Zeit ist nicht das Problem

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6

Karl rannte, so schnell er konnte, doch der Hund klebte an seinen Fersen und kläffte wie bei der Treibjagd. Der Gartenzaun rückte immer näher.

Soll ich durch die Tür und dabei wichtige Zeit verlieren, oder soll ich springen? Ausgeschlagene Zähne und Schürfwunden inklusive!

Die feuchte Nase an seiner Hosennaht machte die Entscheidung einfach. Karl drückte sich mit einem Fuß von den Steinplatten der Zuwegung ab, flog über das Eisengitter und kam zu seinem großen Erstaunen auf beiden Beinen wieder zum Stehen. Ohne sich umzudrehen lief er zu einem Lieferwagen und sprang hinter das Lenkrad.

„Prima Paketdienst“ stand in roter Schift auf der Seitenwand.

Karl versuchte, seinen Atem zu beruhigen.

Mann, der Tag hatte eigentlich gar nicht so schlecht angefangen. Pünktlich zum Vorstellungstermin erschienen. Kurzes Gespräch und dann gleich um halb acht die erste Schicht.

„Sie werden sehen, Herr Grün, nach den ersten drei bis vier Paketen geht es wie von alleine.“ Wenn ich an den Typen mit diesem Putzlappen von einem Anzug denke. Jetzt habe ich selbst die hässlichste Uniform der Welt an, einen Laster voll mit Paketen und erst drei abgeliefert. Und es ist halb zehn!

Der Hund sprang noch immer wie ein Derwisch am Gartenzaun entlang.

Und jetzt hier dieser schnauzbärtige Perverse im Leopardenmorgenmantel. Wahrscheinlich eine Kiste mit Pornos oder ein Lederkorsett für seine Frau.

Karl drehte den Zündschlüssel. Das Geräusch des Anlassers verhieß nichts Gutes. Nach dem fünften Versuch wurde Karl nervös und schwitzte noch mehr, als nach seiner kurzen sportlichen Einlage.

Lass mich jetzt nicht im Stich!

Karl pumpte auf dem Gaspedal herum.

„Jetzt spring endlich an, du Scheißkarre, sonst…“

Wumms, wumms! Karl wäre fast vom Sitz gefallen. Der Leopardenmann hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe der Beifahrertür und grinste. Karl beugte sich über den Sitz und kurbelte das Fenster herunter.

„Sie müssen noch ein Paket für mich haben, da war nicht alles dabei!“

Der Schnauzbart tanzte in der Kälte auf und ab.

Ah, die Streckbank fehlt!

„Moment“, brummte Karl und sprang aus der Fahrertür.

Im selben Augenblick hatten die Zähne des kleinen Köters sein Schienbein in fester Umklammerung.

„Au, verflucht! Mann, Holen Sie Ihre Scheißtöle zurück!“

Karl schüttelte sein Bein, doch der Vorgartenwächter ließ nicht locker.

„Hermann, aus!“

Der Mann im Morgenrock sagte dies ohne besondere Überzeugung und Bestimmtheit.

Von einem Moment auf den anderen schien sich der Kläffer aber viel mehr für eine Katze zu interessieren, die auf dem Zaun des Nachbargartens erschienen war. Karl rieb sein Bein, während Hermann der Hund seinem Urinstinkt folgte.

„Ich könnte Sie anzeigen“, schimpfte Karl und öffnete die Klappe zum Laderaum.

Der Schnauzbart zitterte in der Kälte, umklammerte sein Bademäntelchen und erwiderte nichts. Im Halbdunkel des Lieferwagens wühlte Karl in den Paketen.

Tatsächlich, da ist es. Muss ich heute Morgen ins falsche Fach gelegt haben. Na, schauen wir mal auf den Absender. „Modelleisenbahn Schmidtke“?

Wortlos streckte Karl das Paket aus der Tür.

„Ah fein, die Lokomotiven!“

Der Mann mit den besonderen Vorlieben lächelte.

Donnerstag, 14. Februar

Das war der härteste Job meines Lebens. Habe bis um elf Uhr abends Pakete ausgefahren. Zwei Hundebisse, achtmal verfahren und mindestens dreimal beschimpft worden, weil ich zu spät war. Bin dann auch prompt wieder rausgeflogen. Wenigstens habe ich mein Geld direkt bar bekommen. 100 Euro, davon könnte ich bei Gert eine ganze Kiste Kostbarkeiten kaufen, [seltsame Alliteration], muss also morgen wieder los und mir einen neuen Job suchen. Super! Wollte eigentlich heute zu Mama und die Wäsche abholen. Vielleicht schaffe ich es morgen.

7

Dicke Regentropfen prasselten in gnadenloser Beharrlichkeit auf Karls Kopf.

Warum bin ich heute zur Jobbörse? Ich könnte im Bett liegen und Proust lesen oder die Stooges hören. Nein, stattdessen lasse ich mir von dieser Tussi den erstbesten Aushilfsjob andrehen, der zufällig zuoberst auf ihrem Schreibtisch liegt. Keine langen Diskussionen, Meister Grün, du wolltest doch zu Geld kommen!

Ein Lastwagen raste vorbei und tauchte Karl in eine Welle aus Schmutzwasser, von dem die Pfützen in diesem Gewerbegebiet mehr als genug bereithielten.

Zwei Minuten von der Bushaltestelle stand auf dem Zettel. Ich renne seit ’ner Viertelstunde wie blöd durch die Gegend!

Endlich fand er eine Toreinfahrt mit der angegebenen Hausnummer. Karl eilte hindurch und strebte auf eine Baracke im Hof zu, der mit allerlei Baufahrzeugen und Gerätschaften zugestellt war. Keuchend öffnete er die Tür und trat in ein Büro, aus dem ihm eine Hitze-Schweiß-Welle entgegenschlug. Eine Sekretärin mit blondierter Dauerwelle saß hinter einem Schreibtisch und blickte ihn über den Rand ihrer halben Brille an.

„Ein Esel lese nie!“ war Karls erster Gedanke beim Anblick des Mittfünfzigers der neben der Sekretärin stand, geräuschvoll schnaufte und aufgeregt in einem Aktenordner blätterte.

Dieser Fleischberg muss wohl Il Chefe sein.

„Guten Tag, ich heiße Karl Grün. Die Arbeitsvermittlung hat mich geschickt, ich sollte…“

„Vor allem schon vor ’ner halben Stunde da sein!“

Die Stimme des Riesen dröhnte übel gelaunt.

„Um acht haben die angerufen, Sie sollten um halb neun hier sein. Jetzt ist es neun!“

„Tut mir leid, aber ich hab’s nicht direkt gefunden.“

Karl wartete auf eine Reaktion.

Der Dicke klappte den Ordner zu und brummte: „Buchen Sie die Sache mit dem Klärwerk auf Januar, wir kommen sonst in Teufels Küche mit der Steuer!“

Die Sekretärin hörte auf, Karl anzustarren und nickte stumm.

„So, nun aber Tempo! Los, kommen Sie!“

Der Bauunternehmer zwängte sich hinter dem Schreibtisch hervor und führte Karl wieder nach draußen. Dabei fasste er ihn am Oberarm, den er mit Daumen und Zeigefinger umschloss.

„Student, was?“ knurrte er und verdrehte die Augen.

Die beiden traten in den immer heftigeren Regen. Karl wurde über den Hof zu einer Garage geschoben, in der ein VW-Bus aus längst vergangenen Tagen stand. An der Wand hingen an einer Reihe von Haken gelbe Regenjacken und Bauhelme aus Kunststoff.

„Such dir was Passendes aus und dann aber Beeilung!“

Hab ich dir das „Du“ schon angeboten, Fettwanst?

Karl schnappte sich schnell den erstbesten Helm und eine Jacke, die etwa seine Größe hatte.

Der Koloss schob die Seitentür des Wagens auf, ließ Karl auf die Sitzbank klettern und hievte sich dann auf den Fahrersitz. Mit lautem Knattern schoss der Bus kurz darauf durch das Tor und bog auf die Straße, wobei er sich gefährlich neigte.

„Dieser tollwütige Fleischklops bringt entweder mich gleich ins Grab oder er kriegt vorher einen Herzinfarkt.

Karls neuer Arbeitgeber klemmte hinter dem Lenkrad und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Kopf leuchtete wie eine Cocktailkirsche aus der jeden Moment die Adernwulste herauszuplatzen drohten. Mit beiden Händen musste sich Karl an der Sitzbank festhalten, einen Gurt hatte er im Wagen nirgends finden können. Nach wenigen Minuten befanden sie sich auf der Autobahn und jagten über den nassen Asphalt.

Aquaplaning!

Der Bus glitt wie ein Pendel zwischen Mittelstreifen und Leitplanke hin und her.

Zwanzig Minuten später stieg Karl aus und fühlte die Schweißperlen über Bauch und Brust rollen. Seine Knie zitterten und er versank bis zu den Knöcheln im Morast des aufgeweichten Bodens.

Ah, und Herr Fettsack tragen Gummistiefel. Sehe ich jetzt erst.

Auf der Baustelle herrschte ungeachtet des Wetters reger Betrieb. Über dem Rohbau einer Fabrikhalle ragten zwei Kräne empor. Sie ließen an ihren Drahtseilen mächtige Betonplatten herab, die im Inneren des Baus als Zwischenwände eingesetzt wurden. Überall rannten Männer in Bauhelmen und Öljacken umher. Der Regen strömte teilnahmslos auf sie herab.

„Ihhgooorr!“ schrie der Dicke und einer der Behelmten drehte sich um. Langsam kam er durch den Schlamm auf die beiden zugestapft.

„Hier, das ist die Aushilfe! Kommt ihr voran?“

Der Angesprochene nickte und sah zu Karl herüber.

„Was sohll err maachen?“

Sein Akzent verriet die osteuropäische Herkunft.

„Stell ihn an den Mischer, dann kann Mustafa drinnen weitermachen!“

Der Chef schien die Lage gut zu überblicken.

„Komm“, sagte der Vorarbeiter und winkte Karl zum Gehen. Sie kämpften sich durch den Matsch während der Fleischklops sich wieder in sein Gefährt zwängte.

„Ich cheiße Jegor.“ Der Mann streckte Karl seine Hand hin, die fast völlig unter einer Lehmkruste verborgen war.

„Ich bin Karl!“

Fast wäre er wieder in einem Erdloch versunken.

 

„Wieso müsst ihr bei dem Regen arbeiten? Gibt es nicht so was wie Schlechtwettergeld?“

Jegor antwortete nicht. Schließlich erreichten sie die Mörtelmischmaschine. Ein älterer Mann mit südländischem Aussehen schaufelte in regelmäßigem Takt Sand in die Trommel.

„He Mustafa, kannst aufhören. Dahs ist Karrl. Err mischt jetzt!“

Jegor nahm dem Türken die Schaufel ab und drückte sie Karl in die Hand.

Offensichtlich nicht enttäuscht, den Job abzugeben, lächelte Mustafa Karl kurz zu und verschwand dann in Richtung des Rohbaus.

„Kannst du mischen?“ Jegor sah seine neue Aushilfe prüfend an.

Karl schüttelte den Kopf. Geduldig erklärte Jegor ihm mit vielen langen A und gerollten R, in welchem Verhältnis er Zement, Sand und Wasser anrühren musste. Karl nickte und machte sich dann ans Werk.

Na, das ist ja leichter als ich dachte!

Karl warf den Sand mit Schwung in den rotierenden Kübel. Jegor grinste, klopfte ihm auf die Schulter und machte sich davon. Nach einer halben Stunde wurden Karls Bewegungen deutlich langsamer.

Oh Mann, das zieht höllisch.

Er schaufelte im Akkord, denn im Abstand weniger Minuten erschienen Bauarbeiter, um die Eimer mit dem fertigen Gemisch abzuholen. War die Maschine leer, musste er neuen Zement und Wasser in den Bottich füllen und weiter Sand hinzufügen.

Und dann dieser eiskalte Regen. Ich schwitze, friere, spüre meine Arme nicht mehr, ich...

Um kurz vor zwölf tauchte Jegor wieder auf.

„Mittagspause!“ Er schlug Karl zum zweiten Mal auf die Schulter.

Na Gott sei Dank. Ich falle gleich um!

Er folgte Jegor in den Rohbau, wo die Bauarbeiter unter einer Plastikplane standen oder auf leeren Getränkekisten saßen und ihr Mittagessen zu sich nahmen.

Und, was haben wir uns mitgebracht, Meister Grün? Oh, nein!

„Gibt es hier irgendwo einen Kiosk?“ fragte Karl laut in die Runde.

Statt einer Antwort drückte ihm Jegor ein Stückchen Salami und ein Päckchen aus Alufolie in die Hand. Karl wickelte es aus und guckte etwas erstaunt.

Was ist denn das? Sieht aus wie mutierte Ravioli.

„Pelmeni, von meine Frau!“ erklärte Jegor.

Vorsichtig biss Karl eine Stückchen von der ersten Tasche ab, keine zwei Minuten später hatte er alles verspeist und rieb sich den Bauch.

„Danke, Jegor! Das war köstlich. Liebe Grüße an deine Frau.“

„Waruhm machst du dahs hier? Gibt es keine bessere Ahrbeit fur dich?“

Gute Frage, Jegor. Wahrscheinlich bin ich der einzige hier mit 'nem Uniabschluss der Geisteswissenschaften. Aber vielleicht bin ich ja gerade DESHALB hier!

„Mach besserr wahs Vernunftiges. Größte Scheißbaustelle von Welt. Keine gute Maschinen, nur Handmischer. Schlechtwettergeld? Wir sind nicht mal verrsichert. Schwarrz, verstest du?“

Karl schluckte, als Jegor ihm seinen Fuß entgegenstreckte. Er trug einfache Turnschuhe statt der vorgeschriebenen Stahlkappen.

Montag, 18. Februar

Habe 39 Fieber und Halsschmerzen. Nach zwei Tagen auf dem Bau im strömenden Regen bin ich fertig. Hoffentlich bekomme ich meine Kohle, der Fettsack klang am Telefon nicht gerade ermutigend. Jetzt steht wahrscheinlich Mustafa wieder am Mischer. Alles, um seine Frau und seine drei Kinder zu füttern. Jegor ist vor zwei Monaten Vater geworden, er ist vier Jahre jünger als ich. Wollte mich bei Steve melden, bin aber viel zu kaputt. Ich muss einen Job finden, dem ich auch gewachsen bin. Habe mich körperlich selten so schlapp gefühlt wie heute.

8

Das Telefon klingelte. Karl richtete sich mühsam auf und griff zum Hörer.

„Hallo?“

Mann, ich klinge wie Barry White!

„Hallo, hier ist Mama. Bist du krank?“

„Ja, mich hat’s voll erwischt.“

„Du Ärmster. Ich wollte fragen, wann du die Wäsche abholst? Soll ich Papa vorbei schicken?“

„Das wäre superlieb. Ich sollte wohl im Bett bleiben.“

Karl musste husten.

„Gut, schon dich ein bisschen, Papa kommt dann gleich.“

„Danke, bis dann!“

Karl legte auf und sank zurück ins Bett.

Als es an der Tür klingelte, wachte er auf. Er sah auf die Uhr. Seit er mit seiner Mutter telefoniert hatte, war eine gute Stunde vergangen. Er schwankte in den Flur und drückte auf den Summer.

Nach kurzem Warten öffnete er die Wohnungstür. Sein Vater stand schon davor und streckte ihm einen Wäschekorb entgegen.

„Hallo mein Junge, du siehst ja zum Fürchten aus.“

„Hallo Papa!“

Karl ließ seinen Vater herein.

„Ich habe leider nicht so viel Zeit, aber Mama hat mir Fliederbeersaft mitgegeben, den musst du heiß trinken.“

Er stellte den Wäschekorb ins Zimmer und zauberte eine Flasche aus seiner Jackentasche.

„Hast du noch was vor?“

„Ja, heut ist Montag, ich treffe mich mit den Jungs zum Fußball.“

„Na dann, viel Spaß.“

„Danke. Ach ja, das hier hat Mama in der alten Jeans von dir gefunden.“

Er reichte Karl ein Stück Papier.

„Ist nichts mehr drauf zu erkennen. War’s was Wichtiges?“

Karl nahm den Zettel und betrachtete ihn.

„Keine Ahnung.“

„Also, ich muss los. Wenn du noch was brauchst, Susanne hat gesagt, sie schaut später noch mal bei dir rein.“

„Tschüss, und danke!“

Als sein Vater gegangen war, blieb Karl für einen Moment im Flur stehen. Er hielt noch immer den Papierschnipsel in der Hand.

Wo kommt das denn her? Kann mich nicht erinnern, es mitgenommen zu haben.

9

„Du hast die Anzeige rausgerissen und meintest, man könne nie wissen!“

Steve lag auf dem Rücken unter dem Spülbecken des Tresens und kämpfte mit einer Rohrzange.

Karl stand über die Bar gebeugt, nieste mehrmals und versuchte sich zu erinnern.

„Aber wieso habe ich dann über eine Woche gar nicht mehr daran gedacht?“

„Weil du genauso wenig davon hältst, wie ich auch, weil… Dreck!“

Das Geräusch unter der Spüle verhieß nichts Gutes.

„Den Eimer!“ rief Steve.

Karl rannte um die Bar herum und schob seinem jetzt nassen Freund einen Blechkübel zu. Nach einigen Minuten kroch Steve unter dem Waschbecken hervor. Der Kragen seines Hemdes tropfte und die Haare klebten an der Stirn.

„Ist alles nicht mehr so ganz frisch hier“, sagte er, während er sich mit einem Lappen die Hände trocknete, „uralte Bleirohre. Wenn ich das alles gewusst hätte, dann… Sag mal, hörst du zu?“

Karl zuckte zusammen. Er kniete auf dem Boden und wühlte in dem Stapel mit den alten Zeitungen.

Donnerstag, 21. Februar

Habe heute mit Frau Neuland von der Uni Halsterberg telefoniert. Ich soll morgen schon zu einem Vorstellungstermin für diese Projektgeschichte kommen. Worum es geht, wollte sie mir nicht sagen. Immerhin bekomme ich die Fahrtkosten erstattet. Weiß auch nicht, warum ich das gemacht habe. Auf jeden Fall war es schon seltsam, dass Steve die gleiche Zeitung noch ein zweites Mal in seinem Café liegen hatte. Er war gar nicht einverstanden, aber ich habe keine Wahl, irgendeinen Job muss ich machen.

10

Karl ging den Korridor entlang und betrachtete die Bilder an der Wand. Es waren alte Stiche, die Motive aus der Literatur darstellten: Wilhelm Meister und die Schauspielgruppe nach dem Überfall der Räuber, der Automat aus Hoffmanns Sandmann, Raskolnikow mit der Axt unter seinem Mantel, der geheimnisvolle Garten aus Hamsuns Victoria und viele weitere Szenen. Neben der Tür mit der Nummer 31 hing eine Bleistiftzeichnung, die einen Mann mittleren Alters zeigte, der angezogen auf dem Bett lag und ausdruckslos vor sich hinstarrte. Karl trat einen Schritt näher und las die Bildunterschrift: Oblomow.

Nie gehört. Muss ich den kennen?

Nachdenklich klopfte er an die Tür.

„Immer herein“, erklang von drinnen eine freundliche Frauenstimme.

Karl öffnete und trat in ein Arbeitszimmer, das auf den ersten Blick den Eindruck vermittelte, hier herrsche das vollständige Chaos. Überall waren Bücher und Aktenordner zu Stapeln aufgetürmt, die Regale an den Wänden bogen sich unter der Last von Lederbänden und mittendrin saß an einem Tisch mit Computer eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, die Karl gutgelaunt begrüßte.

„Was kann ich für Sie tun, junger Herr?“

Noch etwas verwirrt um sich schauend erwiderte Karl: „Ich bin hier wegen der Anzeige. Habe ich mit Ihnen telefoniert?“

„Ah, Sie sind der Herr Grün. Freut mich sehr. Ja, mit mir haben Sie gesprochen. Setzen Sie sich.“

Da Karl nicht sofort reagierte, blickte Frau Neuland auf den angebotenen Stuhl, auf dem ein weiteres Büchertürmchen seinen Platz gefunden hatte.

„Oh, stellen Sie es einfach auf den Boden.“

Karl griff nach dem Stapel und setzte ihn behutsam auf das graue Linoleum. Zuoberst lag eine in rotes Leinen gebundene Ausgabe von Schlegels Lucinde.

„Der Herr Professor Hardenberg ist noch in einer Besprechung, er müsste aber jeden Augenblick hier sein.“

„Ich bin schon sehr gespannt, um was es hier geht. Viel erfahren habe ich ja bisher noch nicht.“

Karl sah Frau Neuland neugierig an.

Sie blätterte in einigen Unterlagen und antwortete erst nach einem Moment: „Es ist vielleicht auch besser, wenn Ihnen das der Professor nachher selbst erzählt.“

Was wird das hier wohl? Um Medikamententests kann es nicht gehen, schließlich bin ich in der Philosophischen Fakultät. Aber was soll hier ein Proband machen? Bücher lesen zu Testzwecken? Warum bin ich überhaupt hierhin gefahren? Das Ganze wirkt doch wirklich alles andere als vielversprechend. Vielleicht hätte ich doch noch einmal bei der Jobbörse mein Glück versuchen sollen. Steve hatte wahrscheinlich von Anfang an Recht gehabt. Los, steh auf und geh einfach wieder!

In diesem Moment ging die Tür auf und ein Mann betrat das Zimmer. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, himmelblaues Hemd mit blau-weiß gestreifter Krawatte und schwarze Budapester. Die weißen Haare waren sorgfältig gescheitelt, auf der Nase saß eine Lesebrille.

Na, der trägt das Prädikat „Älterer Herr“ aber mit selten anzutreffender Würde.

Er schien Karl zunächst nicht zu bemerken.

„Es ist nicht zu glauben. Ich sitze drei Stunden in dieser Konferenz, es herrscht eine unbeschreibliche Aufregung und was ist das Ergebnis? Wir werden den ganzen Stress nächste Woche noch einmal wiederholen, um dann endgültig abzustimmen.“

Er betonte das Wort Stress, als sei es einer schwer zu erlernenden Fremdsprache entliehen.

Frau Neuland lächelte: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde für Sie schon eine passende Ausrede finden. Ich weiß, wie träge diese Dekanatskonferenzen sind.“

„Sie sind ein Engel!“

„Wir haben übrigens einen Gast, da sitzt der Herr Grün!“ Frau Neuland nickte leicht mit dem Kopf.

Der Mann drehte sich zu Karl und reichte ihm die Hand. Seine Augen schienen einen Lichtschein zu verteilen, als sie den Gast ruhig anblickten.

„Entschuldigen Sie vielmals Herr Grün, Hardenberg mein Name, aber diese Bürokratie nagt manchmal an meinen Nerven. Was können wir für Sie tun?“

Karl schaute den Mann etwas verwundert an.

„Der Herr Grün“, schaltete sich Frau Neuland ein, „ist ein Bewerber für das Projekt. Er hat um halb zwölf einen Termin bei Ihnen.“

Professor Hardenberg fasste sich an den Kopf.

„Was wäre ich ohne Sie, Frau Neuland? Kommen Sie, junger Mann, gehen wir nach nebenan.“

 

Er führte Karl durch eine Tür links vor dem Schreibtisch in sein Büro. Hier herrschte ein ähnliches Durcheinander wie im Vorzimmer, allerdings auf höherem Niveau. Die Stapel der herumliegenden Bücher waren alle sehr akkurat geschichtet und schienen einer bestimmten, aber nicht zu erkennenden Ordnung nach sortiert zu sein.

„Setzen Sie sich! Möchten Sie etwas trinken?“

Der Professor wies mit seiner schlanken Hand auf einen Ledersessel, der mit zwei baugleichen Pendants eine Sitzgruppe an einem Art-Deco-Tischchen bildete.

„Ein Kaffee wäre schön.“

Karl versank in den Tiefen des Sitzmöbels.

Im selben Moment öffnete sich die Tür und Frau Neuland kam mit einem Tablett herein.

„Ah, Sie können einfach Gedanken lesen!“

Der Professor lachte, während seine Assistentin zwei dampfende Tassen und ein Milchkännchen auf den Tisch stellte, um dann sogleich wieder lautlos durch die Seitentür zu verschwinden.

Besser ich wundere mich über gar nichts mehr. Einfach mal abwarten.

Professor Hardenberg ließ sich in einen der anderen Sessel gleiten, griff nach seiner Tasse und rührte einen Moment nachdenklich mit dem Löffel darin herum.

Er hat sich keine Milch eingegossen! Der Mann hat Seltenheitswert. Irgendwie flößt der einem Respekt ein, scheint aber nicht so ganz dicht.

Der Professor rührte konzentriert weiter. Nach einer Weile brach er unvermittelt das Schweigen: „Herr Grün, was wissen Sie über die Muße?“

Bitte? Was ist los?

Der Professor machte aber keinerlei Anstalten, die Frage zu wiederholen oder ihr einige erklärende Sätze hinzuzufügen.

„Na ja, Muße heißt, glaube ich, so viel wie nichts tun, faulenzen oder so ähnlich.“

Karl verschränkte die Arme und sah suchend an die Zimmerdecke.

Hardenberg betrachtete ihn und rieb sein Kinn.

„Nicht schlecht, aber keinesfalls ausreichend. Da haben Sie wohl eher die landläufige Vorstellung des Müßiggangs vor Augen. Der wird ja gemeinhin mit Faulenzerei gleichgesetzt. Wenngleich er doch dem Wortursprung nach das Aufsuchen der Muße ist. Und die bedeutet doch noch viel mehr.“

O.K., aber davon habe ich keine Ahnung. Die Verbindung zur Annonce in der Zeitung kriege ich auch noch nicht so ganz hin. Wahrscheinlich ist der Prof einfach ein bisschen durchgedreht.

Der Professor stellte seine Tasse wieder ab, ohne einen einzigen Schluck getrunken zu haben, und stand auf.

„Sokrates hat einmal gesagt, ‚Muße ist der schönste Besitz von allen’“, hob er an und blieb hinter seinem Sessel stehen. „Bei den Griechen war die Muße allein den Göttern vorbehalten. Nur sie konnten sich dem süßen Nichtstun hingeben, während die Menschen ihrem Tagwerk nachgehen mussten. Erst durch die Einführung der Sklaverei konnten dann auch die Reichen, die Adligen der Muße frönen. Unsere gesamte moderne Philosophie wäre doch unvorstellbar ohne den sinnierenden Denker, der sich frei dem Lauf der Gedanken hingibt.“

Worauf will der hinaus? Oh Steve, du hattest Recht, wie immer...

Hardenberg fuhr fort: „Die Künstler, die Denker, die Poeten, sie haben die Muße als Bedingung verstanden, um dann wirklich Großes schaffen zu können.“

Langsam schritt er zu einem der Bücherregale und zog einen Band heraus.

„Sehen Sie hier, ein ganz einfaches Lexikon. Ich will Ihnen kurz vortragen, was hier über die Muße steht.“ Er blätterte, während Karl abwartend an seinem Kaffee nippte.

„Muße“, las der Professor laut, „das tätige Nichtstun; spezifische Form schöpferischer Verwendung von Freizeit; Möglichkeit und zugleich Grundbedingung der Selbstfindung, der kreativen Selbstverwirklichung, des Selbstseins wie auch der Partizipation und Verwirklichung von Kultur, auch Kunst, ja der Freiheit selbst…“

Hardenberg sah Karl an und wartete auf eine Reaktion.

„Ja verstehen Sie denn nicht, junger Freund? Die Muße ist die absolute Vollendung des Menschseins, die wir vollkommen verlernt haben. Wir definieren uns über Arbeit, Beruf, Hobbys. Aber von der Muße, da wissen wir überhaupt nichts mehr. Zugegeben, es ist gut, dass es keine Sklaverei mehr gibt, doch dafür haben wir ja die Maschinen erfunden.“

Der Professor wirkte erregt.

„Wann, lieber Herr Grün, wann haben Sie sich denn das letzte Mal so richtig der Muße hingegeben? Überhaupt jemals?“

Karl überlegte.

„Ich war letzte Woche im Kino und…“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Hardenberg, „warten Sie, ich werde Ihnen noch etwas vorlesen.“

Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Buch, das auf einem der Stapel lag und setzte sich Karl wieder gegenüber. Konzentriert schlug er das Buch an einer Stelle auf, in der ein Zettel eingesteckt war.

„Hier, Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, viel zitiert, oft falsch interpretiert. Wie dem auch sei, hören Sie: 'Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein.' Dann erklären sie, wie die Amüsierwaren nur noch Abbild des Arbeitsvorganges sind, nach welchen Automatismen unsere Freizeit abläuft. Und dann hier: 'Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amüsement'.“

Der Professor klappte das Buch wieder zu.

„Verstehen Sie? Das was Sie für Muße halten, ist nichts Anderes als eine weitere Form unseres mechanisierten Lebens!“

Karl war immer tiefer in seinen Sessel gerutscht und schluckte. Der Professor hatte mit einer solchen Intensität gesprochen, dass er sich nicht traute, das eingetretene Schweigen zu brechen. Nach einigen Augenblicken setzte sich Hardenberg wieder hin und griff nach seiner Tasse.

„Niemand in unserer Roboterwelt hält doch länger als fünf Minuten aus, ohne sich mit irgendetwas zu beschäftigen. Arbeiten, spielen, gucken, hören. Wo soll denn da noch Zeit für den freien Geist bleiben?“ setzte er seine Ausführungen fort, während ein Schatten über sein Gesicht wanderte.

„Entschuldigen Sie“, wandte Karl vorsichtig ein, „aber die meisten Menschen arbeiten doch um zu leben.“

„Ja, da haben Sie recht. Aber noch weitaus verbreiteter ist die Annahme, dass wir uns auch über unsere Arbeit definieren. Das haben wir zu nicht wenigen Anteilen dem Calvinismus und der protestantischen Ethik zu verdanken. Da wurde Erfolg mit Arbeit gleichgesetzt, Misserfolg dagegen war der Beweis, dass man nicht zu den Erwählten gehört. Also begann man zu schuften, legte den Grundstein für den Markt und die spätere Industrialisierung. Und was gab man auf? Aristoteles brachte es auf den Punkt: ‚Die Muße ist die Schwester der Freiheit!’ Wir haben uns der Knechtschaft des Marktes übergeben. Natürlich konnten wir dafür dem katholischen Frondienst abschwören!“

„Vielleicht hängt es ja auch mit dem Geld zusammen", sagte Karl, „Schließlich muss man arbeiten, um Geld zu verdienen, von dem man dann seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Das ist ja unter anderem auch der Grund, warum ich heute hier bin.“

Jetzt musste der Professor schmunzeln.

„Eine nicht ganz ungeschickte Überleitung Herr Grün. Sie gefallen mir. Aber bedenken Sie, Oscar Wilde sagte nicht zu unrecht: 'Muße, nicht Arbeit ist das Ziel des Menschen'.“

Er richtete sich wie ein Birkenstamm in seinem Sessel auf und sah Karl mit festem Blick an. Offensichtlich überlegte er nach einem passenden Folgesatz.

Schließlich räusperte er sich und begann: „Herr Grün, was würden Sie davon halten, ein Jahr lang nichts zu tun?“

Karl stutzte.

Der spinnt!

Hardenberg fuhr fort: „Ich meine, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten den Auftrag, zwölf Monate lang jede Form von Arbeit zu vermeiden und sich voll und ganz der Muße hinzugeben. So wie ein griechischer Gott.“

Er verzog bei diesem letzten Satz keine Miene, obwohl Karl fast lachen musste.

„Nun“, sagte Karl, „ich glaube kaum, dass es dazu eine Möglichkeit gäbe. Ich meine, wovon sollte ich leben, wenn ich mich einzig dem Müßiggang hingebe? Wer sollte so verrückt sein und mich dafür bezahlen, dass ich nichts tue?“

„Ich würde so jemanden nicht als ‚verrückt’, wie Sie sagen, bezeichnen. Vielleicht eher neugierig und interessiert. Außerdem verwechseln Sie da schon wieder den Begriff!“

Nein, nein, ich verstehe nichts, will nichts verstehen, will nach Hause. Was brabbelt der da von Muße? Ich brauch einen Job, einen guten Job, mit dem ich Geld verdienen kann. Dieser Mensch macht offenbar seine Kohle mit dem Zusammenbau von Tagträumen. Mann, ich sitze seit ’ner knappen halben Stunde hier und weiß nicht mal, worum es geht. Wo ist das Vorstellungsgespräch?

Gerade als Karl dies fragen wollte, öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum, der offensichtlich ein Vertrauter des Professors war. Jedenfalls nickte er beim Hereingehen Hardenberg nur kurz zu und streckte Karl die Hand hin.