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Mexikaner oder Sklaven?

Der mexikanische Krieg war das letzte große Projekt, mit dem sich die amerikanische Union zwölf Jahre vor dem Bürgerkrieg noch einmal sinnhaft ihrer Einheit als republikanische Nation versicherte. Mit der Doktrin der manifest destiny hatten sich die Fronten noch übertünchen lassen, die ein paar Jahre später zum offenen Konflikt zwischen Sklaverei-Befürwortern und -Gegnern führen sollten. Die Grundüberzeugung, dass Fortschritt mit Expansion zusammenhinge, teilten alle Parteien. Dass die amerikanischen Institutionen zu diesem Zeitpunkt, während sich die Welt im Umbruch einer industriellen Revolution befand, weltweit die fortschrittlichsten waren, ebenso. Daraus schöpfte die Expansion ihre Rechtfertigung: Der Boden sollte effizienter genutzt werden, als es seine jetzigen Besitzer taten. Sowohl Sklaverei-Befürworter als auch -Gegner schwärmten von mexikanischen Schwesterrepubliken nach angloamerikanischem Vorbild. Nur wollten die Südstaaten dort eben auch ihre ›südlichen Institutionen‹ errichten, während die Nordstaaten Sklaverei für keine zeitgemäße Wirtschaftsform mehr hielten. In der Berichterstattung über die europäischen Revolutionen, die neben dem Friedensvertrag mit Mexiko landesweit die Schlagzeilen bestimmten, wurde noch einmal das Narrativ des eigenen Freiheitsauftrags beschworen. »Wir sind die Losung, der Polarstern und die Flammensäule der Freiheit. Wenn die Freiheit in Gefahr sein sollte, wenn sie uns um Beistand riefe, würde kein amerikanisches Herz und keine Hand sich weigern, zu ihrer Rettung zu eilen«, hieß es in der New Yorker Sun pathetisch. Die Pariser Revolte im Februar des Jahres 1848, die in Europa eine Welle bürgerlich-demokratischer Revolutionen auslöste, wurde stürmisch begrüßt. »Endlich wagen es Millionen in der Alten Welt, ihren Tyrannen entgegenzuschreien: ›Auch wir werden freie Menschen sein!‹«36 Im Sieg der französischen Republik wurde die Strahlkraft der eigenen Union gefeiert.

Die Union sei im mexikanischen Krieg selbst dem schlechten Beispiel der europäischen Monarchien gefolgt und hätte in ihrem Verlangen nach zusätzlichem Land das Recht außer Acht gelassen, schrieb hingegen Ulysses Grant in seinen Memoiren. Der zweifache US-amerikanische Präsident und Held des amerikanischen Bürgerkriegs hatte als junger Leutnant im 3. Infanterieregiment unter General Taylor am mexikanischen Krieg teilgenommen. In seinen Memoiren bezeichnet er diesen Krieg als einen der ungerechtesten, der je von einer stärkeren Nation gegen eine schwächere geführt worden sei. »Auch wenn die Annektierung an sich gerechtfertigt gewesen sein sollte, die Art und Weise, wie sie geschah, war es nicht.« Mit der Kriegserklärung an Mexiko, die mit der Annexion von Texas begann, hätte zugleich auch der unvermeidliche Konflikt der Südstaaten-Rebellion seinen Anfang genommen. »Wie Individuen werden auch Nationen für Verstöße bestraft«, schrieb Grant. »Wir erhielten unsere Strafe in Gestalt des blutigsten und teuersten Kriegs der Moderne.«37

Mit der Annektierung der neu hinzugekommenen Gebiete nämlich flammte 1848 die Sklavenfrage im Kongress wieder auf. Um ein Gleichgewicht zwischen freien Staaten und Sklavenstaaten herzustellen, waren 1820 Sklavenhaltung und Aufnahme von neuen Staaten im sogenannten Kompromiss von Missouri geregelt worden: Nördlich der Kompromisslinie wurde (mit Ausnahme Missouris) die Sklaverei verboten, südlich dieser Linie erlaubt. Durch die neu hinzugewonnenen Gebiete verschob sich 1848 dieses Gleichgewicht zugunsten der Sklavenstaaten im Süden. Deshalb wurde 1850 wieder nach einem Kompromiss gesucht. Jetzt fand man ihn in folgender Lösung: Kalifornien trat, obwohl südlich der Kompromisslinie gelegen, den freien Staaten bei. Der Sklavenstaat Texas verzichtete gegen eine Entschädigung auf sein Gebiet westlich des Rio Grande, das dem New-Mexico-Territorium zufiel, welches für Sklaverei offen gehalten wurde – wie das aus der gleichen mexikanischen Provinzmasse Sonora gebildete Utah-Territorium. Sobald beide Territorien mehr als 60.000 Einwohner hätten und eigene Verfassungen ausarbeiteten, sollten die Bürger entscheiden, ob ihr neuer Staat den freien oder den Sklavenstaaten in der Union beitrat. Aus Sicht der Südstaaten hatte sich der Krieg mit Mexiko nicht gelohnt, da er zu einer verhältnismäßig geringen Ausdehnung von Sklavenstaaten geführt hatte. Somit verabschiedeten sich die Südstaaten-Sklavenhalter von der Idee, dass sich ihre Interessen durch Expansion durchsetzen ließen. Sie begannen stattdessen, die Möglichkeiten einer Sezession auszuloten. »Mexico will poison us« – der Satz des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson war auf die Sklavenfrage gemünzt. Emerson prophezeite, die Vereinigten Staaten würden zwar Mexiko erobern, dabei aber einem Mann ähneln, der durch das Arsen, das er schluckte, umkam.38

»Mexikaner sind nicht besser als Indianer«, meldete sich im Senat der Texaner Sam Houston zu Wort.39 »Mexikaner sind Indianer«, schrieb auch die New York Evening Post. »Der Anteil europäischen Blutes – welches auch immer es ist – wurde ihnen nicht nur auf höchst illegitime Art und Weise beigemischt, sondern auch, wie wir sehen, nicht in solchem Maße, dass es den Charakter der Bevölkerung beeinflusst hätte.«40 Der missionarische Erneuerungsgedanke der manifest destiny hatte sich im Verlauf des Krieges von der Vorstellung gelöst, dass er auf das mexikanische Volk anwendbar sei.41 »Mexiko besitzt nicht die Fähigkeit, unabhängig zu existieren. Es hat dies nie versucht. Es wird ihm auch nie gelingen, unabhängig neben uns zu existieren. Das ist von der Vorsehung so bestimmt und es wäre eine Torheit, diese Tatsache nicht zu akzeptieren. Mexikaner sind indianische Ureinwohner und müssen das Schicksal ihrer Rasse teilen.«42 Nach Sklaven und Indianern wurden nun auch die in den annektierten Territorien lebenden Mexikaner an den gesellschaftlichen Rand gedrängt.

Das war politisch durchaus beabsichtigt, wie sich im Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo 1848 gezeigt hatte. Im Vertragsprotokoll waren den Mexikanern noch die vollen Bürger- und Eigentumsrechte zugesagt worden. Nachdem der Vertrag den Senat passiert hatte, war der entsprechende Passus gestrichen. Wenn nicht einmal freie Angloafrikaner Bürgerrechte besaßen, warum sie Mexikanern geben? Die Eintragung des mexikanischen Grundbesitzes hing nun von einem Verfahren ab, bei dem die Mexikaner weder die Regeln noch die Sprache beherrschten.43 Es waren vor allem ärmere Mexikaner, die den USA den Rücken kehrten, weil sie angesichts ihrer unsicheren Rechtslage Enteignungen befürchten mussten – oder sogar Sklaverei, wie sie in den neu annektierten Gebieten von den Südstaaten zu diesem Zeitpunkt auch für Mexikaner in Erwägung gezogen wurde. So empfahl unter anderem der aus einer Südstaaten-Sklavenhalter-Familie stammende William A. Emory, Leiter der US-amerikanischen Grenzziehungskommission, der amerikanischen Regierung die gemischtgeschlechtliche Einführung der weißen Rasse auf dem annektierten Territorium, weil sich dadurch die Einhaltung der Moral garantieren und die unterlegene mexikanische Rasse versklaven oder gleich ganz auslöschen ließe.44

Landraub und Gadsden-Kauf

Auf den annektierten Territorien wurden ehemals mexikanische zügig in typisch amerikanische Städte ummodelliert.45 Denn durch die neuen Grundrisse und amerikanischen Maßeinheiten hatten mexikanische Grund- und Bodenbesitzer Schwierigkeiten, die Größe ihrer Grundstücke nachzuweisen. In ganz New Mexico zum Beispiel erhielten nur sechs Prozent aller mexikanischen Antragssteller die Grundbucheinträge notariell bestätigt. Der Großteil des Landes fiel dem Staat zu, der es an Privatpersonen und Kooperativen verkaufte. Russell Bartlett, der Leiter der US-amerikanischen Grenzziehungskommission, der aufgrund seiner Mexiko-freundlichen Haltung 1853 durch William A. Emory ersetzt wurde, wies 1854 darauf hin, dass Landplünderungen gängige Praxis waren. Besonders beliebt sei die Enteignung mexikanischen Landbesitzes mithilfe sogenannter Texas head-rights: vom Staat Texas ausgestellte Landzertifikate an Personen, die sich um Texas verdient gemacht hätten; also praktisch jeder, der am Krieg teilgenommen hatte. Solche Head-rights wurden in Texas relativ umstandslos ausgestellt und waren begehrt. Denn wer so ein Zertifikat besaß, konnte sich überall – auch außerhalb von Texas – ein Stück Land aussuchen, sofern nicht schon jemand einen Anspruch darauf angemeldet hatte. Und immer hätten sich die Head-rights-Besitzer ein Stück Land ausgesucht, das seit einem Jahrhundert im Besitz von Nachkommen spanischer Siedler war, so Bartlett in seinem Bericht. Und er fuhr fort: »Letztere haben, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden und manchmal auch, weil sie um ihr Leben fürchteten, ihre Häuser verlassen und auf der mexikanischen Seite des Flusses Schutz gesucht.«46

In Kalifornien ›löste‹ die Regierung das Landproblem durch die Verabschiedung des Land Act, der einer De-Facto-Enteignung von mexikanischstämmigen Landbesitzern gleichkam. An die tausend rancheros verloren durch das 1851 verabschiedete Gesetz ihr Land.47 Mexikanischen Minenbesitzern wurden Steuern auferlegt, so dass sie nicht mehr konkurrenzfähig waren. 1848 war noch vor Unterzeichnung des Guadalupe-Hidalgo-Vertrags Gold entdeckt worden. Die Funde zogen allein in den ersten drei Jahren 210.000 neue Siedler an, die die alten Besitzer von ihrem Land zu verdrängen begannen. Die mussten sich die Rechtmäßigkeit ihrer Titel vom Landkommissionsgericht bestätigen lassen. Wurde gegen eine erfolgreiche Bestätigung Widerspruch eingelegt, wanderte der Fall an das Bezirksgericht weiter. Meistens wurde erst in der letzten Instanz, im Supreme Court, über jeden Einzelfall ein rechtskräftiges Urteil gefällt. Denn die Siedler, die während des Goldrausches nach Kalifornien strömten, hatten schnell begriffen, was sie tun mussten, um billig an Land zu kommen. Sie besetzten es und klagten dann jahrelang gegen die eigentlichen Eigentümer, die irgendwann resigniert aufgeben mussten, weil die Prozesskosten zu hoch waren.48 Sie hatten keine Chance, ihre Besitzansprüche gegen die in das Land einfallenden Goldsucher, Glücksritter und Siedler durchzusetzen. Deshalb flogen Banditen, die angelsächsische Siedler überfielen, ihre Farmen ausraubten und Pferde sowie Rinder stahlen, die Sympathien der mexikanischstämmigen Bevölkerung zu. In ihren Augen leisteten sie die einzig mögliche Form von Widerstand. Sie holten sich zurück, was ihnen geraubt worden war. Doch waren die mit Legenden ausgeschmückten Biographien einer Handvoll Männer weder exemplarisch für das weitere Schicksal der mexikanischstämmigen Bevölkerung, noch hatte ihr Sozialbanditentum eine Verbesserung der allgemeinen Situation zur Folge, die durch Diskriminierung, Rassismus und Ausbeutung gezeichnet blieb.

 

Die Tinte des ratifizierten Vertrags war noch nicht trocken, als die mexikanische Regierung eine Repatriierungskampagne startete. Ihr war gedämmert, dass inzwischen die Existenz des nationalstaatlichen Projekts insgesamt auf dem Spiel stand, das von Anfang an auf tönernen Füßen ruhte: Die Monarchie, zu Beginn der Unabhängigkeitsära installiert, war nach zwei Jahren gescheitert. Die Verfassung von 1824, die ein System föderaler Staaten vorsah, wurde 1833 durch Santa Annas zentralistische Variante ersetzt, was in einigen Provinzen die Abspaltungstendenzen verstärkte. Zeitweise sagte sich Yucatán los, 1836 erklärte sich Texas für unabhängig. Ständige Unruhen und lokale Aufstände, insbesondere in den nördlichen Landesprovinzen, führten zu einer Art nationaler Dauerkrise. Mexikos Kampf um Unabhängigkeit hatte in der Nacht vom 15. auf den 16. September 1810 mit Hidalgos Grito de Independencia begonnen, dem Aufruf zur Unabhängigkeit. Genau 37 Jahre später, nämlich am 15. September 1847, hatten die Vereinigten Staaten die mexikanische Hauptstadt eingenommen. Zwar bezeichnete der mexikanische Historiker Justo Sierra im geschichtlichen Rückblick den mit der Kriegsniederlage verbundenen Landverlust als »absolute Demütigung«. Aber die Ansicht, es hätte damals um keinen Preis Land abgetreten werden dürfen, hielt er angesichts der Tatsache, dass Mexiko besetzt und besiegt war, für absurd. So könne nur reden, schrieb er, wer die damaligen anarchistischen Zustände ignoriere und die klaren Abspaltungsbestrebungen verdränge, die einige mexikanische Staaten verfolgten, und wer vergesse, wie schnell große Teile der Gesellschaft die nordamerikanische Vorherrschaft akzeptierten, weil sie des Chaos und der Zerstörung müde waren.49 Wenn Mexiko nach nur 25 Jahren Unabhängigkeit einen großen Krieg verloren habe, dann auch deshalb, weil die Mexikaner nicht fähig gewesen seien, Mexiko durch ein politisches System zu einen.50 Für Sierra war klar: »Wir haben uns von dem getrennt, was bereits verloren war: Kalifornien, Neu-Mexiko, Texas und dem jenseits des Rio Bravo gelegenen Teil von Tamaulipas. Der Vertrag ist schmerzlich, aber nicht schmählich.«51 Daraus, dass ein Teil des mexikanischen Territoriums verloren ging, zog Sierra den Schluss, dies sei nötig gewesen, um den Rest zu retten. Die Herausbildung einer nationalen Identität galt nun als Gebot der Stunde, und die Politik fing dort damit an, wo die Gefahr ihres Verlusts am größten war: in der Grenzregion.52 So wurden für den Bau repräsentativer Grenzstädte bestimmte Kriterien vorgegeben. Alles Englische wurde aus ihnen verbannt; Straßen erhielten ausschließlich spanische Namen. Und am Hauptplatz musste eine Kirche stehen, die den Katholizismus repräsentierte.

Die repatriierten Mexikaner bildeten in den neu gebauten mexikanischen Grenzstädten ein Viertel der Bevölkerung. Von den 54.000 Mexikanern zum Beispiel, die 1850 in New Mexico lebten, kehrten drei- bis fünftausend nach Mexiko zurück. So ist auch die Entstehung von Mesilla bei Las Cruces im heutigen New Mexico auf die Initiative einer Gruppe von Bürgern aus dem nah der mexikanischen Grenze gelegenen Doña Ana zurückzuführen. Sie hatten 1849 in der benachbarten mexikanischen Provinz Chihuahua ihre mexikanische Staatsbürgerschaft neu beantragt und sich auf der mexikanischen Seite der Grenze, wenige Kilometer von Las Cruces entfernt, niedergelassen. Schon ein Jahr später hatte der Ort zweitausend mexikanische Einwohner. In Mesillas unmittelbarer Umgebung entstanden noch weitere Siedlungen, die sich mit mexikanischen Heimkehrern füllten.53 William Carr Lane, Gouverneur von New Mexico, sah durch die von der mexikanischen Regierung geförderte Grenzbesiedelung die Sicherheit amerikanischer Bürger gefährdet.54 Er behauptete, Mesilla sei in Wahrheit schon vor langer Zeit von amerikanischen Händlern gegründet worden, die Mexikaner hätten sich die Geschichte von der Neugründung nur ausgedacht, und er drohte, Mesilla besetzen zu lassen, wenn es nicht an die USA ›zurückgegeben‹ werde. Erledigt wurde das Problem mit dem sogenannten Gadsden-Kauf.

Nach dem Ende des amerikanisch-mexikanischen Krieges hatte man die Probleme mit der Grenzziehung einer binational zusammengesetzten Kommission anvertraut. John Russell Bartlett, damaliger Leiter der US-amerikanischen Kommission, und sein mexikanischer Kollege Pedro Garcia Conde fanden denn auch für den Grenzverlauf auf dem Abschnitt zwischen Las Cruces und El Paso tatsächlich einen Kompromiss. Nötig geworden war er, weil aus dem Friedensvertrag nicht klar hervorging, wo die Grenzlinie in der Höhe von El Paso in westlicher Richtung weiter verlaufen sollte. Der Kompromiss bestand darin, die Grenzlinie 42 Meilen nördlich El Pasos vom Westufer des Rio Grande abgehen zu lassen.55 Dass damit das landwirtschaftlich fruchtbare, aber mineralienarme Mesilla-Tal, das südlich der 42-Meilen-Grenze lag, mexikanisch blieb, war für Bartlett kein großer Verlust, da die USA dafür die Bergregionen im Südwesten New Mexicos gewannen, die reich an Gold- und Kupfer-Vorkommen waren.56

Das Innenministerium zeigte sich mit der Lösung zunächst einverstanden. Erst als 1853 der texanische Vermessungsingenieur aus Bartletts Team den Kompromiss vor dem US-Kongress als Katastrophe für die Vereinigten Staaten anprangerte, der Süden sei damit seiner wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt worden, weil der Bau einer transkontinentalen Eisenbahnstrecke nicht mehr durch das Mesilla-Tal möglich war, kam es zum Eklat. Für die Südstaaten-Abgeordneten war der Kompromiss ein Täuschungsmanöver des mexikanischen Kommissionsleiters, auf den Bartlett hereingefallen wäre. Dieser musste die Leitung der Grenzziehungskommission an William A. Emory abgeben. Während aber der von der Ostküste stammende Bartlett ein gebildeter Mann der Wissenschaften war, der die Grenzziehungsarbeiten durch wissenschaftliche Begleitstudien ergänzt hatte, war der aus den Südstaaten stammende Emory ein kompromissloser Anhänger des amerikanischen Expansionismus.

Die Regierung in Washington verabschiedete sich nun wieder von der Idee, Grenzfragen gemeinsam mit Mexiko auf dem Verhandlungsweg zu klären, und entschied sich stattdessen erneut für die expansionistische Variante der Dollar-Diplomatie. Noch im gleichen Jahr wurden durch den Gadsden-Kauf 30.000 Quadratmeilen zusätzliches Land von Mexiko erworben. Die Transaktion wurde nach James Gadsden benannt, der, bevor er Botschafter in Mexiko-Stadt wurde, Präsident der South Carolina Railroad war, jener Gesellschaft, die die transkontinentale Eisenbahnstrecke vom Golf von Mexiko zum Pazifik bauen wollte. Nachdem der Eisenbahnlobbyist der mexikanischen Regierung den nächsten Grenzkrieg vor Augen geführt hatte, erklärte die sich zur Abtretung des geforderten Gebiets bereit, für das Mexiko im Gegenzug von den USA 10 Millionen Dollar erhielt. Durch den Gadsden-Kauf verschob sich die Grenzlinie noch einmal so weit in den Süden, dass sich das eben noch mexikanische Mesilla nun über sechzig Kilometer tief im Landesinneren der Vereinigten Staaten wiederfand.

Mit der Niederlage 1848 begannen für die in den Vereinigten Staaten ansässige mexikanischstämmige Bevölkerung Jahrzehnte schlimmster Diskriminierung. Eine kleine, weiße, mexikanische Elite tat sich mit der Anpassung leichter, aber dunkelhäutigere mexikanischstämmige Amerikaner mit indianischen Gesichtszügen wurden von nun an immer wieder daran erinnert, dass sie anders waren.57 Und sie hatten mit ihrem Grund und Boden auch jeglichen politischen Einfluss verloren. Südkalifornien war eine Ausnahme. Hier besaßen die mexikanischstämmigen Amerikaner zahlenmäßig bis 1880 gegenüber den Angelsachsen noch Gewicht. Los Angeles hatte in den 1850er Jahren in Antonio Coronel sogar einen mexikanischstämmigen Bürgermeister. Auch in Santa Barbara behielten die mexamericans ihren Einfluss. Mit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters aber kehrten sich schließlich auch hier die demographischen Verhältnisse um. Seit 1876 war Los Angeles durch eine Bahnstrecke mit dem Osten der Vereinigten Staaten verbunden, ab 1887 auch San Diego, was in beiden Städten zu einer Zuwanderung von yanquis in bisher nicht gekanntem Ausmaß führte. Ab 1890 spielten mexamericans in Politik und Gesellschaft keine Rolle mehr.58


II.
Corridos, Mythen, Pferde Kulturgeschichtliches Kompendium

Wenn die Wahrheit über die Legende herauskommt, drucken wir trotzdem die Legende.

(»Der Mann, der Liberty Valance erschoss«)

»Remember the Alamo!«

»Der große Unterschied zwischen Texas und allen anderen amerikanischen Staaten besteht darin, dass Texas eine Geschichte hat«, schreibt T. R. Fehrenbach 1968 in Lone Star: A History of Texas and the Texans. Der Satz wird in Texas so häufig zitiert wie John Steinbecks Bonmot, demzufolge Texas eine eigene Geschichte hätte, die auf Fakten beruhe, von denen es sich aber nicht beirren lasse.59 Bei Fehrenbach heißt es: »Die Geschichte der Rangers, Cattle Drives, Indianer und der vielen Schießereien mag Mythologie sein, aber zumindest ist sie unsere Mythologie.« Auf über 700 Seiten erzählt er Texas’ Geschichte aus der Perspektive der weißen anglo-europäischen frontiermen – so gut, dass die Texaner gar nichts anderes mehr lesen wollten. Dass sie so begeistert von den Erzählungen waren, die sie über ihre Vergangenheit zu hören bekamen, erklärte Fehrenbach damit, dass die Texaner von allen US-amerikanischen Staaten der Idee eines Volkes am nächsten kämen. Während überall in den USA Landeskunde an den öffentlichen Schulen nur ein Jahr unterrichtet wird, sieht der texanische Lehrplan dafür zwei Jahre vor. Doch noch in den 1990er Jahren wurden die mexikanischstämmigen Schüler mit einer Texas-Saga konfrontiert, in der die eigenen Vorfahren die Bösen verkörperten. Die Rolle der Guten war den Helden von Alamo vorbehalten: den Männern um Davy Crockett, James Bowie und William Travis, die sich in der Schlacht um das Fort von Alamo dreizehn Tage lang der Belagerung durch die überlegenen mexikanischen Truppen unter dem oberkommandierenden Präsidenten Santa Anna widersetzten und ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten. Letztlich war es die verlorene Schlacht von Alamo, die zu Texas’ Unabhängigkeitserklärung führte.

Jede Generation müsse die Geschichte überarbeiten, vor allem, wenn es sich um ein so großes Ereignis wie die texanische Rebellion handle. Das sagt der US-amerikanische Historiker David J. Weber, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die gängige Interpretation der amerikanisch-mexikanischen Beziehung maßgeblich überarbeitet hat.60 1982 erschien The Mexican Frontier, 1821–1846, das den Zeitraum zwischen 1821, dem Jahr der mexikanischen Unabhängigkeit, und 1846 behandelt, dem Jahr, in dem es zum mexikanisch-amerikanischen Krieg kam. Seither ist die Berücksichtigung der mexikanischen Perspektive wissenschaftlicher Standard. Auch populärwissenschaftliche Bücher kommen inzwischen nicht mehr umhin, zu erwähnen, dass in der Schlacht von Alamo Mexikaner an der Seite der anglo-europäischen Rebellen kämpften. Doch ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel setzte erst in den 1990er Jahren ein, obwohl schon im Texas des Mid-Century Wirklichkeit und Mythen so weit auseinanderklafften, dass nur noch Traditionalisten glaubten, irgendwo in Texas könnte noch das Erbe des Old West überlebt haben; die »Vereinigung der Söhne und Töchter der Republik Texas« zum Beispiel, die 1903 mit der Absicht gegründet worden waren, das angloamerikanische Erbe Alamos zu bewahren, das für sie Sinnbild für die Singularität des texanischen Staates war. »Die Truppen der anderen Bundesstaaten müssen den Ruhm erst noch gewinnen, den die Söhne der Verteidiger von Alamo nur zu bewahren brauchen.« Mit solchen Sätzen wuchsen in Texas Generationen von Schülern auf. Erst Ende der 1990er Jahre wurden die Schulbücher im Fach Landesgeschichte endlich den gesellschaftlichen Realitäten angepasst. Jetzt wurde die Re-Interpretation von geschichtlichen Ereignissen aus einer Perspektive vorgenommen, die im 21. Jahrhundert verankert war. Schließlich stellte die mexikanisch-amerikanische Bevölkerung in Südtexas längst die Mehrheit. Der 2013 verstorbene Fehrenbach beharrte allerdings bis zum Schluss darauf, dass die texanische Gemeinschaft aus der Entmythologisierung ihrer Geschichte keinen Nutzen zöge. Und er widersprach dem Mythos, dass in Texas das Spanische nie verstummt sei, die Mexikaner nie weggewesen wären und das Land eigentlich ihnen gehöre.61 Schon 1850 sei der Anteil der deutschen Einwanderer in Texas höher als der der dort lebenden Mexikaner gewesen. 1860 – ein Jahr vor dem amerikanischen Bürgerkrieg – hätten nur noch 12.000 Mexikaner in Texas gelebt. Und während des Bürgerkriegs hätte es für die Mexikaner keinen Grund gegeben, nach Texas zu ziehen. Aber mehr als einen, Texas zu verlassen.62

 

Doch was Fehrenbach als Mythos bezeichnete, war aus mexikanischer Sicht Realität. In seinem Erzählband La Frontera de Cristal sinniert auch Carlos Fuentes darüber, dass Mexiko längst dabei sei, sich das Territorium mit urmexikanischen Waffen zurückzuerobern: sprachlich, rassisch, kulinarisch.63