Zensur im Dienst des Priesterbildes

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12 Die 2011 veröffentlichte John Jay-Studie etwa, die die Ursachen und den Kontext des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Priester in den USA zwischen 1950 und 2010 untersuchte, hat ermittelt, besonders die Weihejahrgänge der 1940er und 1950er Jahre hätten Schwierigkeiten mit Intimität gehabt. Dies könnte auch eine Konsequenz von Ausbildungsdefiziten sein, die eine angemessene psychosexuelle Reifung zum Teil be- bzw. verhindert hätten. Vielen späteren Tätern sei in der Ausbildung ein Zugang zur „human formation“ (TERRY u. a. [Hg.], Causes, 5) verwehrt geblieben. Viele Täter hätten deshalb eine „‘confused’ sexual identity“ gezeigt (ebd.). Exemplarisch machten auch HILPERT, Problem, 173–176 und KEENAN, Child Sexual Abuse auf die Wechselwirkungen zwischen psychosexueller (Un-)Reife, Seminarerziehung, Zölibatsverpflichtung und sexuellem Missbrauch aufmerksam und vgl. auch BUCHER, Geiz, 152. Dass einige Priester Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität bzw. dem Zölibat hatten, war der kirchlichen Autorität bekannt. Am 16. März 1962 gab es eine Neuauflage der geheimen Instruktion von 1922 „De modo procedendi in causis sollicitationis“ des Hl. Offiziums, was den Schluss nahelegt, das Hl. Offizium muss über sexuelle Missbräuche und Übergriffe informiert gewesen sein. PALLENBERG, Türen, 233 sprach sogar von einer Vielzahl an (wenn auch nicht immer begründeten) Meldungen an die örtlichen kirchlichen Instanzen und an das Hl. Offizium, sodass es „ein Formular zum Ausfüllen hat drucken lassen“. Bis es zu der Einleitung eines Verfahrens gekommen sei, habe man allerdings bis zur „dritte[n] Denunzierung“ gewartet (ebd.).

13 BÜNKER/HUSISTEIN, Zwischenhalt, 66.

14 Vgl. ebd.

15 Ebd., 65f

16 Vgl. ebd., 66.

17 Ein erster Teil des Nachlasses lag in digitaler Form (als Farbscans) seit Januar 2015 vor. Dieser erste Teil umfasste bereits 524 Scans. Im Dezember 2015 folgten weitere 57 Farbscans. Die einzelnen Dokumente waren nicht paginiert, aber grob chronologisch sortiert. Sie wurden von der zuständigen Archivarin im Staatsarchiv Luzern, Frau Elisabeth Vetter, zusammengestellt.

18 VETTER an Prof. Norbert Lüdecke per E-Mail am 17. Juli 2013. Die E-Mail liegt Vf.in vor.

19 Vgl. ebd.

20 StaLu, FREI, Interview v. 28. März 2007, 1. Der vorliegende Text ist mit einer Notiz versehen: „Notizen nach einem Interview mit einem elektronischen Gerät. Eine Fehlmanipulation des Interviewers nach Beendigung des Gesprächs löschte leider das Ton-Dokument. – Das Interview folgte einem schriftlich vorliegenden Plan. Diese Aktennotiz ersetzt das Ton-Dokument. Sie wurde von J. Crottogini am 3.4.2007 eingesehen, korrigiert und ergänzt“ (ebd.).

21 Ebd., 3.

22 Vgl. StaLu, MEIER u. a., Biographie.

23 Vgl. SCHELBERT, SMB-Archiv, o. S. sowie KANTON LUZERN, Staatsarchiv, o. S.

24 Beschreibungen etwaiger Besonderheiten wie z. B. handschriftliche Vermerke finden sich meist in den jeweiligen Anmerkungen.

25 In dem 2004er Interview mit Studierenden erzählte er, er habe immer gesagt, „es wäre ein Skandal, wenn ich jetzt ein Buch herausgeben würde über das Buch“ (StaLu, MEIER u. a., Biographie, 9). Darin dürfte aber mehr seine Enttäuschung über seine Erfahrungen mit dem Hl. Offizium erkennbar werden als eine tatsächliche Absicht, die Ereignisse zu veröffentlichen. Denn in keinem erhaltenen Brief an seinen Verleger hat er ein solches Vorhaben jemals angesprochen.

26 HENNING, Selbstzeugnisse, 135. Der sehr lange Nachruf für einen Mitbruder im Jahr 1999 habe ihn „zur Überprüfung meines eigenen Lebens und zu dessen möglicher Berichterstattung im Todesfall angeregt“, notierte Crottogini am 26. Feb. 2002 (StaLu, CROTTOGINI, Vorspann, 1).

27 Vgl. dazu ARNOLD, Umgang, 51.

28 StaLu, CROTTOGINI, Dokumentation, 2.

29 Archivar Albert FISCHER an Verf.in am 1. Sept. 2015 per E-Mail (H. v. Vf.in). Der Churer Generalvikar Martin Grichting bestätigte auf Anfrage vom 25. November 2015 diese Auskunft. Es handele sich um personenbezogenes Archivgut, für das eine Sperrfrist von 30 Jahren seit dem Tod des Betroffenen gelte. „Die Bistumsleitung möchte keinen Präzedenzfall schaffen, indem bereits drei Jahre nach dem Tod der betroffenen Person Archivbestände geöffnet werden.“ (GRICHTING an Norbert Lüdecke, 11. Dez. 2015, Schreiben liegt Verf.in vor). Eine Sondergenehmigung wäre gemäß § 32 der Benutzerordnung des Archivs in Chur („Anordnung über die Sicherung und Nutzung des bischöflichen Archivs Chur“) gleichwohl prinzipiell möglich gewesen, zumal Crottogini sich selbst schon an der Akte interessiert gezeigt hatte. Im August 2015 ging zudem eine Anfrage an den Churer Regens Martin Rohrer mit der Bitte um Auskunft über etwaige Archivbestände hinsichtlich der Fragebögen, die Churer Seminaristen einst für Crottogini ausfüllten. Rohrer leitete die Anfrage an Archivar Fischer weiter. FISCHER antwortete Rohrer am 21. Okt. 2015, er habe der Verf.in bereits mitgeteilt, im Churer Archiv gebe es keinen Nachlass Crottoginis. „Es entzieht sich auch meiner Kenntnis, wo ein solcher liegt bzw. aufbewahrt wird. Sämtliche Akten, welche mit Crottoginis Person in Zusammenhang stehen und bei uns oder in anderen kirchlichen Institutionen des Bistums Chur liegen könnten (z. B. Priesterseminar), so auch die Akten wegen Crottoginis Publikation ‚Werden und Kriese [sic!] des Priesterberufes‘, sind gesperrt (vgl. Sperrfristen in der Benutzerordnung des BAC […]). Es kann und darf also keine Einsichtnahme gewährt werden.“ Regens ROHRER leitete die E-Mail am 21. Okt. 2015 an Verf.in weiter.

30 Vgl. MATHEUS, Grundlagenforschung, 6; WOLF/SCHEPERS, Heiliger Stuhl, 496.

31 Eine Bitte um Erlaubnis zur Einsichtnahme in die Akten des Hl. Offiziums an Luis LADARIA SJ, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, lehnte dieser mit Schreiben vom 16. Jan. 2018 an Norbert Lüdecke ab. Der Brief liegt Vf.in vor. Etwa einhundert solcher Anträge auf Sondergenehmigungen gingen jährlich ein, erklärte jüngst der Archivar des Archivs der Kongregation für die Glaubenslehre Msgr. Alejandro Cifres im Interview (vgl. JUCHEM, Kirchengeschichte, o. S.). Den Zeitpunkt für die offizielle Öffnung der Bestände aus dem Pontifikat Pius’ XII. bestimme allein der Papst (vgl. DERS., Licht, o. S.).

32 GULLICKSON an Verf.in, 30. Nov. 2015.

33 Ebd.

34 Vgl. für dieses Rekonstruktions-Verfahren WOLF, Ketzer, 192–197.

35 Per E-Mail erhielt Verf.in auf schriftliche Anfrage vom 21. Aug. 2015 vom Mainzer Dom und Diözesanarchiv diese Auskunft.

36 Rückmeldungen kamen meist per E-Mail: von den Verantwortlichen des Africanum / der Afrikamissionare – Weisse Väter der Schweiz am 27. Aug. 2015, des Priesterseminars St. Beat in Luzern am 27. Aug. 2015, des Klosters Einsiedeln am 1. Sept. 2015, der Kapuzinerklöster in der Schweiz (Luzern, Stans und des Provinzarchivs) am 2. Sept. 2015, des Canisianums in Innsbruck am 3. Sept. 2015, des Klosters Engelberg am 7. Sept. 2015, des Priesterseminars Eichstätt am 7. Sept. 2015, des Priesterseminars Graz-Seckau am 15. Sept. 2015 und des Priesterseminars Freiburg i. Br. am 15. Oktober 2015. Sie alle bedauerten, über keine Unterlagen in dieser Angelegenheit zu verfügen.

ERSTER TEIL

1. Biografie

1.1 Kindheit und Ausbildung (1919–1940)

Jakob „Jaime“ Crottogini wurde am 9. August 1919 im Haus seiner Eltern in Chur geboren. Er kam als viertes von sieben Kindern zur Welt und wuchs im Kreise seiner Geschwister zunächst unbeschwert auf. Trotz der nachkriegsbedingten37 materiellen Engpässe mangelte es der Familie vergleichsweise an nichts. Der Vater war selbstständiger Maler, spezialisiert auf Kulissenmalerei, und die Familie hatte ein gutes Auskommen.38

Im Sommer 1924 sollte der fünfjährige Jakob einige Wochen auf dem Bergbauernhof der Großeltern im 10 km entfernten Churwalden/Pradaschier verbringen. Kurz nach seiner Ankunft auf dem Bauernhof verunglückte der Vater und starb wenige Tage später. Crottoginis Mutter wurde mit 32 Jahren zur Witwe und blieb mit sieben kleinen Kindern allein zurück.39 Aus den ursprünglich geplanten wenigen Wochen auf dem Bauernhof wurde deshalb ein Aufenthalt von einem Jahr. Von dem Tod seines Vaters erfuhr der Junge vorerst nichts und verbrachte eine schöne Zeit bei seinen Großeltern: „[A]ls Bergbauer hat mir das kolossal gut gefallen.“40 So gut, dass Crottogini später einmal selbst Bergbauer werden wollte.41 Nach einem Jahr kehrte er für die Einschulung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern zurück. Auf die Frage nach dem Vater erklärte ihm die Mutter, der Vater sei inzwischen im Himmel.42 Es schien ihn nicht dauerhaft belastet zu haben: „Ich ging in den Kindergarten in Chur und dort haben uns die Schwestern erzählt, im Himmel sei es sehr schön, und sehr interessant, und sehr lustig und da dachte ich, das ist ja wunderschön.“43 Den Betrieb ihres verstorbenen Mannes musste seine Mutter bald verkaufen, um sich und die Kinder versorgen zu können. Finanziell wurde es trotzdem bald schwierig für die Witwe, weshalb „man […] die Kinder verteilen“44 wollte, wogegen sie sich aber wehren konnte. Von den Existenzsorgen und den finanziellen Nöten bekamen die Kinder dennoch kaum etwas mit.45 Im Gegenteil: „Von ihr habe ich das Urvertrauen mitbekommen, das mich auch in den dunklen Stunden nie ganz verlassen hat“46, so Crottogini über seine Mutter.

 

„Meine Mutter war eine gläubige, aber in keiner Weise bigotte Frau. Sie zeichnete mir ein Kreuz auf die Stirne, bevor ich zur Schule ging. Auch abends hat sie uns mit einem Kreuzzeichen in den Schlaf entlassen. Ihr hart geprüftes Gottvertrauen hat ihr die Kraft gegeben, uns alle durch ihre mit mütterlicher Güte gepaarte Strenge zu tüchtigen, selbständigen Frauen und Männern heranwachsen zu lassen.“47

Ab 1926 besuchte Crottogini die Primarschule (Volksschule) an der katholischen Hofschule in Chur. Unter dem Dach der Hofschule vereinten sich die Primar- und die Sekundarschule. Die katholische Hofschule, so Crottogini, „zählte zu meiner Zeit zirka 700 Schülerinnen und Schüler. Ohne Unterstützung der Stadt musste sie finanziell von den Katholiken allein getragen und darum sehr sparsam geführt werden.“48 Religions- und auch Geschichtsunterricht gaben dort oft die Domherren der Kathedrale von Chur. So war es etwa der Dompfarrer und spätere Bischof von Chur, Christian Caminada, der in Crottoginis Jahrgang Kirchengeschichte unterrichtete.49

In der Sekundarschule kam Crottogini durch einen Lehrer zum ersten Mal mit der Missionsgesellschaft Bethlehem (Societas Missionum Exterarum de Bethlehem in Helvetia)50 (SMB) in Kontakt. Anton, der Sohn eines Lehrers, war als Missionar dieser Missionsgesellschaft in China eingesetzt. Sein Vater berichtete oft und ausführlich von den Tätigkeiten des Sohnes, die die Phantasie der Kinder anregten:

„Im Klassenzimmer hing eine grosse Karte von China. Mit Fähnchen war darauf markiert, wo die einzelnen Missionare aus der Schweiz im Einsatz standen. Der ‚Täta‘ las uns jeden Brief vor, den er […] aus der Mandschurei erhielt. Damals tyrannisierten plündernde Räuberbanden die Bevölkerung dieses nördlichen Landstrichs Chinas. Die dramatischen Berichte aus der Mandschurei faszinierten mich. Sie weckten in mir den Wunsch nach einem ebenso abenteuerlichen Missionarsleben wie jenes von Pater Anton. Im zweiten Sekundarschuljahr erreichte uns die Meldung, Pater Toni sei von einem Banditen erschossen worden. Diese Nachricht hat uns alle erschüttert.“51

Crottogini war dennoch beeindruckt:

„[U]nd ich habe dann […] gedacht, ja, das wäre auch noch glatt einmal [etwas für mich; J. S.] so als Missionar da in China unten, wo es diese Räuberbanden gibt, die aufeinander losgehen. [S]o eine richtige Romantik habe ich mir gepflegt. Dann habe ich dann mal, schüchtern, ich sagte niemandem was, meinen Religionslehrer gefragt, der uns Kirchengeschichte lehrte, was muss man denn machen, wenn man Missionar werden will. Dann sagte er: ‚Dann geht man nach Bethlehem‘, da dachte ich ‚Ohalätz, jetzt muss ich noch auf Palästina‘“52.

Das Missverständnis ließ sich klären, sodass er nicht nach Palästina reiste, sondern an das etwa 120 km entfernte Gymnasium Bethlehem der SMB in Immensee wechselte.53 Ab 1934 war Crottogini dort als Internatsschüler untergebracht. „Die Ausbildung [zum Missionar; J. S.] […] beginnt schon am ersten Tage der Gymnasialjahre, wo der Knabe, beseelt vom Wunsche, Missionar zu werden, den ersten Schritt auf dem langen Weg tut, der ihn zum Primizaltar führen soll“54. Die strenge Internatsordnung mit all ihren Auflagen wie tägliche Messbesuche, Meditationen und Gebete waren Crottogini lästig, aber er betrachtete sie als unabdingbare Voraussetzungen für die angestrebte Missionstätigkeit.55 Er hielt an seinem Wunsch fest, Missionar zu werden.

Ein Jahr früher als nötig besuchte Crottogini schon 1938 mit einem Großteil seiner Klasse die Rekrutenschule56 in Zürich, um sich anschließend – so zumindest der Plan – auf die Maturaprüfungen konzentrieren zu können. Aber der Plan ging nicht auf: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verlängerte sich der Aktivdienst bis Ende des Jahres 1939. Zu den schriftlichen Prüfungen im Frühling 1940 konnten die Schüler antreten, doch unmittelbar danach kam es im Mai 1940 zur Totalmobilmachung und die Schüler mussten zurück in den Aktivdienst. Die mündlichen Prüfungen entfielen, die Schüler bekamen die Zeugnisse mit der Post.57

1.2 Noviziat und Studium (1940–1954)

Noch im selben Jahr trat Crottogini in das Noviziat58 bei der SMB im Bruder-Klausen Seminar, dem Ausbildungsseminar der SMB, in Schöneck ein.59 Für sein Noviziat beantragte er ein Jahr Urlaub vom Aktivdienst.60 Das Noviziat wurde dennoch zweimal durch längere Mobilmachungsaufgebote unterbrochen. Im darauffolgenden Jahr, am 23. September 1941, wurde er zur ersten Promissio zugelassen.61 Aufgrund seiner Abwesenheiten hatte Crottogini allerdings im Probejahr „[s]pirituell […] wenig mitbekommen.“62 In den vorgesehenen zwei Jahren des Philosophiestudiums versuchte er seine spirituellen Defizite wieder auszugleichen. Vor allem Prof. Gebhard Frei SMB beeindruckte Crottogini sehr, wenn er die Studenten „mit den verschiedensten, spannenden Denkmodellen zeitgenössischer Dichter, Philosophen, Psychologen und Schriftstellern“63 konfrontierte.64 Auch an den nüchternen Vorlesungen seines Professors für Naturphilosophie fand der junge Student Gefallen.65

An das Philosophiestudium schloss sich ein vierjähriges Theologiestudium an. Seine Professoren, viele unter ihnen waren aus Hitler-Deutschland geflohene Jesuiten66, schätzte Crottogini, doch hatte er mit dem Studium Schwierigkeiten. Die Professoren etwa sah er „durch amtskirchliche Erlasse zu eingeengt. […] Eine Bibeltheologie, die diesen Namen verdient hätte, gab es damals […] noch nicht.“67 Einzig sein Professor für Moraltheologie, Josef Zürcher SMB, beeindruckte ihn, weil er „seiner Zeit weit voraus war.“68 Auch litt das Studium unter den wiederholten Unterbrechungen durch die Militärdienstzeiten.69 Crottogini empfand es als ein Studium, in dessen Mittelpunkt nur das Bestehen der Examen stand. Für eine „gründliche, persönliche Auseinandersetzung mit den fundamentalen Fragen des Glaubens“70 habe es während des Krieges an Ruhe und Zeit gemangelt. Später nannte er es deshalb selbst ein Studium der „Schmalspurtheologie“71.

Vor der Priesterweihe war mit dem Generaloberen Eduard Blatter72 das nächste Ziel Crottoginis besprochen: China. Er bereitete sich maßgeblich auf dieses Missionsziel vor, indem er sich Wissen über chinesische Philosophie und chinesische Geschichte anlas. Wegen aufkommender politischer Unruhen in China aufgrund des Mao-Vormarsches sandte die SMB allerdings vorerst keine Missionare mehr dorthin aus. Man wollte „keine Märtyrer haben […], sondern lebendige Mitglieder.“73 Alternativ zog man deshalb in Betracht, Crottogini im darauffolgenden Jahr für ein Jahr nach Japan zu schicken, und wartete zunächst seine unmittelbar bevorstehende Priesterweihe ab. Er empfing sie am 30. März 1947 von seinem ehemaligen Lehrer - inzwischen Bischof von Chur – Christian Caminada74 mit fünf weiteren Alumnen in Immensee. Die Primiz feierte er am 7. April 1947 in der Kathedrale von Chur.75

Kurz nach der Weihe bat der Generalobere Crottogini, für ein Jahr – bis zur geplanten Japan-Mission – Schuldienst und damit verbunden die Aufgaben des Präfekten am Progymnasium76 der SMB in Rebstein zu übernehmen. Crottogini willigte ein, aber vor dem Hintergrund, bald in die Mission gehen zu dürfen.

„[D]amals meinte man, wenn einer Philosophie und Theologie studierte, könne er auch Schule geben, aber ich hatte keine Ahnung, was das eigentlich hiess […]. Im ersten und zweiten Gymi [den ersten beiden Gymnasialstufen; J. S. ], dort hatten wir Klassen à sechzig Leute, Doppelklassen à dreissig und dann musste ich noch Deutsch übernehmen und jeden Tag haben wir in der Schule ein Diktat gemacht, damit sie Deutsch lernen. Aus der ganzen Schweiz waren Knaben da, und jede Woche einen Aufsatz. Ich musste da jeden Tag 60 Hefter korrigieren, ich kam meistens gar nicht nach. […] Und noch Präfekt [für die Internatsschüler; J. S.] spielen, da wusste ich auch nicht so recht, was das ist. […] [D]ie mussten gemeinsam ins Bett, gemeinsam aufstehen, und ich in einer Kabine dazwischen, zwischen diesen grossen Schlafsälen. Ich bin jeweils nachts um zwölf todmüde ins Bett gefallen und habe gleich geschlafen.“77

Auf sein erstes Jahr am Gymnasium folgte dann die große Enttäuschung: Crottogini sollte nicht wie ursprünglich vereinbart in die Mission nach Japan geschickt werden. Stattdessen griff man auf Missionare für Japan zurück, die sich bereits in Peking im Sprachstudium und somit schon rein geographisch näher am Missionsland befanden. Crottogini hingegen bat man, ein weiteres Jahr am Gymnasium zu unterrichten. Dort brauche man momentan dringend Lehrer, nach Japan könne er schließlich im Anschluss noch immer.78

Mit seinem Eid hatte sich Crottogini gemäß Art. 2 der Konstitutionen SMB zum Dienst am Missionswerk der Gesellschaft und zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßigen Oberen verpflichtet. Crottogini sah darin das Versprechen, sich für einen missionarischen Einsatz zur Verfügung zu stellen, wenn auch nicht geographisch festgelegt. Dazu merkte er an: „Aber man wird normalerweise gefragt, wohin man will.“79 Als er 1949 gebeten wurde, im Schuldienst zu bleiben, lehnte er ab. Doch man ließ ihm keine Wahl. Man erinnerte ihn, er habe letztlich im Gehorsam dem Befehl des Oberen zu folgen.80

Um längerfristig als Lehrer am Gymnasium mit Maturitätsberechtigung eingesetzt zu werden, fehlte Crottogini eine klassische Lehrerausbildung, d. h. ein akademischer Titel, der zum Unterrichten an staatlichen Schulen berechtigte. Von der ursprünglichen Japan-Planung blieb 1949 damit nicht viel übrig: Aus einem Missionseinsatz in Asien sollte ein Hochschulstudium in der Schweiz werden.81 Gegen seinen Wunsch wurde die „China-Destination in ‚Schuldienst in der Heimat‘ umgewandelt, mit der Auflage eines vorgängigen Spezialstudiums, versehen mit dem ‚Trostpflästerchen‘ ein späterer Missionseinsatz bleibe dadurch durchaus offen.“82

Crottogini immatrikulierte sich deshalb zum Wintersemester 1950/51 an der Philosophischen Fakultät der Universität Fribourg. Rückblickend gibt es keine Hinweise darauf, aus welchen Gründen seine Wahl auf die Universität Fribourg fiel. Vielleicht war es die Wahl des Generaloberen gewesen oder eine gemeinsame Entscheidung. Dass die SMB allerdings auch eine Schule in Fribourg unterhielt, und Crottogini somit immerhin schon einen Anlaufpunkt in der Stadt hatte, könnte die Entscheidung begünstigt haben. Die Aussage Crottoginis, man sei normalerweise gefragt worden, wohin bzw. was man wollte, traf für ihn dann zumindest bei der Wahl der Studienfächer zu. Die einzige Auflage war gewesen, einen Abschluss zu erwerben, der ihn als Lehrer qualifizierte.

In seinem ersten Semester an der Universität Fribourg besuchte Crottogini Veranstaltungen in verschiedenen Fachbereichen, bevor er sich im zweiten Semester auf seine Hauptfächer festlegte. Aus Interesse wählte er Pädagogische Psychologie/Berufspsychologie und Heilpädagogik zu seinen Hauptfächern.83 Als Nebenfächer belegte er Deutsche Literatur und Geschichte, um auch Schulfächer abzudecken. Entgegen seiner anfänglichen Lustlosigkeit am Studium war er aber nach wenigen Monaten von seinen Studienfächern – vor allem von der Berufspsychologie – fasziniert.84 Das Studium verlief problemlos und unspektakulär.85

Mit der Wahl der Hauptfächer fand er auf Anregung einer seiner Professoren auch schon im zweiten Semester sein Dissertationsthema.86 Léon Walther87, Professor für Arbeits- und Berufspsychologie am Pädagogischen Institut der Universität Fribourg, gab Crottogini den „ersten Anstoß und wertvolle Anregungen“88, im Bereich der Berufsgenese von Priestern zu promovieren und half ihm bei der Ausarbeitung. Walther hatte zuvor selbst eine Arbeit über die Berufsmotivation reformierter Pfarrer verfasst und befasste sich seinerzeit mit den Motivationen angehender Ordensschwestern. In diesem Kontext kam Crottogini „die Idee, eine ähnliche Untersuchung für Priesteramtskandidaten durchzuführen. Mich interessierte allerdings dabei nicht nur ihre Berufsmotivation, ich wollte vielmehr auch den Einflussbedingungen der Genese ihres Berufswunsches nachspüren.“89

Zum Wintersemester 1952/53 begann er mit den empirischen Erhebungen für sein Dissertationsprojekt. Hierfür musste er viel reisen, um anhand eines von ihm entwickelten Fragebogens in der Schweiz, in Deutschland und auch in Randgebieten Frankreichs Seminaristen zu ihrer Berufsmotivation zu befragen. „Das Hauptanliegen [der Dissertation; J. S.] ist die Erforschung der empirisch faßbaren Faktoren, die bei der Wahl des Priesterberufes von Bedeutung sind.“90 Aber auch nach seiner Rückkehr war sein Projekt noch immer sehr arbeitsintensiv. So arbeitete Crottogini „[n]achts […] damals […] bis morgens 02.00 Uhr durch[] und [feierte] um 06.00 Uhr schon wieder mit den Schwestern des Kantonsspitals die Frühmesse“91.

 

Schließlich reichte er seine Dissertation mit dem Titel Die Wahl des Priesterberufes als psychologisch-pädagogisches Problem im Frühjahr 1954 bei dem katholischen Erstgutachter Prof. Eduard Montalta92 ein, weil es Walther als Protestant am „letzte[n] Verständnis für [die] tiefere Wirklichkeit des Priesterberufes“93 gefehlt habe. Bei Montalta hatte Crottogini zuvor Vorlesungen in der Heilpädagogik und der Kinder- und Jugendpsychologie gehört.94 Seine letzte Prüfung an der Universität legte Crottogini am 15. Mai 1954 ab. Über den Abschluss seines Studiums berichtete er seinem Generaloberen Blatter: „Es ist alles weit besser gegangen, als ich zu hoffen wagte. Sowohl für die schriftliche wie mündliche Arbeit erhielt ich ein Summa cum laude.“95 Nachdem die Anzahl der Pflichtexemplare erst von 50 auf 30 reduziert worden war96, hatte der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät Crottogini 1956 von der Ablieferung der Pflichtexemplare ausnahmsweise gänzlich befreit.97 Die Exemplare waren zwar bereits gedruckt, durften aber aufgrund eines Publikationsverbots vom Hl. Stuhl nicht verbreitet werden. Der Abschluss des Promotionsverfahrens verzögerte sich entsprechend, weshalb er seine offizielle Doktorurkunde erst im Sommer 1956 erhielt.

1.3 Gymnasiallehrer und Novizenmeister (1954–1967)

Nach seinen Prüfungen kehrte Crottogini im Herbst an das Progymnasium Rebstein zurück, wo er erneut als Lehrer und Präfekt eingesetzt wurde. Er übernahm die Aufgabe im Gehorsam, ließ seinen Oberen aber wissen, dass weiterhin die Mission sein Ziel war:

„Ich freue mich, wieder eine konkretere Arbeit leisten zu dürfen. Noch lieber als Rebstein wäre ich nach Japan gezogen. Sie wissen ja darum. Denken Sie bitte daran, wenn sich diesbezüglich in Japan plötzlich eine dringende Notwendigkeit ergeben sollte. Augenblicklich würde ich mich für einen solchen Wechsel noch für fähig halten. In zwei, drei Jahren wird das kaum mehr der Fall sein.“98

Über sein Empfinden am Gymnasium berichtete er dem Verleger seiner Dissertation Oscar Bettschart: „Ich habe hier in Rebstein als Präfekt über hundert Boys im besten Flegelalter zu bändigen und das ist neben der Schule und den vielen Aushilfen eine so ermüdende Angelegenheit, dass ich vorderhand zu gar nichts mehr komme, geschweige denn zu einer soliden wissenschaftlichen Arbeit.“99 In den nächsten beiden Jahren änderte sich daran nichts, vielmehr berichtete Crottogini im April 1956: „Gegenwärtig haben wir 124 Boys hier. Damit ist das Haus bis auf den letzten Platz besetzt.“100 Eine Änderung war für Crottogini erst absehbar, als er Josef Böhler, den bisherigen Novizenmeister, im Missionsseminar der SMB in Schöneck ablösen sollte.

Der Generalobere Blatter hatte ihn schon früher zu einer Einwilligung gedrängt, dieses Amt zu übernehmen, doch hatte Crottogini ursprünglich noch ein paar Bedingungen aushandeln können: Er hatte gefordert, ihm zur Vorbereitung vorab „ein Jahr zur spirituellen Vertiefung in Bibeltheologie und Katechetik“101 zuzugestehen. Ein solches Studienjahr, das er in München oder Paris hatte verbringen wollen, wurde ihm zunächst auch zugesagt.102 Gründe für eine abrupte Übergabe des Amtes nannte Crottogini keine, doch beschrieb er, „[v]öllig überrascht musste ich von einem Tag auf den anderen P. Josef Böhler […] ablösen.“103 Das vereinbarte Jahr zur Vertiefung seiner Studien trat Crottogini so nie an. Nur knapp eine Woche nachdem er seinem ehemaligen Lehrer Bischof Caminada noch von seinen Plänen berichtet hatte, gratulierte ihm bereits sein Mitbruder Fridolin Stöckli zu seiner neuen Aufgabe als Novizenmeister.104

Crottogini war über seine neue Tätigkeit hingegen nicht glücklich. Bis 1967 war er schließlich als Novizenmeister tätig und von „Jahr zu Jahr hat [ihn] diese Verantwortung mehr belastet.“105 Seine als defizitär empfundene eigene theologische und auch spirituelle Ausbildung sorgte ihn, aber auch die festgefahrenen Strukturen in der Ausbildung und im Umgang mit den Novizen waren ihm zuwider. Aus psychologischer Sicht sei ihm die reglementierte Tagesordnung wie ein „Kindergartenprogramm“106 vorgekommen:

„Die jungen Männer, die sich nach der Matura oder nach einer abgeschlossenen Berufslehre für die SMB interessierten, wurden mit dem Eintritt ins Noviziat von den gefährlichen Einflüssen des Weltgeschehens ausserhalb des Seminars fast hermetisch abgeschirmt. Offiziell gab es für sie keine Zeitungen, kein Radio, keine TV. In der für sie zugänglichen Hausbibliothek gab es keine Belletristik, nur harmlose theologische und aszetische Literatur. Der persönliche Kontakt mit Außenstehenden, vor allem mit Frauen, wurde auf ein Minimum reduziert. Die kleinste Änderung dieser Tradition stiess anfänglich bei der Seminarleitung […] auf harte Kritik. […] Von Jahr zu Jahr wurden die persönlichen, religiösen und beruflichen Probleme der jungen Männer drängender. Die Berufsentscheidung, zu der sie im Laufe des Jahres und dann vor allem während der Grossen Exerzitien herausgefordert wurden, belastete sie und mich enorm. Rund die Hälfte der SMB-Aspiranten entschied sich in diesen Wochen für eine andere Berufslaufbahn. Der Abschied vom angestrebten Priester- oder Missionsberuf ist diesen Kandidaten, den im Seminar zurückbleibenden Novizen und auch mir alles andere als leicht gefallen.“107

Um diesem Druck zu entgehen, bot Crottogini seinem Oberen den Verzicht auf sein Amt an. Sein Oberer lehnte aber ab.108 Kurz vor Ostern 1966, nur wenige Monate nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils im Dezember 1965, hatte Crottogini einen Motorradunfall. Seine Verletzungen waren so schwer, dass er vier Monate im Krankenhaus gepflegt werden musste. Gerade in den ersten Tagen waren die Schmerzen sogar so stark, dass er Gott bat, zu sterben.109 Als er nach dem Krankenhausaufenthalt und anschließender Rehabilitation ins Missionsseminar zurückkehrte, stand schon bald das erste Generalkapitel nach dem Konzil an.

1.4 Generalvikar (1967–1981)

Im Rahmen des Generalkapitels wurde Crottogini 1967 für eine Amtsperiode von sieben Jahren zum Generalvikar110 und sein Mitbruder Josef Amstutz zum Generaloberen gewählt.111 Für Crottogini bedeutete auch dieses Amt wieder einen Neuanfang, denn erstmalig wurden ihm keine Lehrtätigkeiten, sondern Leitungsaufgaben übertragen. Und auch für Amstutz waren die Aufgaben eines Generaloberen neu. Plötzlich waren sie es, die „hauptamtlich diese Missionsgesellschaft führten und verantworteten.“112 Doch die beiden Männer nutzen ihre Chance und wollten die SMB in eine neue Richtung lenken. In Anknüpfung an das gerade beendete Konzil wollten sie das Verständnis von Mission erneuern und bedürfnisorientierter vorgehen. Wie

„man bisher in Lateinamerika und Afrika Mission verstanden hat, da irgendwo ins Nirgends einen Pfarrer zu schicken, das bringt nichts, das kann nicht unsere Aufgabe sein. Wir müssen also hingehen und zuerst mal schauen, was brauchen diese Leute und wie kann man sie zur Selbständigkeit bringen, dass sie aus ihrem Elend, aus ihrer Armut allmählich rausfinden. Was sind die Grundursachen für die bestehende Armut“113?

Zusammen planten sie die ersten missionarischen Equipeneinsätze, die zum festen Bestandteil der SMB wurden: Im Rahmen dieser Einsätze sollten nicht nur Priester in die Mission geschickt werden, sondern auch Vertreter anderer Berufsgruppen, wie etwa Lehrer, Bauern, Krankenschwestern und Sozialarbeiter, um den verschiedenen Bedürfnissen in den verschiedenen Missionsgebieten gerecht zu werden. Die psychologische Vorauswahl der Bewerberinnen und Bewerber und deren Vorbereitung auf den Auslandseinsatz fiel Crottogini zu. Dies kostete ihn „[v]iel Kraft und Zeit […] [neben der] Begleitung von Mitbrüdern, die schwere Zölibatskrisen zu bestehen hatten. Nicht wenige, auf die wir grosse Hoffnungen gesetzt hatten, gaben damals den Priesterberuf auf und schieden dadurch aus der SMB aus.“114 Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Equipeneinsätze, die nicht Mitglieder der SMB waren, sondern sich durch einen Arbeitsvertrag verpflichtet hatten, schieden oft frühzeitig wieder aus. Man habe ihnen zwar von den Schwierigkeiten erzählt, „die es da so gibt im Equipo und im Land, wo sie da hingingen […]. Aber Tatsache war, du kannst den Ernstfall nicht proben, […] in den ersten zehn Jahren sind gut dreissig Prozent frühzeitig wieder nach Hause gekommen von diesen Equipo-Leuten.“115