Zeit ist nicht das Problem

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Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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4

Über die Ostsee wehte der Wind und trieb die Wellen an den Strand. Hier und da riss die Wolkendecke auf und einige Sonnenstrahlen blitzten durch das Grau. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, Mütze in die Stirn gezogen, kämpfte Karl auf der Strandpromenade gegen die Ostbriese, die wie Sandpapier über seine Wangen rieb. Schließlich erreichte er ein Backsteinhaus, das von zwei Krüppelkiefern eingerahmt war und sich unmittelbar am Strandweg hinter dem Deich duckte. An der Eingangstür des Ladenlokals im Erdgeschoss klebte ein Zettel mit dem Hinweis:

Hier öffnet im Frühjahr die „Strandbar“ von Steve K.

Karl wollte gerade klopfen, als Steve schon die Tür aufriss und ihn angrinste. In seiner Rechten hielt er eine Anstreichrolle.

„Gut, dass du da bist, habe gerade mit der Küche begonnen.“

Er ließ Karl herein, der sich interessiert umsah.

„Schickes Plätzchen hast du dir hier ausgesucht. Ich glaube, ich werde öfter hier sein.“

„Wann immer du willst, aber jetzt musst du mir erst mal helfen, die Bude hier auf Vordermann zu bringen.“

Karl zog seine Jacke aus, krempelte seine Hemdsärmel nach oben und nahm den Pinsel, den Steve ihm entgegenstreckte.

„Du machst die Ecken. Ich bin eh schon voll Farbe! Wo warst du denn heute? Und was war eigentlich mit deinem Hinkebein los?“

Durch das Ladenfenster schien jetzt die Wintersonne in den Raum und warf ein leuchtendes Rechteck auf die Zeitungen, die den Fußboden bedeckten.

„Ach, mein Fuß ist schon fast wieder o.k., hab´ ihn beim Joggen umgeknickt, aber das andere nervt mich viel mehr. Ich hab´ vorhin beim Arbeitsamt mein Glück versucht, glaube aber, das ist ziemlich aussichtslos mit einem Job!“

Ratlos guckte Karl auf die Zeitungen am Boden.

„Was würdest du denn gerne machen?“ fragte Steve, während er eine weitere Bahn Farbe auf die Wand rollte.

„Das ist ja gerade das Blöde. Ich kann irgendwie alles und gar nichts.“

„Haben sie euch denn nichts Schlaues beigebracht auf der Uni?“

Steve strich unermüdlich weiter, während Karl am Fenster stand und nachdenklich die dahin eilenden Wolken über der Ostsee betrachtete.

„Wenn ich das nur wüsste. Ich hab wohl schon gelernt analytisch zu denken und schreiben kann ich wahrscheinlich auch einigermaßen.“

„Na, das ist doch schon einiges. Ich kann nur kochen und das war’s. Willst du nicht vielleicht irgendwas mit Medien oder so machen?“

„Klar, das wollen doch fast alle mit meiner Fachrichtung.

Mann, so viele Journalisten und Werbefuzzis kann dieser Planet nun wirklich nicht gebrauchen. Ich dachte immer, dass ich mich mit dem Studium für eine wirklich anspruchsvolle geistige Tätigkeit qualifizieren würde. Jetzt kann ich nur hoffen, vielleicht irgendwo als Hausmeister zu arbeiten.“

„Aber Maler solltest du auf keinen Fall werden“, lachte Steve. „Du lässt ja alles auf den Boden tropfen!“

„Mist“, schimpfte Karl. Die Farbe hatte ihren Weg genau zwischen zwei der Zeitungsblätter gefunden und bildete jetzt einen Klecks auf den Holzdielen.

„Hinter der Theke steht ein Eimer mit Wasser und irgendwo liegt da auch noch mehr Papier“, sagte Steve, der seine Arbeit nicht unterbrochen hatte.

Während Karl sein Ungeschick wieder ausbügelte setzte Steve seine berufskundlichen Überlegungen fort.

„Und was ist, wenn du doch noch Lehrer wirst? Die verdienen doch unglaublich viel und haben dauernd frei.“

„Kann ich nicht, ich habe nicht auf Lehramt studiert. Außerdem habe ich einfach keinen Bock, irgendwelchen Fünfzehnjährigen meine Lebensweisheiten mitzuteilen.“

Karl legte ein neues Stück Zeitung auf die Stelle, die er gerade gesäubert hatte. Der Lichtfleck der Sonne war ein Stück weiter gewandert und schien jetzt genau auf das Papier unter seinen Händen.

„Ja, dann weiß ich auch nicht, was du machen sollst, vielleicht…“

Karl hörte den Worten seines Freundes nicht mehr zu. Er blickte konzentriert auf eine Annonce in der Rubrik ‚Stellenanzeigen Allgemein’, die vom Sonnenlicht bestrahlt wurde.

Proband für außergewöhnliches Forschungsprojekt gesucht. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt und sind neugierig auf eine neue Lebenserfahrung? Dann melden Sie sich bei der Universität Halsterberg unter der angegebenen Rufnummer.

Vorsichtig nahm Karl das Blatt wieder hoch und betrachtete den Text noch eine Weile.

Das ist ja tatsächlich die Zeitung von dieser Woche, ganz aktuell.

„… mir hat es auch sehr geholfen, erst mal eine Zeit lang wegzufahren.“

Steve dachte noch immer über einen guten Plan für Karls Zukunft nach.

„Hier“, Karl streckte ihm die Zeitungsseite entgegen, „sieh mal die erste Anzeige!“

Steve nahm das Papier und las.

„Hmm, klingt komisch. Wahrscheinlich irgendwas mit Medikamenten oder so. Da wäre ich vorsichtig!“

„Ja aber vielleicht ist es ja auch eine gute Chance,…“

„Dann würden sie doch schreiben, worum es geht. Glaub mir, das ist ’ne krumme Sache. Ich hab da Erfahrung. Als ich meine Ausbildung fertig hatte, da hab ich ’ne Anzeige gelesen für…“

„Ja, ich weiß.“ Karl kannte die Geschichte schon. „Da wurde eine Stelle für einen Koch ausgeschrieben und dabei ging es um die Bewirtschaftung einer Pommesbude.“

„Und genauso klingt das hier auch. ‚Neue Lebenserfahrung’! Die knallen dich mit Pillen voll und gucken zu, wie du Verfolgungswahn bekommst, um den dann mit anderen Tabletten zu stoppen!“

Karl musste lachen.

„Du und deine Fantasie. Aber wahrscheinlich hast du Recht.“

Der Rest des Nachmittags verging schnell. Bis zum Abend hatten Karl und Steve den Raum des Cafés vollständig neu gestrichen.

Dienstag, 12. Februar

Heute war ein anstrengender Tag. Erst beim Arbeitsamt gewesen, totaler Reinfall! Danach Steve beim Anstreichen geholfen. Sein Café sieht wirklich vielversprechend aus. War ein bisschen neidisch auf ihn, immerhin hat er jetzt eine Perspektive. Hätte nie gedacht, dass Streichen so mühsam ist, meine Arme tun weh und meine Finger sind voller Blasen. Habe auf dem Heimweg Susanne getroffen. Sie sah müde und gestresst aus. Der Job macht sie fertig. Darum beneide ich sie nicht. Werde das Gefühl nicht los, als ob ich mich selbst beobachte. Es kommt mir so vor, als würde ich mein Leben aus der Dritten Person betrachten. Das Alleinsein tut mir nicht gut.

Ratlos vor meinem Plattenregal gestanden. Sollte ich einem bekannten britischen Bestseller-Autor glauben, so müsste ich auch für diese Situation die fünf besten Songs im Ärmel haben (oder zumindest auf einer Liste). Nein, mir fiel nichts ein, habe mehr oder weniger achtlos in die Reihe gegriffen und hielt „Who’s next“ in den Händen. Was will mir das Cover sagen? Vier Jungs haben gegen einen Monolithen gepisst und gehen zurück ins Studio? Und das soll Teil des ambitioniertesten Projektes sein, mit dem sich Pete Townshend jemals beschäftigt hat. Irgendwas wollte ich unbedingt noch aufschreiben, kann mich jetzt aber nicht mehr erinnern…

5

Karl wachte mitten in der Nacht auf. Sein Kopf dröhnte und seine Arme hingen an ihm wie Fremdkörper. Mühsam erhob er sich von seinem Bett und wankte in die Kü­che. Er öffnete die Kühlschranktür und sah seine Befürchtungen bestätigt: Die Ablagefächer boten das Bild eines verlassenen Iglus. In der Tür fand Karl noch eine angebrochene Tüte Milch, die er dankbar an seine Lippen setzte.

Auf der Spüle türmte sich Geschirr, aus dem Mülleimer quoll der Abfall und über den Küchentisch waren allerlei Gegenstände und Papiere verteilt, die eindeutig nichts mit der Zubereitung von Speisen zu tun hatten.

Alles wegen dieser dämlichen Prüfungen.

Er setzte sich an den Tisch und schob mit dem Unterarm eine Fläche frei, um die Milchtüte abzustellen.

Was soll ich denn bloß machen? Ich will Mama und Papa nicht um Geld bitten. Also irgendeinen dämlichen Job wirst du wohl finden, Meister Grün, oder? Wieso eigentlich Meister? Na, weil du halt der Profi des inneren Dialoges bist! Ist das nun bekloppt oder ist es Postprüfungsstress? Was will ich? Haus? Kinder? Einmal im Jahr an den Atlantik mit dem Opel-Kombi? War ja schon nett in meiner Kindheit, aber...

Karl Grün, typischer Wohlstandsflegel der 80er! Alles haben und immer noch unzufrieden. Vor allem bloß nicht festlegen. Grenzerfahrung? Was für ein Blödsinn. Mann, alle anderen arbeiten doch auch. Persönliche Charakteristik mit vierundzwanzig Buchstaben: E n t s c h e i d u n g s u n f ä h i g k e i t. Quatsch, sind fünfundzwanzig mit Umlaut. Ich muss was tun.

Schließlich stand er auf und ging zurück in sein Schlaf-zimmer. Er griff zum Telefon, das auf dem Fußboden neben dem Bett stand. Nachdem er eine kurze Nummer eingetippt hatte und den Hörer an sein Ohr hielt, sah er sich in seinem Zimmer um. An der Wand gegenüber stand ein Holzregal, das er gemeinsam mit seinem Vater gebaut hatte. Es enthielt die mächtige Sammlung seiner Schallplatten und Bücher. Es gab…

„Städtische Klinik, Notaufnahme!“

 

Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung klang müde und genervt.

„Hallo Susanne, ich bin’s, Karl.“

„Na, das ist ja ’ne Überraschung. Kannst du nicht schlafen?“

„Ich brauch einen kleinen Denkanstoß, meinst du, du kannst mir helfen?“

„Auf keinen Fall hier über die Notrufnummer! Komm doch vorbei, bis jetzt ist es ziemlich entspannt.“

„Gut, mach ich. Bis gleich!

Karl legte auf. Hastig zog er sich an und verließ seine Wohnung. Draußen war es eisig, ein praller Vollmond beleuchtete die Stadt. Karl lief die Hauptstraße entlang.

Na, dann auf du lonesome Cowboy, ist bloß ne halbe Stunde zu Fuß!

An der Ecke des Kaufhauses bog er nach rechts ab und beschleunigte seinen Schritt. Sein Weg führte Karl an Dönerbuden, Second-Hand-Läden und Lebensmittelgeschäften vorbei. Tagsüber ging es hier sehr lebhaft zu, jetzt aber war von dem Gemisch aus Sprachen und Gerüchen nichts außer einem Hauch von Müll geblieben.

„Kannst du nicht aufpassen, Arschloch?!“

Karl wäre fast über den Schlafsack gefallen, der vor der Eingangstür einer Bank wie eine Wurst auf den Gehweg hinausragte. Aus dem Kopfende des Sacks ragte ein Männergesicht, das ihn mit finsteren Augen ansah.

„Tschuldigung“, stotterte Karl und machte sich davon. Der Schlafsackmensch rollte sich dicht an die Tür des Geldinstitutes, das auf einem Plakat im Fenster Kredite für „sagenhafte 6,5% Zinsen“ anbot.

Nach knapp dreißig Minuten erreichte Karl das Krankenhaus. Er überquerte die Einfahrt zur Notaufnahme und presste sich durch die Glastür. Hinter einem Empfangstisch saß eine Frau mit langen braunen Haaren. Ihre Augen leuchteten wie die buchstäblichen Bergseen und ihre Nase war an der Spitze leicht nach oben gebogen. Ihr Mund zog sich wie ein Strich über das Gesicht und verlieh ihrer Mimik auf den ersten Blick etwas Strenges. Die runde Gesichtsform glich das aber wieder aus, als habe sich der Schöpfer im letzten Moment doch um etwas Harmonie bemüht. Abgesehen von ihrer Frisur hätte man sie für Karls Zwillingsschwester halten können.

„Bin aber schon zwei Jahre älter als er“, hatte sie immer gesagt, wenn sie als Kinder auf Verwandtenbesuch gewesen waren. Jetzt war sie einunddreißig und legte keinen Wert mehr auf den Altersunterschied.

„Hi, Susanne!“

Karl stützte sich mit beiden Händen auf die Theke.

„Guten Morgen, Bruderherz.“

Der Strich öffneten sich zu einem Lächeln.

„Willst du hier renovieren?“

Sie deutete auf Karls Hose, die mit Farbflecken bedeckt war.

„Oh nein!“

Karl blickte verlegen an sich herunter.

„Muss wohl im Halbschlaf daneben gegriffen haben.“

„Womit kann ich dir mitten in der Nacht helfen?“

Susanne betrachtete Karl, das Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen.

„Hast du denn jetzt ein bisschen Zeit?“

„Genau so lange, bis das Telefon klingelt oder einer von diesen schicken rot-weißen Wagen da draußen vorfährt. Im Moment ist alles ruhig.“

Karl setzte sich zu seiner Schwester hinter den Empfangstisch.

„Ach, ich weiß nicht! Ich kann nicht mehr schlafen. Mache mir so einen Kopf wegen der Zukunft!“

„Wieso das? Du bist doch erfolgreicher Akademiker.“

„Nützt aber nichts. Wer braucht schon einen Philosophen. Schwesterchen, ich muss Geld verdienen. Fürs Rumgrübeln bezahlt mich keiner. Hast du irgendeine Idee, was ich tun kann?“

Susanne zuckte mit den Achseln.

„Vielleicht...“

„Sag jetzt nicht Medien! Steve hat auch schon davon gequatscht. Ich bin kein Redakteur, kein Regisseur oder sonst was. Alles was ich kann, ist Sekundärliteratur über Platon aus der Bibliothek nach Hause zu tragen und in vier Wochen wieder zurückzubringen. Theoretiker nennt man so was. Was für eine Scheißwelt. Dabei könnte alles so einfach sein. Wenn ich an Steve denke. Der macht einfach seinen Laden auf und schwupps...“

„He, jetzt hör aber auf. Steve hat immerhin jahrelang geschuftet, um das Startkapital zusammenzubekommen.“

„Aber ich habe doch auch…“

„Ja, ich weiß, aber zwischen geistiger und praktischer Arbeit ist nun mal ein himmelweiter Unterschied. Du musst halt einen Weg finden, dein Potenzial irgendwie zu Geld zu machen! Außerdem weiß ja kein Mensch, ob Steve jemals einen einzigen Kaffee verkaufen wird.“

„Na, du hilfst mir ja prima!“

In diesem Moment ertönte ein Martinshorn, das von der Hauptstraße herauf rasch näher kam. Kurz darauf hielt ein Krankenwagen vor dem Eingang. Zwei Sanitäter sprangen heraus, zerrten aus der Klapptür eine Trage, die sie Bruchteile von Sekunden später auf einem Rollgestell am Empfangstisch vorbei in den Vorraum der Notaufnahme schoben.

„Verdacht auf Myokardinfarkt; Reanimation bei Kammerflimmern!“ die Stimme des Sanitäters überschlug sich fast, obwohl er nicht einmal laut sprach.

Der Mann auf der Trage stöhnte schwach und überließ seinen Körper dem Kampf.

Susanne federte hoch und griff zum Telefonhörer.

„Wir brauchen sofort jemanden auf der zwo sieben!“

Die Trage wurde in ein Zimmer gerollt, in dem auch Susanne und der herbeihastende Arzt verschwanden. Kurz bevor die Tür zuschlug, steckte Karls Schwester noch einmal den Kopf heraus.

„Mach was aus deinem verdammten Leben, und tu es bald!“ rief sie und tauchte wieder im hellen Neonlicht unter, das wenig später nur noch durch den Spalt der geschlossenen Tür hindurch schimmerte.

Karl blieb noch einen Moment stehen, unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Außer ihm befand sich niemand mehr in der Eingangshalle. Seine Hände zitterten, als er den Verschluss seines Anoraks bis dicht unter das Kinn zog, dann stapfte er blass in die Kälte.

Scheiße, scheiße, scheiße! Wieso muss der Typ genau heute den Herzkasper kriegen! Mann, mir ist sauschlecht. Genauso gut könnte ich da auf der Trage liegen. Der Mensch war höchstens Mitte dreißig.

Bloß weg hier! Jetzt nur keine Panik! Schön ruhig atmen und denken: ich bin das nicht, der da geht, das sind nicht meine Füße auf dem Boden. Ich werde gesteuert.

Ob der noch lebt? Lebe ich überhaupt? Kann kaum noch denken. Treibe durch die leblose Stadt wie ein Korken auf der Ostsee!

Er lief an den Häuserblocks vorbei ohne rechts und links etwas wahrzunehmen. Allmählich beruhigte er sich und sein Körper gehorchte wieder seinen Gedanken. Schließlich blieb er an einer Straßenecke unter den Leuchtziffern einer Uhr an einem Juweliergeschäft stehen und blickte nach oben. Halb vier.

Karl sah sich um.

Hier war ich noch nie! Kenne die Gegend nicht!

Neugierig lief er an den Fenstern der Geschäfte vorbei. Neben dem Juwelier gab es einen Tabak- und Pfeifenladen, es folgten eine Eisdiele und ein Schuster und schließlich ein Geschäft, in dessen Schaufenster es eine Reihe Schallplattenhüllen und Bücher zu sehen gab.

„Gert’s Kramkiste“ stand in Druckbuchstaben auf dem Fenster.

Karl blieb stehen und versuchte durch die Scheibe zu erkennen, wie das Innere dieser Fundgrube wohl aussah.

Nanu, da ist ja einer drin!

Im hinteren Teil des Ladens brannte Licht. Ein Mann prüfte Schallplatten aus einem Karton. Jede Platte, die er der Kiste entnahm, zog er aus der Hülle, hielt sie gegen das Lampenlicht, steckte sie wieder zurück und sortierte sie dann im Regal ein.

Cooler Typ! Muss mir die Adresse merken und mal am Tag hierhin kommen!

Karl kramte in seiner Jackentasche nach einem Stift. Diesmal hatte er weniger Glück als auf dem Prüfungsamt.

Achselzuckend wandte er sich zum Gehen, als der Mann im Laden aufblickte und zum Fenster sah. Er konnte Karl nicht erkennen, wohl aber, dass dort jemand um zwanzig vor vier in der Nacht vor seinem Geschäft stand. Behutsam legte er die zuletzt entnommenen Platten beiseite und ging ohne Eile durch den Laden zur Eingangstür, die links neben dem Schaufenster auf eine Treppe hinausging. Karl blieb in der Kälte stehen, als sich der Schlüssel drehte und die Tür geöffnet wurde.

„Guten Morgen“, sagte der Mann mit einer Stimme wie Lee Marvin, „es kann nur zwei Gründe geben, warum du zu dieser unchristlichen Zeit vor meinem Laden stehst. Entweder du bist ein Freak oder du hast dich verlaufen.“

„Letzteres“, entgegnete Karl, „obwohl ich auch…“

„… genau das habe ich mir gedacht. Willst du vielleicht einen Tee?“

Der Mann bot die offene Tür zum Hereintreten an. Karl zögerte kurz, stieg dann aber die zwei Stufen nach oben. Es roch nach alten Büchern und Schallplatten, ein Duft, den wahrscheinlich nur kennen wird, wer schon einmal in einem dieser besonderen Sammlertempel gewesen ist.

„Ich bin Gert“, sagte der Ladenbesitzer und drückte Karl mit einer an Kartonschleppen gewöhnten Rechten die Hand.

„Geh einfach nach hinten durch, da wo das Licht ist!“

„Mach ich, danke!“ Karl folgte der Aufforderung und lief auf den Lichtschein zu. An der linken Wand und in der Mitte des Ladens standen Bücherregale, die bis unter die Decke reichten. Rechts vom Fenster aus gesehen waren Plattenregale nebeneinander aufgereiht. Unter den Ständern sah Karl im Halbdunkeln Kartons, auch sie waren mit Schallplatten gefüllt.

„Setz dich, ich hole mir noch einen Stuhl von hinten.“

Gert wies auf einen Holzhocker unter der Stehlampe, die für das wenige Licht im Laden sorgte und verschwand hinter einem Vorhang. Karl sah sich weiter im Raum um. An den freien Stellen der Wände hingen Fotos und Plakate von Musikern und Filmen, wie bekannte Bild vom ersten großen Popfestival. Es zeigte Jimi Hendrix, der vor seiner brennenden Gitarre kniete und die Flammen zu dirigieren schien.

„Ja, ich war dabei.“

Gert kam wieder durch den Vorhang und stellte mit einer Hand einen zweiten Hocker neben die Lampe. In der anderen hielt er einen Becher mit dampfendem Tee, den er Karl reichte, während dieser noch das Bild betrachtete.

„Sie…, äh du warst in Monterey?“

„Allerdings, da war ich achtzehn.“

Karl rechnete kurz im Kopf.

Dann muss der jetzt so Anfang fünfzig sein.

„Und wie war das so?“ fragte er laut, nahm den Teebecher und nickte dankend.

Gert setzte sich und überlegte einen Moment.

„Was die Musik anging, war es absolut fantastisch. Hendrix, Otis Redding, The Who. Die Atmosphäre war toll.“

„Bist du denn auch ein richtiger Hippie gewesen damals?“

„Was heißt schon richtig?“ Gert schmunzelte. „In meiner Einstellung zur Gesellschaft schon, aber mit dem ganzen Drogenzeugs hatte ich nicht viel am Hut. Hab mal versucht zu kiffen, war aber nichts für mich. Bin halt zu sehr Kontrollfreak!“

Karl betrachtete seinen Gesprächspartner.

Das glaube ich dir. So wie du Platten sortierst. Wahrscheinlich steht im ganzen Laden keine einzige Scheibe mit Kratzern.

„Und was machst du, wenn du nicht schlafwandelst?“

Gert sah seinen nächtlichen Gast an, als wolle er die Antwort mit den Augen aus ihm heraussaugen.

„Na ja, das ist nicht so leicht zu erklären“, begann Karl lustlos, „ich konnte nicht schlafen, weil ich mir so einen Kopf um meine Zukunft mache und dann war ich bei meiner Schwester. Und warum sortierst du morgens um vier Schallplatten?“

„Ich bleibe oft nachts wach. Schlafentzug soll sich positiv auf meine Erkrankung auswirken.“

Karls fragendes Gesicht erkennend fügte er hinzu: „Depressionen. Aber eigentlich bin ich einfach gern hier allein im Laden.“

Karl nickte.

Siehst aber nicht besonders traurig aus im Moment.

„Hat wahrscheinlich was mit der Branche zu tun, die waren doch alle irgendwie verrückt“, fuhr der Kramkistenhüter fort und wies mit einem Kopfnicken auf die Wand mit den Fotos.

„Brian Wilson: psychotisch, manisch-depressiv; Syd Barret: Psychose; Peter Green: auch Psychose; Nick Drake: depressiv und so weiter und so weiter.“

 

Gert wirkte sehr ruhig, während er sprach.

„Was willst du hören?“

Karl verstand erst nicht, dann begriff er, dass er eine Platte aussuchen sollte.

„Oh, keine Ahnung, vielleicht was von Big Star?“

„Ausgezeichnet, ein Popfreund also! Welches Album?“

„Ich mag das erste am liebsten.“

„Oh Mann“, Gert wurde lebhafter, „du gefällst mir. Jeder Durchschnittssammler hätte jetzt das dritte Album genannt. Völliger Blödsinn, Alex Chilton war nie besser als zusammen mit Chris Bell! Steht da, unter B!“

Mit seiner Teetasse zeigte Gert auf das zweite Plattenregal.

Karl drehte sich halb auf seinem Hocker um und blätterte kurz in den Papphüllen. Er fand „#1 Record“ und reichte sie zu Gert herüber. Der wandte sich einem Tischchen zu, das links neben dem Vorhang stand. Wie ein rohes Ei hob er mit beiden Handflächen die Scheibe auf einen Plattenspieler aus den Anfangstagen der Stereokultur, der dort auf einem Verstärker platziert war. Kaum hörbar knisternd setzte die Nadel auf und das erste Riff von „Feel“ erfüllte den Raum.

Gert schloss die Augen und schwieg.

Was mache ich hier? Sitze bei einem Wildfremden im Laden rum und höre im Morgengrauen Powerpop. Das ist wie damals, als ich mit Steve vor dem Plattenregal seines großen Bruders gehangen habe und wir uns die ganzen Scheiben aus den 60ern und 70ern angehört haben. Mann, was für tolle Sachen. Alle erforschten damals die Welt der Diskotheken und die weibliche Anatomie unterhalb der Oberfläche von pinkfarbenen T-Shirts. Nur wir zwei Deppen kauerten vor den Boxen und lasen uns die Besetzungslisten und Danksagungen auf vergilbten Plattenhüllen durch. Wer hatte wann wo mitgespielt, wer hatte co-produziert? Dazu Tee und Steves traumhafte Pizza. Mit frischem Knoblauch, Thunfisch…

„He, Zeit zum Aufstehen!“

Gert klopfte vorsichtig auf Karls Schulter.

Der schlug die Augen auf und stellte verwundert fest, dass er auf dem Fußboden lag, seinen Anorak als Decke über sich gezogen.

„Wie spät ist es?“

Karl richtete sich langsam auf. Draußen war es bereits hell.

„Kurz nach acht.“ Gert lachte. „Du hast dich irgendwann wie ein Igel da unten eingerollt, wollte dich nicht wecken. Noch ’n Tee? Ist frisch!“

„Gern.“

Karl streckte sich und sah, dass der Karton mit den Schallplatten jetzt leer war.

„Was kommt denn ins Regal und was in die Kisten da drunter?“ fragte er.

„Oben steht nur das, was die Profisammler interessiert. Sind auch entsprechend hochpreisig. Dir würde ich empfehlen, auf die Knie zu gehen, denn da unten findest du echte Schätze, die fast nichts kosten. Knacksen manchmal ein bisschen.“

Gert hantierte mit dem Verschluss einer Thermoskanne.

„Das ist mir egal, Hauptsache die Musik ist gut“, antwortete Karl und hockte sich probeweise vor die erste Box.

„Geht mir genauso, aber so lange es echte Freaks gibt, die mir 150 Euro für ’ne Beatlesplatte in die Hand drücken, soll’s mir Recht sein.“

„Und was ist damit?“ Karl fischte eine Papphülle heraus und hielt sie hoch.

„Das ist eine Nachpressung von „Rubber Soul“, tadellos, kaum gespielt, bringt auf dem Markt aber nichts. 3 Euro!“

„Ist das dein Ernst?“

„Klar, und glaub mir, die Qualität ist einwandfrei!“

Amüsiert betrachtete Gert Karls ungläubiges Gesicht.

Mittwoch, 13. Februar 10.00 Uhr

Es ist wohl das erste Mal, dass ich schon so früh in mein Büchlein schreibe. Seltsame Erlebnisse letzte Nacht. Habe mir morgens um 8 Schallplatten gekauft, nachdem ich zuvor in dem Plattenladen geschlafen habe. Hoffentlich liest das hier niemand außer mir. Muss unbedingt Steve davon erzählen… Habe versprochen, mich bei Gert wieder zu melden.

20.30 Uhr

Zweiter Eintrag für heute. War in der Stadt unterwegs auf der Suche nach Jobs. Habe jedes erdenkliche Schwarze Brett abgeklappert. Soll mich morgen bei so einem Paketdienst vorstellen. Bin mal gespannt, was mich da erwartet. Viel zu müde, um noch irgendetwas anzustellen. Nebenbei, meine Waschmaschine ist schon wieder kaputt. Das halbe Bad stand unter Wasser, kann es kaum erwarten, bis es in der Wohnung unter mir Flecken an der Decke gibt. War dann kurz noch zu Hause und hab Mama meine Wäsche gegeben. Werde mich jetzt hinlegen.