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Pancho Villas Revanche

Mexiko pflegt seine eigenen Mythen, was das historische Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden betrifft. In vielen davon taucht Francisco Villa auf, besser bekannt als Pancho Villa, dem neben Emiliano Zapata berühmtesten Protagonisten der Mexikanischen Revolution. Als Mexikanische Revolution wird die Umbruchsphase der mexikanischen Politik und Gesellschaft zwischen 1910 und 1920 bezeichnet, die mit dem Sturz des diktatorisch regierenden Langzeitpräsidenten Porfirio Diaz begann und mit der Herausbildung einer neuen – aus den Reihen der verschiedenen Revolutionsbewegungen hervorgegangenen – politischen Führungsschicht endete. Wenngleich der Blick auf das, was an der Grenze passierte, nur einen Ausschnitt des politischen Umwälzungsprozesses in Mexiko zeigt, ist die Bedeutung der Grenzregion für die Revolution nicht zu unterschätzen. Mit Ausnahme Emiliano Zapatas stammten alle wichtigen Revolutionäre aus dem Norden.64 Bereits im Vorfeld der Revolution wurde die US-amerikanische Grenzstadt El Paso zum Rückzugsort und Treffpunkt mexikanischer Oppositioneller und aufständischer Rebellen. Außerdem begannen die Kämpfe in den Grenzregionen. Denn wer sich in den Grenzstädten behauptete, kontrollierte die Zolleinnahmen und den Waffennachschub.

Die Schlacht von Juárez im Mai 1911, die der Revolutionsgeneral Pancho Villa (siehe S. 46) für sich entschied, markierte das Ende des ersten großen Abschnitts dieser Revolution: Porfirio Diaz musste zurücktreten und ging ins Exil. Seine Niederlage war Pancho Villas Triumph. Der General der mexikanischen Revolutionsarmee wurde in den folgenden Jahren Oberkommandierender der División del Norte, in der sich die Rebellentruppen der nördlichen Provinzen zu einer 6000 bis 8000 Mann umfassenden Armee vereinten. Und eine Zeitlang sah es sogar so aus, als sei er derjenige, auf den die USA als kommenden Mann in Mexiko setzten.

Doch dann erkannte Präsident Woodrow Wilson nach der Ermordung von Francisco Madero im Oktober 1915 Venustiano Carranza als neuen Präsidenten Mexikos an. Pancho Villa fühlte sich fallengelassen. Um sich an den USA zu rächen, überfiel er im März 1916 mit 480 Mann das US-amerikanische Garnisonsstädtchen Columbus in New Mexico. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Fünf Tage nach dem Überfall marschierte General John Pershing mit 4800 Soldaten in Mexiko ein. Die Truppenstärke wuchs in der Folgezeit auf 10.000 Mann an. Es kam zu mehreren bewaffneten Zusammenstößen mit dem mexikanischen Heer, die Mexiko und die USA an den Rand eines Krieges führten. Elf Monate dauerte die Strafexpedition. Erst im Februar 1917, unmittelbar vor dem Eingreifen der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg, zogen sich die Truppen wieder auf die andere Seite der Grenze zurück, ohne Pancho Villa erwischt zu haben. Mit dem selbstmörderischen Angriff auf die US-Garnison in Columbus hatte Villa den großen Nachbarn herausgefordert. Dass es Pershing nicht gelungen war, ihn trotz eines Großaufgebots an Soldaten zu fassen, machte Pancho Villa, der 1923 durch ein Attentat ums Leben kam, in den Augen seiner Landsleute unsterblich.

Die Einnahme von Ciudad Juárez durch Pancho Villas revolutionäre Truppen ist bestens dokumentiert. In den Zeitungen von El Paso, auf der anderen Seite des Rio Grande, erschienen damals Anzeigen zum Verkauf von Ferngläsern. Während am südlichen Ufer des Rio Bravo gekämpft und geschossen wurde, sahen auch die nach El Paso geflohenen Bürger von Ciudad Juárez dem Treiben aus sicherem Abstand zu. Bevorzugt auf einem der für 25 Cent verkauften Logenplätze auf den Dachterrassen der grenznahen Häuser. Zusätzlich wurde Limonade serviert.

Die Schlachten von Juárez wurden aber auch von Fotografen geschlagen, und sie machten das Geschäft ihres Lebens, verdienten an Fotos von echten Kampfszenen, toten Aufständischen und Exekutionen, die sie als Postkarten vertrieben. Die Aufnahme einer Dreifach-Hinrichtung war als Postkartenmotiv besonders beliebt. In Fort Bliss stationierte US-amerikanische Soldaten schickten sie noch Jahre nach den Ereignissen ihren an der Ostküste lebenden Angehörigen. Darunter war auch das berühmte Bild von Fortino Samano, aufgenommen kurz vor seiner Exekution, als er, den Tod vor Augen, noch lässig eine Zigarre zu rauchen schien. Der Tod wurde in Juárez zum ultimativen Spektakel, in dem diejenigen, die gleich sterben sollten, zu ihrer großen Rolle fanden, und es war, so D. A. Romo in seiner Illustrierten Kulturgeschichte der Revolution, in Juárez und El Paso durchaus nicht unüblich, dass die zum Tod durch ein Erschießungskommando Verurteilten aus ihrem Tod eine Show machten, als ob das Sterben selbst Kunst geworden wäre. Das von US-amerikanischen Kameraleuten an der Front abgedrehte Filmmaterial wurde in New Yorker Theatersälen gezeigt und als Footagematerial in Stummfilmen verwendet. Pancho Villa unterschrieb mit der in New York ansässigen Mutual Film Company sogar einen Exklusiv-Vertrag, der ausschließlich den Mutual-Kameraleuten den Dreh von Kampfhandlungen erlaubte, in die seine Truppen involviert waren. Der Filmkompanie wurde sogar ein spezieller Zug mit einer Dunkelkammer zur Verfügung gestellt. Die Mutual Film verpflichtete Pancho Villa zum Tragen einer speziell angefertigten Uniform. Seine übliche Kluft schien nicht der Vorstellung zu entsprechen, die nordamerikanische Lichtspielhaus-Besucher von mexikanischen Revolutionsgenerälen hatten. Wie schon im mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1847, als New Yorker Fotografen Daguerreotypien von Landschaften des eroberten mexikanischen Territoriums erstellten, bevorzugte das US-amerikanische Publikum noch im Revolutionsjahr 1911 Bilder und Szenen, die es mit Old Mexico des Jahres 1847/48 in Verbindung bringen konnte: Bilder von Revolutionären mit übergroßen Hüten, von Lehmhütten und von Flüchtlingen, die durch den Rio Bravo wateten. Fotos, die nicht die gängigen Vorstellungen bedienten, wanderten in die Archive.

Das verdrängte mexikanische Erbe

In seinem zu einem kulturgeschichtlichen Standardwerk gewordenen With His Pistol in His Hand, weist der 1915 in Brownsville geborene Kulturwissenschaftler Américo Paredes nach, dass die südtexanischen Gemeinschaften kulturell in den volkstümlichen Gemeinschaften des mittelalterlichen Spanien wurzeln, in denen Bürger, Ritter und Bauern in durchaus patriarchalisch strukturierten, zugleich aber auch egalitär-demokratischen Gemeinschaften miteinander lebten.65 In den Clan- und Familienstrukturen der autarken Pferdehalter-Gemeinschaften des Valleys schimmerte noch deren eigentümlicher Geist durch. Die Bindungen zwischen peon und ranchero waren eng, da der Besitzer der Viehherden nicht fern von seiner Ranch in der Stadt residierte. Zwar hatte in den rancherías und haciendas jeder seinen Platz und alles seine Ordnung – aber nicht für die Ewigkeit. Die Gemeinschaften waren sozial durchlässig, wenngleich für den Aufstieg mindestens drei Generationen nötig waren. Spürte der Rancher, dass er ihm seine Herden anvertrauen konnte, stieg ein peon, selbst wenn er von außerhalb kam und indianischer Abstammung war, zu einem vaquero auf. Aus einem Mann, der zu Fuß unterwegs war – denn genau das bedeutet peon –, wurde ein Mitglied der Pferdehalter-Gesellschaft. Der Sohn dieses Mannes wiederum würde sein Leben schon im Sattel beginnen. Da die nach außen abgeschotteten Clan-Strukturen in ihrem Inneren auf gegenseitiger Loyalität beruhten, konnte es ein vaquero in der zweiten Generation sogar zum Besitz eines Fleckens Weideland schaffen, sofern schon sein Vater im Dienste des Ranchers gestanden hatte. Doch erst sein eigener Sohn würde die sozialen Bedingungen erfüllen, die ihn ermächtigten, in einen Zweig der großen Familie des alten Arbeitgebers einzuheiraten.66

Diese Muster aus prätexanischer Zeit, als das Land am ›mexikanischen Meerbusen‹ noch tief spanisch war, wirkten sogar in den texanischen Großfarmen des 20. Jahrhunderts weiter. Das hat Edna Ferber in ihrem Roman Giant gezeigt, dessen Verfilmung mit James Dean in der Rolle des Farmarbeiters Jett Rink in Europa bekannter als der Roman selbst wurde. Bevor Jett Rink auf seinem Stück Land die Ölquellen zum Sprudeln bringt, ist er, wie vor ihm schon sein Vater, Arbeiter auf der Farm der Familie Benedict, die ihn mit jenem Stück Land bedenkt, das ihn reich machen wird. Dass der einstige peon wirtschaftlich seinen früheren Arbeitgeber überflügelt und ihm ziemlich rowdyhaft seine Virilität demonstriert, muss schon zu früheren Zeiten in den Viehhalter-Gemeinden des Rio-Grande-Tals vorgekommen sein. Américo Paredes erwähnt, aus dem 19. Jahrhundert, die Anekdote eines peons namens Juan, der ein ähnlicher Emporkömmling wie Jett Rink war. Sein einstiger Arbeitgeber hätte sich geschworen, nie wieder jemanden einzustellen, der so geht wie Juan – woraus in der Grenzregion ein geflügeltes Wort wurde.67 Am Gang nämlich ließ sich der geborene vaquero erkennen. In Edna Ferbers Roman fällt der Satz, dass etlichen Texanern das Reiten leichter als das Gehen fiele. Auch die äußere Erscheinung des Ranchers Bick Benedict zeichnete Ferber nach dem Vorbild mexikanischer Reiter, denen dieses Land – wie sie schrieb – »vor hundert und etlichen Jahren« gehört hätte.68 Schon damit mutete die Autorin ihren texanischen Lesern eine unbequeme Wahrheit zu. Aber sie tat noch mehr: Sie thematisierte auch den offenen Rassismus in der texanischen Geschichte, weshalb das Buch in Texas hitzige Debatten auslöste. Die Cowboy-Kultur galt im Texas des Mid-Century als etwas authentisch Texanisches – also: ›Weißes‹. Geschichtsbewusste Texaner ließen sich nur langsam davon überzeugen, dass Jahrzehnte, bevor 1866 die großen Viehtriebe einsetzten, mexikanische vaqueros schon die Ausrüstung, die Techniken und selbst einen großen Teil des Vokabulars entwickelt hatten, die später zum Markenzeichen des amerikanischen Cowboys wurden.69 Sogar die gigantischen Mustang-Herden, deren Domestizierung den Mythos des Bronco Busters, des furchtlosen Zureiters, begründete, ließen sich auf Pferde aus Spanien zurückführen – neben spanischen Züchtungen vor allem Berber und Araber. Die Entdeckungsgeschichte des Kontinents fand auf dem Rücken von Pferden statt. Jahrhundertelang wurden sie zur Überwindung der riesigen Distanzen eingesetzt. Obwohl nur ein kleiner Teil den Weg in die Freiheit fand, entstanden im Laufe der Zeit daraus riesige Wildpferdherden, die die Prärie erbeben ließen. Ulysses Grant war 1846, auf halbem Wege zwischen Brownsville und Corpus Christi, einer solchen Herde begegnet. »Das weite Land war eine rollende Prärie«, erinnerte sich Grant in seinen Memoiren. »Man sah weder den Anfang noch das Ende. Soweit das Auge reichte, Pferde. Ich habe keine Ahnung, ob die Größe Rhode Islands ausgereicht hätte, um die Tiere einzupferchen. Ganz Delaware wäre an einem einzigen Tag abgegrast worden.«70

 

Hundert Jahre später reitet der junge John Grady – eine der Hauptfiguren in Cormac McCarthys Roman All the Pretty Horses – durch die Landschaft, die Ulysses Grant in seinen Memoiren beschrieb. Aber nun war die Vorstellung, die Plains seien ein wogendes Meer aus Wildpferden, nur noch ein Traum aus vergangener Zeit. Wenn in der Prärie der Nordwind weht, hört John Grady nur die Hufe von Geisterpferden, im Gestrüpp findet der Jugendliche einen verblichenen Pferdeschädel. Die letzten verbliebenen llanos mesteños, die Ebenen, die die Heimat der Wildpferde waren, liegen auf der anderen Seite des Rio Grande in Mexiko. Cormac McCarthy hat in seinem Roman den alten frontier-Gedanken aufleben lassen: Drei Jungen brechen in Texas auf ihren Pferden Richtung Mexiko auf. Einer findet den Tod, einer verliebt sich unglücklich, nur einer kehrt unbeschadet in sein altes Leben zurück. McCarthy schrieb den Roman um 1990. Gerade war der Eiserne Vorhang gefallen und in den USA die eigene Grenze im Süden wieder ins Visier gerückt. All the Pretty Horses spielt 1949. Die USA machten Jagd auf Kommunisten und zugleich kamen im Rahmen des 1942 angelaufenen Bracero-Programms zum ersten Mal 200.000 mexikanische Vertragsarbeiter in die Vereinigten Staaten. Die Gegend, der John Grady und seine zwei Begleiter entgegenreiten, liegt zwar nicht weit von der Grenze zu den Vereinigten Staaten entfernt, doch in Kilometer zu messende Distanzen sind hier kein Maßstab für nah oder fern. Coahuila, die Grenzprovinz, ist von der Wirklichkeit auf der anderen Seite des Flusses so unendlich weit weg, dass das Land nördlich des Rio Bravo für die mexikanischen vaqueros, mit denen sich John Grady anfreundet, wie ein Gerücht ist, »etwas, wofür es eigentlich keine Erklärung gab.« Die drei Protagonisten bewegen sich in einer Welt, die McCarthy mit Vorstellungen in Verbindung bringt, die das 19. Jahrhundert von der frontier hatte; jener Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, deren besondere Bedingungen prägenden Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft hatten. John Grady erkennt als Jugendlicher bei dem täglichen Ritual abendlicher Ausritte auf der texanischen Ranch seines Großvaters, dass er eine Heimat besitzt, die geistig mit etwas Größerem, wenngleich Vergangenem verbunden ist. Doch nach dem Tod des Großvaters verkauft seine Mutter die Ranch und Grady bricht mit seinen Freunden nach Mexiko auf. Vielleicht hatte er gedacht, dort ließe sich das Größere, Vergangene finden, dessen Erbe sich in Texas nur noch spüren ließ, wenn man ein Stück Land besaß, das dieser vergangenen Zeit entrissen worden war und zugleich ihre Zerstörung besiegelt hatte. Doch McCarthy hat den jungen Protagonisten seines Romans weder einen vorgegebenen Sinn noch Erlösung anzubieten. Einziger Trost – die Schönheit der wilden Pferde, die John Grady in den Ebenen des mexikanischen Nordens für einen mexikanischen haciendado zureitet.

Balladen vom Rand der Gesellschaft

Mehr als fünf Jahrzehnte lang übertrug der südtexanische Schriftsteller Rolando Hinojosa das Valley und seine mexikanisch-amerikanischen Bewohner auf eine literarische Landkarte, die das fiktive Belken County abbildet; Klail City, eine der Ortschaften dort, ähnelt Orten wie dem 75 Meilen östlich von Roma gelegenen Mercedes, wo Hinojosa 1929 geboren wurde. Er versuche einzufangen, was in Vergessenheit zu geraten drohe, erklärt er und meint damit »die Erinnerung daran, wer was ist und woher er kommt.«71 In seinen Geschichten setzt Hinojosa die moderne Welt des Valley als literarische Collage zusammen. Gespräche in der Kneipe, ein alter Streit in der Nachbarschaft, Familiendramen, Todesfälle, Erkrankungen, Gerüchte über einen Mord. Wie schon die historischen Gemeinschaften des Rio-Grande-Tals kümmern sich auch die Bewohner des barrio von Klail City im 20. Jahrhundert hauptsächlich um die eigenen Angelegenheiten. Nur am Rande taucht hin und wieder das weiße Angloamerika auf. Selbst wenn die Grenze nicht explizit erwähnt wird, ist sie doch stets gegenwärtig, sie führt in den Raum archetypischer Bilder und bindet Gegenwärtiges an Vergangenes. Es gibt in Klail City eine Szene, in der einer der Einwohner des Viertels erfährt, dass sein Bruder ermordet wurde. Daraufhin macht er sich auf den Weg, die Mörder zu finden, und muss dafür den Rio Grande überqueren. Wie sich die Leute hinterher im barrio erzählen, hat ihr Nachbar auf seinem Pferd den Rio Bravo überquert und die Mörder seines Bruders mit der Pistole erledigt, während sein Pferd noch vom Flusswasser trieft.72

Mit dieser Szene knüpft Hinojosa an die Geschichten und Legenden über die berühmten Grenzgänger des Valley an, wie den 1824 in Tamaulipas geborenen Juan Cortina. Der Sohn eines mexikanischen Rinderfarmers hatte durch die US-amerikanische Annexion das nördlich des Rio Grande liegende Land seiner Familie verloren. Seine erklärten Intimfeinde wurden Mifflin Kenedy und Richard King, die beiden Großrancher, die sich zwischen 1848 und 1858 das gesamte Land zwischen Nueces River und Rio Grande unter den Nagel gerissen hatten, auch das von Cortinas Familie. Juan Cortina verwandelte sich in den Schrecken ihrer schlaflosen Nächte. Zehn Jahre lang war die King’s Ranch nicht vor seinen Überfällen sicher, die 1859 im sogenannten Cortina-Krieg kulminierten, als sein bewaffneter Haufen auf tausend Mann anwuchs. Obwohl King und Kenedy die Texas Rangers einsetzten, die Jagd auf ihn machten, gelang es ihm stets, rechtzeitig über den Rio Grande auf die mexikanische Seite zu entwischen. Das machte Cortina zur Legende. In einem der für die Grenzregion typischen corridos jener wiederum bis auf spanische Romanzen aus dem späten Mittelalter zurückgehenden Balladen, ähnlich den Bänkelsänger-Liedern im frühneuzeitlichen Europa, wird die von Todesverachtung und Lakonie geprägte Haltung besungen, mit der Cortina gegen das Schicksal aufbegehrte.

Américo Paredes’ Klassiker With His Pistol in His Hand hat eine ähnliche Ballade als Ausgangspunkt, nämlich die über Gregorio Cortez. Auch dieser 1873 geborene Mexikaner wehrte sich so lange gegen ungerechte und rassistische Behandlung, bis er durch ein Missverständnis einen Sheriff tötete, zum Outlaw wurde und erst nach einer spektakulären Verfolgungsjagd 1901 gefasst wurde. El Corrido de Gregorio Cortez, von dem schon kurz nach der Festnahme erste Fassungen kursierten, gilt bis heute als schönes Beispiel für die populären Balladen, die das Produkt einer im Zusammenhang mit kulturellen und sozialen Grenzkonflikten entstandenen Subkultur sind.

Im 19. Jahrhundert wurde in den Balladen meist die Lebenswelt in der Grenzregion geschildert. Seit dem frühen 20. Jahrhundert aber geht es darin immer häufiger um Konflikte mit der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft. Nun wurden die Taten gesellschaftlich geächteter Figuren besungen, und die Sänger kommen selbst vom Rand der Gesellschaft. Corridos besingen keine nationalen Helden, sondern Sozialbanditen und Gesetzesbrecher, die den Vertretern des Rechts moralisch überlegen sind. Der Corrido ist die aus der Geschichte des Grenzkonflikts hervorgegangene mexikanische Meistererzählung, während der Western den amerikanischen Blickwinkel auf Geschichte und Besiedelung der frontier wiedergibt. Da der Western den Wert des Überlebens zur Tugend stilisiert und demzufolge immer auch von Gewalt handelt, bleibt Mexiko in ihm Projektionsfläche für die leyenda negra, die manchen Blick in menschliche Abgründe offenbart.

So begegnen auch Cormac McCarthys jugendliche Helden in All the Pretty Horses auf ihrer Reise durch Mexiko besonders verdorbenen Exemplaren der Spezies Mensch. Der Grausamkeit eines mexikanischen Gendarmen fällt der schwächste und ambivalenteste des Dreigespanns zum Opfer. John Grady besiegt den Gendarmen zwar im klassischen Showdown und übergibt ihn gefesselt der Gerechtigkeit. Da der Western jedoch in Mexiko spielt, fehlt am Ende das befriedigende Gefühl, in den Augen der Gemeinschaft als Held dazustehen. Denn Mexiko ist das Land, das seit jeher für Amerikas Kampf mit den eigenen inneren Dämonen stand. »Wenn sie dir erzählen, ich sei an eine mexikanische Wand gestellt und von Kugeln zerfetzt worden, dann sollst du wissen, dass ich das für eine ganz anständige Art zu sterben halte. Besser als Altersschwäche, Krankheit oder die Kellertreppe hinabzustürzen. Ein Gringo in Mexiko – ah, das ist Euthanasie«, schrieb der amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce an die Frau seines Neffen, bevor er selbst 1913 den Rio Grande überquerte und in den Wirren der mexikanischen Revolution verschwand.

Fiktion und Wirklichkeit

Ambrose Bierce überquerte die Grenze nach Mexiko, weil, so Carlos Fuentes, es in seinem eigenen Land keine Grenzen mehr gab, über die er gehen konnte. Nur in der Fantasie von Hollywood-Regisseuren ließen sich in den 1950er Jahren noch die großen Namen der frontier-Zeit mit Texas’ Vergangenheit in Verbindung bringen. Im Mid-Century war selbst das Zapata-Motiv nicht mehr an eine historische Figur geknüpft, sondern Elia Kazans Film Viva Zapata! entnommen, der 1951 im südtexanischen Städtchen Roma, am Rio Grande, gedreht wurde. Und jeder Texaner hatte nach dem Film bei dem Namen Zapata das Gesicht Marlon Brandos vor Augen. Roma, das Filmkulisse war, hatte mit dem Leben des echten Emiliano Zapata ebenso wenig zu tun wie die von Kazan erzählte Geschichte, die dem Kinobesucher nur das präsentierte, was auch ohne Vorkenntnisse zu verstehen war. Namen wie Zapata oder Sierra Madre oder Rio Grande genügten, um Bilder und Stimmungen zu evozieren, die mit der Vorstellungswelt eines mythisch verklärten Mexiko in Verbindung gebracht werden konnten, obwohl sie Fiktion waren. Aber in Texas hatten sie ohnehin keine Berührungsängste mit Fiktionen. Fehrenbach selbst bezeichnete das eigene Werk als »politische science fiction«,73 und mit dem US-amerikanischen Maler Frederic Remington drückte ein Genremaler den Vorstellungen, die das 20. Jahrhundert vom historischen Wilden Westen hatte, seinen Stempel auf. Denn Remington illustrierte mit seinen Bildern von Cowboys, Indianern, Pferden, Rangern und der US-Kavallerie häufig polemische Artikel, die er für Harper’s Weekly schrieb.

So trug sein Bild The Drawing of the Black Bean (siehe S. 18) Ende des 19. Jahrhunderts zur mythischen Überhöhung der MierExpedition bei. Unter dem Stichwort ›Black Bean Episode‹ ging die Ziehung der Pintobohnen, die über das Schicksal der 176 texanischen Gefangenen nach der verlorenen Schlacht von Mier im Dezember 1842 entschied, in die texanische Geschichtsschreibung ein. Den mexikanischen Militärs fehlt auf seinem Bild jegliche militärische Ordnung. Der Maler gestand den mexikanischen Generälen, die die Vorbereitungen zur Exekution überwachten, in seiner Interpretation der Ereignisse keine standesgemäße militärische Kleidung zu. Er steckte sie stattdessen in die traditionelle Lederkleidung der charros, der mexikanischen Rinderhirten. Mit ihren ausgestellten Hosenbeinen, genieteten Hosennähten, silbernen Sporen und breitkrempigen Hüten sehen die mexikanischen Generäle nun wie vaqueros in Sonntagstracht aus. Den einfachen mexikanischen Soldaten hat Remington sogar die weißen Baumwollhemden und Hosen indianischer Landarbeiter auf den Leib gemalt. Nicht einmal Schuhe tragen sie. In nachlässiger Haltung sehen sie zu, wie einer der Gefangenen an den Tisch herantritt und in den Tontopf mit den Bohnen greift. Ihre Gleichgültigkeit kontrastiert mit dem dramatischen Moment der Szene, der über Leben oder Tod der Texaner entscheidet. Nicht ohne Grund hat Remington ein Motiv ausgewählt, mit dem sich 53 Jahre nach den historischen Ereignissen die leyenda negra wiederbeleben ließ. Remington wollte auf seinem Bild die Stimmung der Old Frontier einfangen. Denn als das Bild entstand, befand sich Kuba im dritten Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, und die Vereinigten Staaten sympathisierten mit den aufständischen Kubanern. Remington wollte mit seinem Bild, das Harper’s Weekly im Dezember 1896 druckte, die US-Politik daran erinnern, dass sie 1846 schon einmal gegen politische Rückständigkeit und hispanische Unmenschlichkeit in den Kampf gezogen war.

 

Eine der von Remington am häufigsten porträtierten Figuren ist die des texanischen Rangers. Aber auch hier klaffen Mythos und Wirklichkeit weit auseinander, wie die US-amerikanischen Geschichtswissenschaftler Charles Harris und Louis R. Sadler nachweisen. 1823, noch vor der texanischen Unabhängigkeit von Stephen Austin als Schutztrupp gegen Indianer gegründet, bestand die Hauptaufgabe der Texas-Ranger-Einheiten nach 1836 darin, Texas vor den greasers – das Schimpfwort für Mexikaner – zu schützen. Aber erst dem Jahrzehnt der border wars zwischen 1910 und 1919 verdanken die Texas Rangers ihren Ruf – ob geliebt und unterstützt oder gehasst und gefürchtet. Dass sie bei der mexikanischstämmigen Bevölkerung verhasst waren, hängt mit den Lynchmorden während des bandit war zusammen. Der sogenannte Banditenkrieg 1915, bei dem an der mexikanischstämmigen Bevölkerung begangene Gemetzel an der Tagesordnung waren, ist ein Zwischenspiel der border wars, und border wars wiederum letztlich die Sammelbezeichnung für alle an der Grenze ausgetragenen Kämpfe im Rahmen der Mexikanischen Revolution. Mexikos revolutionäre Dekade veränderte zwar das Gesicht der Grenze. Doch die Grausamkeiten des bandit wars waren weniger den revolutionären Wirren als den Texas Rangers zuzuschreiben, die ihren Hass gegen Mexikaner mit deren ›Plan von San Diego‹ rechtfertigten, einem angeblichen Geheimplan mexikanischer Separatisten, der zur Rückeroberung der 1848 verlorenen Gebiete aufrief. An der Grenze zirkulierten Flugblätter, die darüber informierten. Der geistige Urheber jener Flugblätter wurde jedoch nie identifiziert; für die Texas Rangers waren sie das Alibi, um mit Ku-Klux-Clan-Methoden auf Überfälle von mexikanischem Boden aus zu reagieren.

Harris & Sadler kommen bei ihrer Untersuchung des Grenzkrieg-Jahrzehnts zu dem Schluss, dass die Texas State Ranger Force sowohl unterbesetzt als auch unterbezahlt war, dass sie ferner nur von ihrem Ruf lebte und definitiv keine mit Gary-Cooper-ähnlichen Figuren besetzte Eliteeinheit war. Krüppel seien dabei gewesen, Männer mit nur noch einem Auge oder einem Arm, sogar zwei einbeinige Ranger hätte es gegeben und jede Menge betrunkener Marodeure. Trotzdem seien sie sehr ernst genommen worden, was sich Harris & Sadler damit erklären, dass sich die Männer selbst zwar nicht änderten, sobald sie Rangers wurden, dass sich aber ihr Bild in der Öffentlichkeit wandelte.74

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