständlich, bitte treten Sie näher. Mein Name ist Laora Nivinic. Haben Sie etwas von meinem Vater gehört?“

Anaïk und Monique betraten das Haus.

„Bitte nach rechts.“ Laora zeigte auf die Tür neben Monique, öffnete die Tür, und sie betraten den kleinen Wohnraum.

„Haben Sie etwas von meinem Vater gehört?“, widerholte Laora ihre Frage.

„Nein, Madame Nivinic, wir haben noch keinen konkreten Hinweis auf ihren Vater. Wohnt ihr Vater hier im Haus?“, fragte Anaïk.

„Oh nein, er hat sein eigenes Haus in der Rue Moal“, antwortete Laora und sah Anaïk erwartungsvoll an.

„Haben Sie einen Schlüssel zu seinem Haus?“

„Natürlich habe ich einen Schlüssel, ich betreue ihn, wenn er mal krank ist. Ansonsten kann er sich noch gut selbst versorgen.“

„Dürfen wir uns in seinem Haus umsehen? Vielleicht finden wir etwas, das uns weiterhelfen kann“, fragte Anaïk und wartete auf eine Antwort.

„An was denken Sie?“

„Wir würden gerne Fingerabdrücke oder DNA-Spuren finden. Das kann uns eventuell bei der Identifizierung helfen.“

Laora erschrak. Das konnte nur bedeuten, dass ihr Vater tot war. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

„Madame Nivinic, bitte beruhigen Sie sich. Wir haben nicht gesagt, dass ihrem Vater etwas zugestoßen ist. Wir suchen von allen vermissten Personen Bilder, Fingerabdrücke oder DNA-Proben, so können wir schneller klären, um wen es sich bei einem Leichenfund handelt.“

„Haben Sie denn eine Leiche gefunden?“, fragte Laora Nivinic.

„Ja, wir haben gestern bei Loctudy einen Toten gefunden, den wir noch nicht identifizieren konnten.“

„Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu seinem Haus, Sie dürfen sich dort gerne umsehen.“ Laora hatte sich wieder gefangen, es konnte ja auch jemand anderes als ihr Vater sein, den die police judiciaire gefunden hatte.

Anaïk und Monique verabschiedeten sich und fuhren in die Rue Moal. Monsieur Marc le Bras besaß ein größeres Haus, eine schöne Longère, die erst vor Kurzem renoviert worden war, das bezeugte der makellose Anstrich der Fenster- und Türläden. Die salzhaltige Meeresluft greift die Anstriche schnell an.

Sie durchschritten den Vorgarten, der durch eine Steinerne Mauer von der Straße getrennt war, und schlossen die Haustür auf. Das Haus machte einen aufgeräumten Eindruck. Monique ging ins Badezimmer und sah sich dort nach einem Kamm oder einer Haarbürste um, von der sie eine Probe für eine DNA-Analyse mitnehmen konnten. Anaïk sah sich in den Wohnräumen nach Hinweisen auf das Verschwinden von Marc Le Bras um. Auf dem Salontisch lagen einige Ausgaben des Ouest-France, ein Stapel ungeöffneter Briefe, darunter eine Anzahl von Neujahrskarten, Kontoauszügen der Postbank und zwei Bücher. Anaïk rührte nichts an, sie wollte auf keinen Fall Spuren verändern. Sollte es sich bei dem Toten im Koffer um Marc Le Bras handeln, müsste Dustin sich das Haus näher ansehen.

Monique kam zu ihr und hielt eine kleine Plastiktüte hoch.

„Ich habe Haare gefunden, damit erhalten wir seine DNA“, meinte sie und steckte die Tüte in ihre Handtasche.

Anaïk sah sich noch in den anderen Räumen um, ohne auf etwas wirklich Bedeutsames zu stoßen. Auf einer Kommode in seinem Arbeitszimmer stand eine Fotografie von Vater und Tochter, die nahm sie mit.

 

„Lass uns den Schlüssel zurückbringen und nach Douarnenez fahren“, sagte sie zu Monique. Sie verließen das Haus.

Das Haus von Hervé Floc´h lag im Ortsteil Tréboul, in der Cité du Ménez Birou. Das einfache Reihenhaus lag lediglich 100 Meter von der Strandpromenade entfernt, die über einen Fußweg gut zu erreichen war. Eine schöne Wohnlage, auch wenn die Häuser eher einer einfacheren Schicht der Bevölkerung zugehörig schienen. Sie klingelten an der Haustür und warteten. Nach einigen Minuten wurde die Tür aufgeschlossen, und eine Frau Anfang sechzig stand vor ihnen.

„Bonjour Mesdames, Sie wünschen?“

„Bonjour, Madame Floc´h, wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Anaïk Bruel ist mein Name, und das ist meine Kollegin, Monique Dupont. Dürfen wir eintreten? Wir haben einige Fragen zu ihrem vermissten Mann.“

„Aber sicher, treten Sie näher. Haben Sie etwas von meinem Mann gehört?“, fragte sie neugierig.

Madame Floc´h ließ die Kommissarinnen eintreten. Sie ging voraus ins Wohnzimmer und bot den Damen Platz an.

„Madame Floc´h“, begann Anaïk das Gespräch.

„Wir haben von ihrem Mann noch nichts gehört. Wir sind dabei, die Angehörigen aller Vermissten um ein Bild und eine Haarprobe zu bitten, das kann uns das Auffinden erleichtern.“

„Aber ich habe der Gendarmerie doch schon ein Bild gegeben als ich meinen Mann vermisst gemeldet habe. Sie sagen, dass Sie von der police judiciaire sind? Ist meinem Mann etwas zugestoßen, oder ist er in eine Sache geraten?“

„Nun, Madame Floc´h, wir sind zwar von der police judiciaire, aber das bedeutet nicht, dass ihr Mann in eine kriminelle Tat verwickelt ist.“ Anaïk versuchte sich vorsichtig auszudrücken, nachdem sie beim Gespräch mit der Tochter von Le Bras Ängste ausgelöst hatte.

„Madame Floc´h, bitte verstehen Sie uns richtig, wir brauchen Spuren, mit denen wir ihren Mann identifizieren können.“

„Sie gehen also davon aus, dass mein Mann tot ist?“

„Nein, davon gehen wir im Augenblick noch nicht aus. Ich kann Ihnen aber sagen, dass wir eine Leiche gefunden haben, die wir bisher nicht identifizieren konnten. Wir wissen noch nicht, um wen es sich handelt.“

Madame Floc´h war während Anaïks Ausführungen bleich geworden. Dann fragte sie Anaïk.

„Was genau benötigen Sie?“

„Ein Haar ihres Mannes aus seinem Kamm oder seiner Bürste oder seine Zahnbürste.“

„Ich sehe nach, wie ich Ihnen behilflich sein kann.“

„Wenn Sie erlauben, dann geht meine Kollegin mit und nimmt die Probe, damit ihre DNA nicht auch dazukommt.“

„Kommen Sie, Madame la Commissaire“, antwortete Frau Floc´h und ging voraus ins obere Stockwerk. Monique folgte ihr und streifte auf dem Weg ihre Handschuhe über.

Anaïk sah sich von ihrem Platz aus in dem gemütlich, kleinbürgerlich eingerichteten Wohnraum um. Aus dem Fenster sah man in den kleinen Garten hinter dem Haus. Monique Dupont kam die Treppe herunter.

„Madame Floc´h hat mir noch ein Foto ihres Mannes gegeben“, meinte Monique und wartete auf Anaïk.

„Sobald wir etwas Genaues wissen, informieren wir Sie“, sagte Anaïk Madame Floc´h zu. Sie verabschiedeten sich und fuhren zurück ins Kommissariat. Die Proben gaben sie zur Analyse an Yannick Detru.

Anaïk und Monique hatten die Etage ihrer Büros noch nicht erreicht, als Anaïks Handy klingelte. Sie nahm ab und blieb wie angewurzelt stehen.

„Wir sind schon unterwegs.“