Zeit ist nicht das Problem

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Er schien Ende dreißig und trug das schüttere, dunkelblonde Haar streng zurückgekämmt. Der graumelierte Vollbart machte ihn etwas älter als er vermutlich war und im Gegensatz zu dem Professor wirkte er weniger elegant.

„Und, ist das unser Proband?“ fragte er an den Professor gewandt, während er Karls Rechte kräftig umklammerte.

„Wir werden sehen“, antwortete Hardenberg, „Das, lieber Herr Grün, ist Dr. Kiefer, der Mitinitiator des Projektes.“

„Sehr erfreut“, erwiderte Karl, „aber von welchem Projekt sprechen Sie denn eigentlich?“

„Oh, ich dachte, ich hätte mich deutlicher ausgedrückt. Die Sache mit der Muße!“

Der Professor schien langsam ein wenig müde zu werden.

„Ich sehe schon, ich bin genau richtig gekommen“, schaltete sich Dr. Kiefer ein. „Herr Grün, was haben Sie bisher gemacht? Ich meine beruflich?“

Endlich! Das Bewerber-Arbeitgeber-Ritual beginnt. Dann wollen wir in den Tanz mal einsteigen.

„Ich habe bis vor kurzem studiert, Magister in Philosophie, und bin seitdem auf Jobsuche. Während des Studiums habe ich ein Praktikum bei einem Radiosender gemacht und in den Semesterferien ab und zu in einer Fabrik gejobbt.“

„Dann haben Sie die Arbeitswelt ja schon ein wenig kennen gelernt.“

Der Doktor nickte zufrieden.

„Und was hat sie zur Philosophie getrieben?“

„Hm“, Karl überlegte kurz, „ich habe mich einfach immer für verschiedene Ansichten über die Welt und die Menschen interessiert. Ich wollte den Dingen auf den Grund gehen, Erklärungen bekommen und auf jeden Fall meinen Horizont ein wenig erweitern.“

„Und was halten Sie vom Arbeiten?“

Dr. Kiefer sah ihn prüfend an.

Nein, nicht schon wieder. Was wollen die?

„Wie ich schon sagte, man muss wohl arbeiten, um leben zu können. Arbeit gehört einfach dazu.“

„Sind Sie davon überzeugt?“

„So überzeugt wie ich sicher bin, dass man Luft zum Atmen braucht.“

Karl betonte seinen letzten Satz, als wolle er das Thema damit endgültig beenden.

Die beiden Hochschullehrer sahen sich an.

„Ideal, würde ich sagen, was meinen Sie?“

Dr. Kiefer schien schon überzeugt.

„Ja, das klingt tatsächlich ganz vielversprechend“, stimmte Hardenberg zu. „Und, machen Sie mit?“

„Ja wobei denn?“

Karls Stimme wurde vor Ungeduld schon laut.

„Ein Jahr lang Muße! So wie es Herr Hardenberg erklärt hat“, übernahm Kiefer wieder das Wort, „Sie halten sich von jeglicher Arbeit fern und gehen einfach nur ihren Gedanken und Wünschen nach!“

„Entschuldigung, aber versuchen Sie mich hier auf den Arm zu nehmen?“

Karl musste sich ein bisschen beherrschen.

„Wovon soll ich denn leben, ich meine, wer bezahlt mir das?“

„Wir!“ entgegnete Kiefer mit pragmatischem Tonfall, „Sie bekommen jeden Monat eintausendzweihundert Euro netto, unter zwei Bedingungen: Sie dürfen nichts tun, was im weitesten Sinn Arbeit oder berufliche Tätigkeit ist, und Sie dürfen nicht verreisen. Weder im Inland noch ins Ausland.

„Soll das ein Witz sein?“

Karl begann sich wirklich aufzuregen.

„Ich habe fast vier Stunden im Zug gesessen, um mich bei Ihnen um eine Probandentätigkeit zu bewerben. Und dauernd höre ich hier irgendwas von Muße! Ich brauche einen Job, verstehen Sie?“

„Genau wie bei den anderen, gleich springt er auf und rennt raus“, dachte Dr. Kiefer und blickte Karl ruhig an. Professor Hardenberg lächelte ein wenig matt und goss Milch in seinen kalten Kaffee.

Freitag, 22. Februar

Ich kann es nicht fassen. Wahrscheinlich bin ich bescheuert, aber ich habe soeben den wohl beklopptesten Arbeitsvertrag der Weltgeschichte unterschrieben. Ich werde ein Jahr lang dafür bezahlt, nichts zu tun, im Klartext: für Müßiggang und Faulheit. Wenn ich das hier in zehn Jahren lese, werde ich denken, ich war besoffen. Aber ich habe alles schriftlich, mit Stempel und allem dazu. Das Bundesbildungsministerium fördert das Forschungsprojekt der Philosophischen Fakultät der Universität Halsterberg mit dem Titel „Wahrnehmung und Veränderung des Individuums in der postmodernen Arbeitsgesellschaft unter dem Einfluss von Muße.“ Wahnsinn, wofür die ihre Gelder verplempern! Ich darf nichts tun, muss mich nur regelmäßig bei der Uni vorstellen, um über meine Erfahrungen zu berichten. Diese beiden Profs sind der Hammer. Entweder sind die total durchgedreht oder genial. Ich kann es kaum erwarten, was Steve wohl dazu sagen wird.

11

„Du willst mich verarschen, oder?“

Steve stand auf einem der Tische in seinem Café und schraubte an einer Lampenfassung herum, die an einem langen Kabel von der Decke hing. Er trug nur ein Unterhemd, das vom Schweiß schon klebte, und eine fleckige Arbeitshose.

„Nein! Wo denkst du hin!“

Karl stand noch immer in der Nähe der Tür.

„Die bezahlen mich ein ganzes Jahr lang dafür, dass ich nichts tue, absolut und überhaupt gar nichts.“

„Ich glaub dir kein Wort. Und wenn es stimmt, bring ich dich um!“

„Was hast du denn?“

„Och nichts! Ich bin ja bloß mit zigtausend Euro verschuldet und muss mir hier ab April einen abbrechen, um wieder Land zu sehen.“

„Ich kann ja nichts dafür. Deine Schuld, wenn du Zeitungen statt Malerfolie zum Abdecken benutzt!“

„Und was sagt deine Familie dazu?“

„Ich hab’ denen noch gar nichts erzählt. Ich denke, ich werde so tun, als ob ich für diese Uni etwas schreibe.“

Karl unterstrich seinen Satz, indem er selbst wie in Zustimmung nickte.

„Vielleicht keine schlechte Idee“, murmelte Steve, „ich kann mir nicht vorstellen, dass Susanne vor Freude in die Luft springt, wenn sie hört, dass ihr lieber Bruder fürs Faulenzen bezahlt wird.“

„Es geht nicht ums Faulenzen, es geht um…“

„Verdammte Sch…“, schrie Steve und sprang vom Tisch. Er hielt sich die rechte Hand.

„In dieser Bude ist aber auch alles vermurkst. Da liegt Strom auf dem Massekabel!“

Karl wusste nicht, was er sagen sollte. Stattdessen rannte er zur Theke und holte seinem blassen Freund ein Glas mit Wasser.

„Danke“, brummte Steve und setzte das Glas an die Lippen.

„Kann ich dir vielleicht bei irgendwas helfen?“ fragte Karl.

Steve lächelte mühsam.

„Darfst du das denn? Ich meine, laut deinem Vertrag?“

„Spar dir deine blöden Bemerkungen, sonst bin ich gleich wieder weg. Dann kannst du hier alleine rumpfuschen! Das Projekt beginnt erst nächsten Freitag. Da ist der erste März.“

„Na, dann kannst du mit mir vielleicht nächste Woche die Fußleisten annageln.“

Steve grinste und schüttelte den Kopf.

12

Freitag, 1. März

Es ist so weit, heute beginnt also das Projekt. Ich weiß noch nicht so recht, wie ich mich fühlen soll. Die letzten Tage waren anstrengend, habe mir mindestens dreimal auf die Finger gehauen. Jetzt habe ich endlich Zeit für alles, was so lange liegen geblieben ist. Aber, nichts tun, was heißt das denn eigentlich? Darf ich Musik hören? Oder lesen? Das ist ja eigentlich keine Arbeit oder? Vielleicht sollte ich damit anfangen, meine Bude mal richtig aufzuräumen. Das ist dann natürlich schon Arbeit. Oh Mann, was soll ich denn die ganze Zeit machen?

Karl lag in Jeans und Pullover auf dem Bett und starrte an die Decke seines Zimmers. Die Spinnweben in der Ecke bewegten sich sanft im Strom der aufsteigenden Heizungsluft.

Wo sind die wohl hingekrabbelt? Sind die noch irgendwo im Zimmer, oder haben sie schon den Weg durch die Fensterritzen nach draußen gefunden?

Seine Gedanken kreisten seit einer halben Stunde um dieses Thema. Der Kalender über dem Kopfende seines Bettes zeigte den 6. März.

Eine Woche voller entsetzlicher Langeweile.

Karl hatte außer seinen lebensnotwendigen Verrichtungen tatsächlich nichts getan, was auch nur entfernt an Arbeit erinnern könnte. Auf dem Fußboden in seinem Zimmer lagen Schallplattenhüllen und verschiedene Zeitschriften.

Es ist schon seltsam, wie man sich doch tatsächlich immer genau das wünscht, was man gerade nicht hat. Während meiner Prüfungsphase hätte ich gerne mehr Zeit für meine Leidenschaften gehabt. Jetzt habe ich alle Zeit auf diesem Planeten und will sie dafür nicht mehr nutzen. Die Tage verstreichen, ohne dass ich mich daran erinnern kann, was ich erlebt habe. Ich muss was machen!

Er setzte sich auf die Bettkante. Gähnend riss er das Kalenderblatt des heutigen Tages ab, um sich den Spruch laut vorzulesen:

„Meiner Meinung nach ist es eine Schande, dass auf der Welt so viel gearbeitet wird. William Faulkner.“

Achtlos ließ Karl das Blatt auf den Boden fallen und schlurfte in die Küche.

Hier sieht es mittlerweile aus wie nach einem Angriff tollwütiger Paviane!

Die Schränke standen offen, überall lagen Essensreste und angebrochene Lebensmittel-Packungen herum. Von einem Spülberg konnte nicht mehr die Rede sein, sein Geschirr stapelte sich eher in Form einer Müllhalde. Zielsicher fischte Karl sich aus der Obstschale auf seinem Kühlschrank den letzten Apfel, der noch nicht vollständig verfault war, ging zurück ins Zimmer und nahm das Telefon. Während er Steves Nummer wählte, kratzte er mit der anderen Hand die Bartstoppeln an seinem Kinn.

 

„Hier ist der Anrufbeantworter von Steve. Bin momentan nicht zu erreichen. Die Strandbar wird am ersten April geöffnet. Kein Scherz!“

Lange nichts mehr gehört, alter Kumpel. Was mach ich also mit dem Rest des Tages?

Er legte wieder auf. Als er sich gerade wieder hinlegen wollte, klingelte es an seiner Wohnungstür.

Bin nicht da. Ich erwarte keine Besuche. Audienz erst wieder in einem Jahr!

Die Klingel wurde erneut gedrückt, diesmal etwas länger. Gleichzeitig klopfte jemand an die Tür. Mit einiger Ansrengung erhob sich Karl vom Bett und bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer Weinbergschnecke an einem heißen Julitag in den Flur. Er sah durch die Linse seines Türspions. Im Treppenhaus stand seine Schwester, die den Knopf seiner Klingel gedrückt hielt. Karl öffnete die Tür.

„Willst du mit deinem Finger ein Loch in die Wand bohren?“

Susanne ließ den Knopf los.

„Hallo Bruderherz, wie siehst du denn aus? Hast du unter ’ner Brücke geschlafen?“

Sie wartete nicht, bis Karl sie hereinbat, sondern schlüpfte an ihm vorbei in seine Wohnung. Karl schloss die Tür und gähnte.

„Mein Gott, was ist denn hier passiert?“

Seine Schwester war in der Küchentür stehen geblieben.

„Mensch Karl, wenn du hier drinnen was isst, liegst du bald auf meiner Station!“

„Ja, hatte viel zu tun“, brummte Karl, „bin nicht so richtig zum Aufräumen gekommen.“

Er blickte seine Schwester etwas hilflos an.

„Ich wollt mal sehen, was du so machst. Papa hat erzählt, dass du für ein Institut in Hastelberg eine Forschungsarbeit schreibst.“

„Halsterberg! Na ja, so was Ähnliches wie 'ne Arbeit.“

„Was meinst du?“

„Das ist so ein Projekt am Philosophikum und ich muss das dokumentieren.“

„Superantwort. Da weiß ich ja genau, was du machst! Egal! Hör zu, Brüderchen. Ich habe zwar eigentlich meinen freien Nachmittag, aber ich bin ausnahmsweise bereit, dir bei der Beseitigung dieses Gesundheitsrisikos hier zu helfen.“

Karl zuckte ein bisschen zusammen.

Ich darf nicht arbeiten, Schwesterchen. Keinen Handschlag!

„Ich weiß nicht“, stammelte er, „vielleicht ist das heute nicht so günstig.“

„Wann denn dann?“ erwiderte Susanne, die bereits ihren Anorak ausgezogen hatte und sich die Ärmel ihres leicht verfilzten Pullovers hochkrempelte.

Ohne auf Karls Reaktion zu warten kramte sie im Schrank unter der Spüle und fischte eine Rolle mit Mülltüten hervor.

„Na also!“

In wenigen Augenblicken verschwanden die Essensreste, Joghurtbecher, Cornflakes-Packungen und Pizzakartons in den blauen Säcken. Schicht für Schicht arbeitete sich Susanne auf den Grund der Arbeitsplatte und des Küchentisches vor.

„Steh nicht im Weg rum. Tu was! Geh in dein Schlafzimmer und sorg da ein bisschen für Ordnung. Ich mache das hier schon!“

Zu Befehl!

Wortlos trottete Karl in sein Zimmer.

Womit fange ich an?

Er begann mit den Schallplatten, die er vom Boden aufhob und gewissenhaft an den alphabetisch richtigen Stellen in seinem Regal einsortierte.

„Wie konnte ich mit meinen Schätzen nur so sorglos umgehen?“ schimpfte er leise mit sich selbst und beeilte sich, auch die restlichen Platten wieder in die Obhut seiner Sammlung zu bringen. Danach machte er mit den Zeitschriften weiter. Für sie hatte er Stehordner eingerichtet, in denen sie nach Themengebieten geordnet waren, hauptsächlich alte Musikmagazine und Kinohefte. Als er damit fertig war, sammelte er die Kleidungsstücke ein, die überall im Zimmer verteilt lagen und trug sie ins Badezimmer, wo er sie in einen Wäschesack stopfte.

Seit einem knappen Monat ist meine Waschmaschine jetzt kaputt, vielleicht sollte ich mal was machen!

Es dauerte fast zwei Stunden, bis Karl sein Zimmer wieder hergerichtet hatte. Sorgfältig wischte er den Staub von den Regalen, rannte im Zickzack mit dem Staubsauger von Ecke zu Ecke, schlug seine Bettdecke am Fenster aus und rückte die Bücher gerade.

Erschöpft blickte er auf sein Werk.

Sieht ja wieder ganz gemütlich aus. Mal gucken, was Schwesterchen so veranstaltet hat.

Er lief in die Küche.

Uahh! Das ist ja wie im blödesten Werbespot, den ich jemals gesehen habe. „Und in der Küche sieht man flugs, wie Putziputz vertreibt den Schmutz.“

Das Geschirr war gespült und säuberlich in die Schränke sortiert, der Herd von sämtlichen Krusten alter Suppen und Soßen befreit und auf dem Tisch stand nichts außer der Obstschale, die gähnend leer nach neuer Füllung verlangte. Staunend betrachtete Karl abwechselnd die spiegelblanke Arbeitsplatte und die sieben Müllsäcke, die in der Mitte der Küche standen und jeden Augenblick zu platzen drohten.

„So, und jetzt gehst du einkaufen und besorgst was zu essen. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um dein Bad!“

Susanne sah ein bisschen müde aus.

„Musst du nicht, ich...“

„Karl, halt einfach die Klappe und bring den Mist hier raus!“

Folgsam packte er die Abfallsäcke und schleppte sie ins Treppenhaus.

Ungefähr eine Stunde später saß er mit seiner Schwester in der Küche beim Essen. Er hatte Köstlichkeiten vom orientalischen Supermarkt um die Ecke mitgebracht und jetzt machten sie sich über die gefüllten Weinblätter, die eingelegten Oliven und den Couscous her.

„Oh Mann, ist das lecker. Aber mehr als fünfhundert Kalorien darf ich jetzt nicht essen. Du weißt ja, ich muss so auf mein Gewicht aufpassen.“

Susanne sah besorgt an ihrem Rumpf herunter.

„Was ist denn das genau für ein Projekt?“ fragte sie schnell, um vom Thema abzulenken.

Wenn ich dir jetzt die Wahrheit sage, erstickst du an deinen Dolma oder springst mir einfach ins Gesicht!

„Ich soll ein paar Beobachtungen dokumentieren, die man im Alltagsleben so macht. So Sachen wie Wahrnehmung und ähnliches.“

Wow, Meister Grün, das klang ja so überzeugend wie die Presseerklärung der Kernenergievereinigung zum Thema Reaktorsicherheit.

„Versteh ich nicht. Aber ihr Geisteswissenschaftler seit mir sowieso ’ne Nummer zu abgedreht. Erzähl’s mir ein anderes Mal.“

Susanne tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und stand auf.

„So, Kleiner, ich mache mich dann mal auf, um noch ein bisschen Zeit in der Stadt zu verbringen. Kommst du jetzt alleine klar?“

Aber sicher. Ich bin ein verlogener kleiner Meuchelmörder.

„Wie soll ich dir danken? Ich verspreche dir...“

„Erspar mir das. Habe keine Lust, das hier zu wiederholen. Mann, du bist doch keine drei Jahre mehr alt! Auf jeden Fall wünsche ich dir viel Erfolg bei deinem neuen Job.“

Ich hasse diesen Ton.

Susanne grinste ihren Bruder an und breitete die Arme aus.

Danke. Nicht nur fürs Putzen! Du weißt, wann man aufhören muss zu fragen.

Zögernd drückte Karl seine Schwester.

„Susanne, hilft es depressiven Menschen, wenn sie nachts wach bleiben?“

Sie sah ihn verwundert an.

„Ja, man sagt, dass bei bestimmten psychischen Erkrankungen ein positiver Effekt durch Schlafentzug eintreten kann. Ist aber umstritten. Warum fragst du?“

„Ach, nur so, hab das irgendwo gelesen.“

„Was du so alles liest.“

Susanne schüttelte den Kopf und sah ihren Bruder streng an.

„Muss ich mir Sorgen machen, Karl?“

„Nee, alles bestens.“

„Na gut, ich bin dann weg.“

Sie drehte sich um und ging. Nachdenklich schloss Karl einige Momente später die Wohnungstür und hörte, wie Susannes Schritte im Treppenhaus verhallten.

13

Karl starrte auf den Fernseher und versuchte sich auf den Inhalt der Sendung zu konzentrieren.

„Der Koala-Bär ist ein eher friedlicher Geselle. Die meiste Zeit des Tages verbringt er mit dem Verspeisen von Blättern des Eukalyptusbaums, wobei er bei der Auswahl der Nahrung sehr sorgsam vorgeht, da viele der Blätter eine zu hohe Konzentration von Giftstoffen aufweisen...“

Ja, Nahrung immer sorgsam zusammenstellen.

Karl biss ein weiteres Stück von der Schokoladentafel, die er in der Hand hielt.

Schon wieder zwei Tage rum. Was ist daran jetzt Muße? Langeweile, das trifft es. Absolute Öde und Nichts. Superprojekt. Das wahrscheinlich langweiligste Jahr der Welt. Hab dauernd das Gefühl, etwas zu verpassen, könnte aber nicht mal sagen, was. Gestern Computer und Internet, heute Fernsehen – und nichts, was auch nur im Entferntesten ein Ion von Interesse enthalten hätte. Besser umschalten! Talkshow, na bravo!

Mann, was für ein Freak. Dieses Pickelgesicht hätte man in den Fünfzigern wohl als Halbstarken bezeichnet.

„...nee, isch will misch nisch auf eine Frau festlegen. Meine Freundin weiß das aber auch und muss das akzeptieren. Verstehste, isch bin ein Mann, isch will Spaß!“

Ein Wunder, dass dieser Primat überhaupt Frauen abkriegt. Weiter!

Im nächsten Programm ging es um junge Menschen, die nach Jahren ihre leiblichen Eltern wiedertrafen. Während im Kanon geflennt wurde, hob das Publikum auf Zeichen des Moderators bei jedem neuen Tränenschwall zu Applaus an.

Absurd! Warum tu ich mir das an?

Karl drückte den größten Knopf auf seiner Fernbedienung und sah erleichtert zu, wie der Heulchor mit einem Klicken im Schwarz der Bildröhre verschwand.

Das Nachmittagsprogramm ist die Hölle! Nichtstun auch!

Er sprang von seinem Bett auf und schaute aus dem Fenster.

Sportjackenwetter! Und dann ab in die Stadt. Ich muss unter Menschen.

An der Kreuzung stand eine Reihe von Leuten, die auf den Bus ins Zentrum warteten.

Nach vielen endlosen Minuten kam er die Straße entlanggekrochen, fast bis auf den letzten Stehplatz voll besetzt. Doch irgendwie schafften es die Wartenden, sich noch hineinzuquetschen. Karl wurde von seinem Hintermann die Stufe nach oben geschoben und in die Fahrgastmasse gepresst. Normalerweise dauerte die Tour bis zur Stadtmitte eine Viertelstunde.

Wenn ich bis dahin nicht erstickt bin. Bloß nicht einatmen. Jeder Spürhund wäre sofort wieder ausgestiegen. Willkommen im Reich der stinkenden Ameisen. Immer auf dem Weg von einem Ort zum anderen. Zur Arbeit, zu Omas Geburtstag, zum Einkaufen, zum Schwimmen. Stillstand findet nur nachts statt. Ob wir wohl tatsächlich biologisch so konzipiert sind, dass uns der Schlaf als einzige Möglichkeit zur Erholung ausreicht? Können wir unsere Energiereserven tatsächlich in acht Stunden oder weniger wieder so weit aufladen, einen kompletten nächsten Tag zu überstehen?

Karl schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als der Bus mit einem Ruck zum Stehen kam. Die Türen gingen auf und wie in einem Sog sprudelten die Fahrgäste auf die Straße, rissen ihn mit ins Freie. Es war zwar noch nicht die Haltestelle direkt im Zentrum, aber Karl stieg nicht zurück in den Bus. Er sah sich ein wenig um und lief dann auf die Tür des Einkaufszentrums zu.

Ah, der unvergleichliche warme Luftzug einer Kaufhaustür. Wie damals mit Mama und Papa am langen Samstag. Geschäfte bis vier geöffnet, was für eine Sensation. Erst Kleiderkaufen, Hosen immer zu lang, aber das lässt sich ja umkrempeln. Und wenn die Knie durch sind, kommen lustige Lederflicken drauf. Am schlimmsten war das Warten, wenn es ein bestimmtes Kleidungsstück für Mama sein sollte. Stundenlang konnte sie Blusen und Pullover in allen Farben und Schnitten anprobieren. Papa dagegen war immer sehr zielstrebig. Es gab eigentlich nur zwei oder drei Geschäfte, die er besuchte, wo er dann auch alles fand, was er brauchte. Und Mama regte sich auf. Probier doch mal was Neues. Niemals! Und zum Schluss gab es Cremehütchen, dieses Zartbitterzeug mit der köstlichsten Zuckerfüllung der westlichen Hemisphäre. Hattest du Glück, war unter der Schokoladenhülle Himbeere oder Zitrone, bei Mokka half nur runterschlucken oder ausspucken.

 

Wie ferngesteuert war Karl bei seinen Träumereien auf die Süßwarenabteilung zugestrebt, um vergeblich nach einer Theke mit frischen Cremehütchen zu suchen. Schließlich entdeckte er fertig abgepackte.

Niemals! Belassen wir es bei der schönen Erinnerung.

Als er gerade weitergehen wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Karl drehte sich um und lachte. Vor ihm stand Jegor von der Baustelle.

„Che Kaarrl, wie gäht ess dir?“

„Danke, ganz gut, dir aber wohl nicht so, was?“

Karl blickte auf die Krücken und den dicken Gipsverband um Jegors linken Fuß.

„Ja, blöder Mist. Da ist so Stahldings von Kran abgerissen. Miehttelfußbrruch.“

Karl schüttelte den Kopf. „Keine Sicherheitsschuhe, was? Und jetzt?“ fragte er den jungen Russen.

„Ja, kann nix machen. Kein Fuß, kein Arrbeit, kein Geld!“

Trotzdem lächelte Jegor.

„Schön, dich treffen hier!“

„Hast du Zeit? Lass uns einen Kaffee trinken gehen, ich lad dich ein!“

„Klingt sähr gut“, antwortete Jegor, „aber gähen wir langsam.“

Gemeinsam setzten sich die beiden nach einem kurzen Fußweg in ein Café in der Fußgängerzone. Obwohl sie sich erst so kurz kannten, bekam das Gespräch schnell eine persönliche Note, als Jegor von seinem Weg nach Deutschland erzählte.

„Chast du gehört, was ein Kontingentsflüchtling ist? Nein? Na, wir sind Juden und dürfen nach Deutschland kommen, wegen Geschichte mit Chitler damals!

„Verstehe. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber mir tut es sehr Leid und...“

„Stopp! Bitte! Ihr Deutschen und eure Geschichte. Immer schämen. Wie alt bist du? 27 oder 28? Was kannst du für Nazis? Die Russen lieben Deutschland.“

Jegor streute noch etwas Zucker in seinen Tee.

„Und Russen chassen auch Juden!“

„Wie?“

„Meinst du sind besser als Deutsche? Nie was gechört von Stalin? Als Jude du bist immer auf Flucht. Aber Scheißgeschichte! Wir sind seit drei Monaten chier.“

„Und woher kannst du so gut Deutsch?“

„Ist nicht gut. Aber chab ich gelernt in Schule und technische Universität. Bin Bauingenieur. Aber findet man keine Arbeit. Nur schwarz. Machen viele Kollegen, ist aber nicht gut. Alle chaben wir gute Ausbildung. Aber Integration gibt’s nicht. Arbeitslos oder schwarz, das sind die Chance. Verstehst du, chaben wir kleine Zweizimmerwohnung, brauchen Geld. Ich will endlich legal arbeiten! Sozialhilfe reicht nicht.“

Karl nickte ohne etwas zu sagen.

„Ist besser chier als dort, aber manchmal vermisse ich Land und Sprache“, fügte Jegor noch hinzu und blickte ein wenig melancholisch aus dem Fenster des Cafés.

„Sag mal, kennst du eigentlich Oblomow?“ fragte Karl plötzlich.

„Ja sicherr“, antwortete Jegor überrascht, „mussten wir in der Schule lesen!“

„Und worum geht es in diesem Roman?“

Jegor überlegte einen Augenblick.

„Es chandelt von einem Mann, der zu faul ist, um zu leben. Err liegt nur im Bett und macht nix!“

Karl schluckte.

„Ist ein gutes Buch“, fuhr Jegor fort, „aber sehr traurig. Warum frragst du?“

„Ach, nur so, habe davon kürzlich gehört!“

Schon wieder. Nichtstun! Ist wohl weiter verbreitet als ich dachte.

„Und was maachst du,Karrl?“

„Ach, nichts Aufregendes. Ich hab jetzt so einen Job an der Uni!“

„Besser als Baustelle!“

Eine Weile diskutierten sie noch über andere Arbeitsmöglichkeiten für Jegor. Karl beschloss, seinen Freund Steve bei nächster Gelegenheit zu fragen, ob er eine Idee hätte. Nach einer guten Stunde verabschiedete sich Jegor.

„Muss noch mal zu Arzt. Er ist Russe und stellt keine dumme Fragen!“ sagte er und drückte Karl die Hand.

Der blieb noch eine Weile in dem Café sitzen und starrte aus dem Fenster. Auf den Pflastersteinen der Fußgängerzone rannten die Menschen mit prall gefüllten Einkaufstaschen vorbei und strebten ihrem Feierabend entgegen.

Sonntag, 10. März

Schon wieder zwei Tage vorbei und ich habe nichts gemacht. Schlafe jeden Morgen bis um 11 und gehe, wenn überhaupt, gegen Abend kurz raus, um mir was zu essen zu holen. Die Langeweile ist zermürbend. Zeit wird wirklich zu einem Problem, wenn man nicht weiß, womit man sie füllen kann.

Es wird jeden Tag schlimmer. Habe allen erzählt, ich hätte an einem wichtigen Projekt zu arbeiten. Kann aber niemandem sagen, was ich wirklich mache. Oder besser gesagt, nicht mache. Steve ruft auch nicht mehr an. Der perfektioniert seine Bar und ist wahrscheinlich doch sauer, dass er schuftet, während ich rumsitze. Weiß ja selbst noch nicht einmal, was das Ganze soll. Alles, wozu ich in der Lage bin ist atmen, essen und schlafen. Letzteres in einem Ausmaß, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Der Termin mit den Professoren rückt näher. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was ich denen berichten soll.