Zensur im Dienst des Priesterbildes

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Schließlich sollten Änderungen in der Ausbildung persönlichen Krisen vorbeugen. Die Schwächen der Seminarausbildung zeigten sich gerade bei Neu-Priestern: Jene „Bewahrungs- und Gewöhnungspädagogik“517 in der Ausbildung wirkte sich nach dem Studium oft negativ aus und führte teils schon früh zu Berufskrisen. Durch die starren Strukturen in der Ausbildung war die Gewöhnung an Tagesabläufe und Riten gewährleistet, ihre Ausführung war teilweise sogar mit „legalistischen Erfüllungszügen“518 zu vergleichen. Mitunter wurde der „rhythmisierte Tagesablauf im Seminar zum höheren Gesetz auch um der Disziplin willen, er stellte eine Form der Gehorsamsübung dar.“519 Wenn der äußere Gehorsamszwang nach dem Studium bzw. nach der Priesterweihe jedoch wegfiel und ein Neu-Priester zuvor Erlerntes und Geübtes nicht habituell verkörperte, war die Krise oft nur eine Frage der Zeit.520 Nicht selten wurde dann die Sinnhaftigkeit dieser Strukturen angezweifelt und hinterfragt. Dieses Problem anerkannte Pius XII., als er 1950 eingestand, dass ehemalige Seminaristen „ihre eigene Erziehung ungünstig beurteilen.“521 Trotzdem wurde weiterhin die Selbstheiligung des Priesters und der Gehorsam als Fundament aller Tugenden und Wille Gottes betont.522

Drastischer als Pius XII. formulierte es 1954 wiederum Weihbischof Reuß: Diese regelnde Einwirkung auf die Seminaristen dürfe unter keinen Umständen zur Dressur werden, die sich in disziplinären Maßnahmen zur Erreichung äußerer Korrektheit erschöpfe: „Das Ergebnis wäre der nur äußerlich korrekte Priester.“523 Nur äußerliche Korrektheit sei aber ein Gegensatz zum echten Zeugnisleben. Die regelnde Einwirkung müsse deshalb in strenger Güte, mit viel Geduld und immer mit Begründung anleiten, persönliche Fehler zu bekämpfen. Die bildende Einwirkung unterscheide am stärksten die Erziehung von Dressur. Sie vermittle Einsichten, die als Werterkenntnisse zu Motiven für den freien Willen werden könnten.524 Von Vorschriften und Regeln im Seminar, die nicht zwingend gefordert und zum Hineinwachsen in die priesterliche Existenz nicht unbedingt nötig seien, riet er ab.525 Die Hausordnung solle kein Selbstzweck sein.526 Stattdessen empfahl er einen Ordnungsrahmen, „dessen gewissenhafte Beobachtung wirklich möglich ist, mit Recht als Pflicht betont wird und innerhalb dessen doch zugleich auch eine eigene Lebensgestaltung möglich ist.“527 Darin sah er die Möglichkeit, die Kandidaten zu einem echten Pflichtbewusstsein und damit auch zu einem aufrichtigen Verantwortungsbewusstsein erziehen zu können. Er wandte sich deshalb an die Priestererzieher, deren „psychologisch und pädagogisch richtig zu gebenden motivierenden Hinweise […] den Charakter des Rates und nicht wie die Rahmenordnung den Charakter der Verpflichtung“528 haben sollten.

Hinzu kam, dass das Leben der Seminaristen aufgrund des Priesterbildes auch zur Mitte des 20. Jahrhunderts bis in das kleinste Detail einer übergenauen Struktur und Reglementierung ausgesetzt war. Das Ziel der Abschottung war stets, Kontakte nach außen zu unterbinden und damit die Homogenität der Gruppe zu fördern.529 Und selbst innerhalb der geschlossenen, homogenen Gruppe des Seminars versuchte man die Seminaristen mehrheitlich noch zu Einzelgängern zu erziehen530 – „Interaktionen mit anderen Bezugsgruppen wurden systematisch gemieden oder verhindert.“531 Die Seminaristen waren von der Außenwelt weitgehend isoliert, befanden sich aber zumindest in einem ihnen bekannten Umfeld.532 Nach dem Seminar – als zur Totalabstinenz verpflichteter Priester in einer noch fremden Pfarrei – kam deshalb nicht selten Einsamkeit auf, wenn die vertraute Umgebung und Gemeinschaft wegbrachen.533 Schließlich war es ein Zusammenspiel dieser Faktoren, das spätere Krisen begünstigte:

„Die Isolation der Seminare, die engstirnige Sicht auf das Leben, eine falsche Vorstellung der Tugend des Gehorsams, Tradition, die nicht lebendige Tradition ist, sondern schlicht Überbleibsel vergangener Zeiten, eine Inzucht an Fähigkeiten – das sind nur ein paar der vielen Fäden in dem Geflecht an Ursachen.“534

Im Wesentlichen hielt sich das System der genauen Regelungen und Reglements durch die Seminarordnungen, die teils schon weit vor dem CTC/1917 erlassen wurden, aber bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil.535 „Da und dort durchgeführte kleine Erleichterungen änderten nichts an der grundsätzlichen Tendenz.“536 Crottogini setzte mit seiner Arbeit in eben diesem Spannungsfeld zwischen idealisierter Einsamkeit einerseits und der realen existenziellen, emotionalen Einsamkeit im Sinne fehlender körperlicher Nähe und erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen andererseits an.537

2.2 Die Dissertation

Die konzeptionellen wie praktischen Probleme der Priesterausbildung waren Crottogini aus seiner eigenen Seminarzeit wie auch aus seiner Zeit als Erzieher bekannt, weshalb er vor den konkreten Ergebnissen im Vorfeld auch keine Angst verspürte. Mit Methoden der empirischen (Berufs-)Soziologie und Psychologie suchte er nach möglichen statistischen Gesetzmäßigkeiten, die Aufschluss über die Situation der Priesterberufsfindung geben könnten. Ausgangspunkt seiner Arbeit war „die Grundannahme, dass die Priesterberufswahl von soziologischen, erbbiologischen, psychologischen und pädagogischen Faktoren abhängt“538.

2.2.1 Die Methodik

2.2.1.1 Der Fragebogen

Für seine Analyse wollte Crottogini zunächst empirisch-soziologisch die inneren und äußeren, die fördernden und die hindernden Faktoren untersuchen, die die Wahl des Priesterberufes beeinflussten. Im Anschluss hatte er eine berufspsychologische Interpretation und eine pädagogische Auswertung der erhobenen Ergebnisse geplant.539 Obwohl von Léon Walther zu dem Projekt inspiriert, begann die tatsächliche Arbeit daran unter der Betreuung von Eduard Montalta.540 Unter der Leitung Montaltas und „in enger Fühlungnahme mit einer ganzen Reihe führender Theologen und Priestererzieher“ ging Crottogini zunächst „mit der grösstmöglichsten Vorsicht ans Werk.“541 Zuerst war zu entscheiden, wie die Daten am besten erhoben werden konnten. Zur Auswahl standen die „freie Form“542, bei der die Versuchsperson sich mündlich oder schriftlich frei zu einem bestimmten Thema äußert, oder ein vorher festgelegter Rahmen an Fragen in Form eines Fragebogens. Eine mündliche Erhebung wäre, da war sich Crottogini sicher, sehr zeitintensiv geworden, weshalb für ihn schnell die schriftliche Erhebung feststand. Sowohl eine freie Beantwortung durch die Kandidaten (z. B. in Form eines Aufsatzes) als auch die Datenerfassung durch einen Fragebogen bot aber Vor- und Nachteile. Deshalb plante Crottogini einen Vorversuch, um zu überprüfen, welche Methode der schriftlichen Erhebung ergiebiger sein würde.543

Er legte neun Priestern und 31 Theologiestudenten ein vorläufiges Frageschema vor und bat die Teilnehmer, den Bogen nach bestem Können auszufüllen. Er hoffte auf eine kritische Rückmeldung mit Blick auf den Inhalt und die Form. Abschließend fragte er, ob man es persönlich vorzöge, den Fragebogen zu beantworten oder den Werdegang des Berufes frei zu schildern. Die Mehrheit der Teilnehmer sprach sich für den Fragebogen aus, womit für Crottogini die Entscheidung gefallen war, die Erhebung mit Hilfe eines Fragebogens auf diese Art durchzuführen.544

Crottogini entschied sich damit für eine der zeitgenössisch gängigen Methoden der empirischen Berufswahlforschung: der Erhebungsmethode. Die Erhebungsmethode kennzeichnete sich durch spontane oder erfragte Selbstäußerungen aus, von denen er sich erhoffte, äußere Tatbestände und innere Gesinnungen ermitteln zu können.545 Bewusst entschied er sich damit zugleich gegen Methoden der Selbstbeobachtung oder der reinen Fremdbeobachtung. Denn die das Berufsbewusstsein anregenden oder auslösenden Momente seien, so begründete er, niemals durch äußere Symptome, sondern nur durch eine vertrauenswürdige Antwort festzustellen. Diese Antworten bedürften allerdings im Anschluss einer Verifizierung, um sie tatsächlich nutzen zu können.546

Damit erwies Crottogini sich nicht nur bei der Themenwahl, sondern auch bei der Vorgehensweise als Kind seiner Zeit. Seit der Nachkriegszeit hatte sich auch in den deutschsprachigen Ländern als beliebter Ansatz der empirischen Sozialforschung die Soziographie entwickelt.547 Beim soziographischen Ansatz wurden eingrenzbare soziale Einheiten „beschrieben und in ein gesellschaftliches Kräftefeld und Bedingungsgefüge hineingestellt. Auf diese Weise lassen sich die sozialen Ursachen analysieren, welche auf bestimmte Handlungsformen oder Organisationsmuster begünstigend oder hemmend einwirken.“548 Die Soziographie hatte jedoch schon bald deutliche Konkurrenz von der Demoskopie bekommen. In der Nachkriegsgesellschaft wurden viele Marktforschungsunternehmen gegründet, die sich zunächst mit konsumorientierten Fragen beschäftigten. Schnell kamen aber auch zahlreiche Meinungsforschungsunternehmen hinzu, die Meinungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen empirisch erhoben.549 Bei der Erhebung ihrer Ergebnisse gab es zwar Schnittstellen, doch hatte sich die Meinungsforschung als eigene Methode parallel seit den 1930er Jahren entwickelt. Mit Meinungsforschung oder Demoskopie waren all jene Methoden gemeint, „die auf dem […] Verfahren der Auswahl einer ‚repräsentativen‘ Stichprobe (Quota-Sample oder Random-Sample) basieren, um Meinungen, Einstellungen, Motive oder auch Verhaltensweisen empirisch zu erheben.“550

Crottogini verband so verschiedene Ansätze miteinander, weil er nicht nur an der Quantität der Priesterberufe, sondern mehr „qualitativ an der Berufspraxis des Priesters“551 interessiert war. Die Daten erhob er mit Fragebögen, obwohl in katholischen Kreisen gerade diese Methode in den 1950er Jahren immer wieder für Diskussionsstoff sorgte. Die Einstellungen zu dieser Methode waren ambivalent, die Rezeption ihrer Ergebnisse zögerlich.552 Grund war nicht zuletzt der 1948 erschienene erste Kinsey-Report, dessen – so fasste man es katholischerseits auf – „wissenschaftliche Forschungsergebnisse auf diesem Gebiete mit all ihren delikaten Details wahllos der lüsternen Sensationslust der Menge als Beute vor[ge]w[o]rfen“553 wurden. Im katholischen Milieu war die Soziologie mit ihren Methoden damit in Verruf geraten. „Und die im Rahmen der katholischen Moralvorstellungen mit Notwendigkeit bestehende Brisanz des Themas Sexualität verstärkte die negativen Rückwirkungen auf die Rezeption der Technologie in der Kirche.“554

 

Man unterstellte ihr einen primitiven Erkenntnisdrang, Szientismus und fehlende Ehrfurcht verbunden mit „Indiskretionsmanie“555. Dennoch wurden auch von und für Katholiken Umfragen zu verschiedenen Themen begonnen, aber die Popularität, die Umfragen und Fragebögen in anderen Kreisen genossen, war katholisch mehrheitlich gedämpft.556 Diese ablehnende Haltung weiter katholischer Kreise war auch Crottogini nicht verborgen geblieben. Möglicher Schwierigkeiten des Projekts war er sich somit bewusst, als er mit den Arbeiten an seiner Dissertation begann.557

Franz-Xaver von Hornstein558, Professor der Pastoraltheologie in Fribourg, der über das Projekt informiert war, gab den Rat, sich vielleicht besser vorab bei den verantwortlichen Erziehern in Priesterseminaren und Ordensgemeinschaften zu erkundigen, ob man von dort Mithilfe erwarten dürfe.559 Crottogini befolgte den Rat und erbat daraufhin bei über 20 Ordensoberen, Novizenmeistern und Seminarvorstehern aus den deutschsprachigen Ländern mündlich oder schriftlich eine grundsätzliche Stellungnahme zu seinem Vorhaben, verbunden mit der Anfrage, ob er bei der Durchführung mit ihrer Unterstützung rechnen dürfe.560 Von den 21 schriftlichen Anfragen, die er verschickt hatte, erhielt er von zwei Angeschriebenen keine Antwort, zwei lehnten aus theologischen Gründen ab, die große Mehrheit von 17 Verantwortlichen sicherte ihm aber schriftlich ihre Unterstützung zu.561 Nicht nur ihm persönlich bekannte Priestererzieher gaben positive Rückmeldungen: So antwortete ihm z. B. Prälat Blasius Unterberger, Regens des Priesterseminars in Graz, am 23. Juli 1951:

„Sie haben sich ein sehr interessantes, aber auch ein schwieriges Thema zur Bearbeitung gewählt. Ich bin gern bereit, unseren Theologen die Fragebogen vorzulegen und ihnen auch die entsprechenden Hinweise zu geben, worauf es bei solchen Erhebungen ankommt, damit sie nicht das schreiben, wie es sein soll oder wie sie es gewünscht hätten, sondern wie es war und ist.“562

Robert Weber, Regens des Priesterseminars St. Peter der Erzdiözese Freiburg i. Br., antwortete ihm am 15. Oktober 1951:

„Ich erkläre mich gern bereit, dass Sie die Alumnen unseres Seminars in den Kreis der Befragten einbeziehen. Damit die Herren Ihnen lieber und unbefangener antworten, schlage ich vor, dass Sie sich selber an Sie wenden und die Regentie [Seminarvorstand; J. S.] auch nicht einmal als Vermittlerin auftritt. […] Ich interessiere mich sehr für Ihre Unternehmung.“563

Ebenfalls eine positive Antwort kam von Augustin Frotz564, Regens des Priesterseminars der Erzdiözese Köln in Bensberg, am 29. September 1951:

„Gerne will ich Ihnen behilflich sein. Die Frage nach dem Priesternachwuchs darf uns ja nicht ruhen lassen. Gewiss ist die Berufung Gnade, aber wer in der Theologen- und Priesterausbildung steht, weiss, wie bedeutsam die natürlichen Voraussetzungen sind“565.

Diese Rückmeldungen bestärkten Crottogini darin, mit dem Erstellen des endgültigen Fragebogens zu beginnen. Nach einigen Anläufen und Korrekturen wies der Bogen schließlich 85 Fragen auf. Vier komplexere Kategorien unterteilten den Fragebogen, um ihn etwas aufzulockern und auch übersichtlicher zu machen.566 In der ersten Kategorie waren die Fragen zu finden, die Heimat und Familie des Befragten betrafen. In der nächsten Kategorie ging es um die Probleme der Volks- und der Mittelschulzeit. In der dritten Kategorie waren all jene Fragen zusammengefasst, die die eigentliche Genese des Berufswunsches und des Berufswillens angingen. In der vierten und letzten Kategorie kamen Fragen zum Fachstudium. Von dieser endgültigen Fassung ließ Crottogini 650 deutsche und 250 französische Exemplare drucken.567

2.2.1.2 Die praktische Durchführung

Nach den notwendigen Vorarbeiten konnte Crottogini im Spätherbst 1951 endlich mit der tatsächlichen Erhebungsarbeit beginnen. Mit Ausnahme von fünf Einrichtungen durfte er seine Erhebungen in allen angefragten Ausbildungsstätten ohne Schwierigkeiten durchführen.568 Geografischer Schwerpunkt der Befragungen war die Schweiz. Fünf diözesane Priesterseminare, ein Theologenkonvikt und 24 Studienhäuser von insgesamt 19 verschiedenen Gemeinschaften (Orden, Kongregationen und Gesellschaften) beteiligten sich an seiner Erhebung.569 Zum Vergleich erhielten noch je zwei deutsche und österreichische Weltpriesterseminare und eine deutsche, eine französische und eine österreichische Ordenseinrichtung die Fragebögen. In den meisten Fällen übergab Crottogini die Bögen persönlich und konnte sich deshalb den Teilnehmern auch vorstellen. So konnten sich auch die Teilnehmer ein Bild vom Fragesteller machen. Er erklärte noch einmal Sinn und Zweck des Projekts und wies auch auf die ihm bewussten Schwierigkeiten hin. Die Teilnehmer wurden schließlich gebeten, sich in einer ruhigen Minute mit dem Fragebogen vertraut zu machen. Würden sie sich dann dazu entschließen, die einzelnen Fragen beantworten zu wollen, so hätten sie dafür drei Wochen Zeit. Ein besonderes Anliegen war ihm, die Anonymität der Teilnahme zu betonen. In den meisten Fällen konnte er diese den Teilnehmern persönlich garantieren. Die Teilnehmer, denen er das Projekt nicht persönlich vorstellen konnte, erhielten dafür ein Begleitschreiben, in dem er erklärte:

„Leider verlangt der Charakter der Arbeit auch einige intimere Fragen. Um jede Gefahr einer persönlichen Bloßstellung zu vermeiden, wird die Rundfrage streng anonym durchgeführt. Und ich möchte Sie bitten, keine Namen zu nennen, welche die Anonymität irgendwie gefährden können. Auch mir wird die strengste Diskretion bei der Sammlung und Auswertung der Antworten Gewissenssache sein.“570

Ebenso betonte er, die Beantwortung der Fragen sei völlig freiwillig. Wer eine Frage nicht beantworten wolle oder könne, solle sie durchstreichen oder unbeantwortet lassen.571 Zum Schluss der Erhebung wurde jeweils aus der Gruppe eine Vertrauensperson gewählt, der die Bögen in einem geschlossenen Umschlag und innerhalb der genannten Frist zurückzugeben waren.572 Auch den Oberen der jeweiligen Einrichtungen sollte so die Einsicht in die ausgefüllten Bögen verwehrt bleiben.573 Für die Auswertung war es Crottogini wichtig, auch die leeren, bewusst nicht ausgefüllten Bögen zurückzuerhalten. Auf diese Weise konnte die effektive Zahl an bearbeiteten Bögen bzw. die effektive Mitarbeit einer Gemeinschaft festgestellt werden.574

Neben den Befragungen in Priesterausbildungsstätten gingen zusammen mit dem oben genannten Begleitbrief außerdem noch 60 Fragebögen an einzelne Seelsorger, d. h. Priester mit abgeschlossener Ausbildung.

2.2.1.3 Die Auswertung der Erhebung

Aus der Schweiz erhielt Crottogini von den 600 versandten Fragebögen 425 ausgefüllt zurück. Unter den 600 waren 318 Ordensmänner, von denen 231 antworteten. Von den 60 Geistlichen aus der Seelsorge kamen nur 16 Antworten. Von 250 ins Ausland verschickten Fragebögen kamen 196 zurück. Von insgesamt also 850 in Umlauf gebrachten Fragebögen im In- und Ausland erhielt Crottogini 621 auswertbare Exemplare und damit 73,1% zurück, d. h. fast drei Viertel aller Fragebögen. Bei den übrigen 229 Exemplaren gaben 52 Befragte immerhin einen Grund für die Nicht-Bearbeitung an. Neben grundsätzlicher Ablehnung („,Wozu das alles? […] Lassen wir doch so feine, geheiligte Bereiche verschont vom kalten, profanierenden Geist der Statistik‘“575) wurde hauptsächlich Zeitmangel als Begründung genannt.576 Die bearbeiteten Fragebögen waren unterschiedlich ausführlich beantwortet. Crottogini merkte aber an, viele Befragte schienen auf eine solche Aussprachemöglichkeit gewartet zu haben. Das ergebe sich nicht nur aus der offenen und gründlichen Beantwortung selbst der delikatesten Fragen, sondern auch aus den mehr als 200 spontan bekundeten Interessens- und Dankesbezeugungen am Ende der Bögen.577

An der Zuverlässigkeit der Teilnehmeraussagen zweifelte Crottogini nicht. Aus den bejahenden wie auch den ablehnenden Aussagen spreche gleichermaßen Ernst wie Wille zur Wahrheit gegenüber sich selbst als auch dem Fragesteller. Es handele sich bei den Teilnehmern zudem um Personen, die nach Erziehung und Bildung eine gewisse Übung darin hätten, über sich selbst und ihre Mitwelt Rechenschaft zu geben, und die außerdem über ein verhältnismäßig hohes Maß an Vorsicht und Selbstkritik verfügten. Natürlich dürfe nicht übersehen werden, dass hauptsächlich nach dem Berufsbewusstsein gefragt worden sei. Insofern beschränke sich das Material darauf, was den Befragten innerlich und äußerlich zugänglich gewesen sei.578

Vor der inhaltlichen Auswertung des Materials sortierte und kennzeichnete Crottogini die Fragebögen. Er trennte zunächst die Bögen nach In- und Ausland und vergab Kennziffern. Danach sortierte er feiner nach dem Kriterium Welt- oder Ordenskleriker. Schließlich unterschied er nach dem Berufsstand, d. h., ob die Antwort von einem Novizen, einem Studenten oder einem Priester stammte. Bei den 425 Bögen aus der Schweiz kam er so zu dem Ergebnis, dass 194 der Antwortenden dem Welt- und 231 dem Ordensklerus angehörten, von den 196 ausländischen Bögen stammten 128 vom Welt- und 68 vom Ordensklerus. Von den Schweizern waren 32 Bögen von Novizen, 314 von Studenten und 79 von Priestern. Unter den ausländischen Antworten waren 22 von Priestern, 173 von Studenten und eine von einem Novizen.579

Crottogini erfasste im Anschluss die 8960 Fragebogenseiten in einer Tabelle und klassifizierte sie. So wollte er das Material erst quantitativ sichern und auswerten, um es anschließend psychologisch-pädagogisch (qualitativ) zu interpretieren. Einen Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit seiner Ergebnisse erhob er nicht. Ihm war klar, es könne erst nach ähnlichen Untersuchungen andernorts mit ähnlichem Material geurteilt werden. Eine relative Allgemeingültigkeit schloss er vorab allerdings nicht aus, sollte sich das Material der schweizerischen Hauptgruppe mit den ausländischen Vergleichsgruppen deutlich ähneln oder sogar decken.580

2.2.2 Der Inhalt

Crottogini gliederte seine Dissertation mit dem ursprünglichen Titel „Die Wahl des Priesterberufes als psychologisch-pädagogisches Problem“ in zwei ungleich große Teile. Der erste im Umfang deutlich kleinere Teil trug die Überschrift „Zur Problemstellung und zur Methode“581. Er sollte in die Thematik, das Vorhaben und die Vorgehensweise einführen. Hier erfuhr der Leser zunächst den Beweggrund für das Projekt: „Der Mangel an Priesternachwuchs ist […] die große Sorge der kirchlichen Obern und damit jedes verantwortungsbewußten katholischen Gläubigen. Diese Tatsache drängt zu neuer Auseinandersetzung mit den Vorbedingungen des Priesterberufes.“582 Crottogini bemühte sich in diesem Teil um eine verständliche und nachvollziehbare Darstellung seiner gewählten Methode und seiner Vorgehensweise.583 Dazu gehörte auch eine theologische Rechtfertigung. Crottogini war die überwiegend ablehnende Haltung gegenüber Meinungsumfragen ebenso bewusst wie die Brisanz des Themas, weshalb er die ganz eigenen theologischen Bedenken berücksichtigte.

Gemäß katholischer Dogmatik gilt die Berufung zum Priestertum als Werk Gottes, als besondere göttliche Beistandsgabe – ein göttlicher Akt –, die in einem ewigen göttlichen Willensdekret wurzelt.584 Um möglichen Kritikern zu begegnen, die Crottogini hätten vorwerfen können, mit psychologisch-empirischen Methoden „ein Geheimnis ewiger göttlicher Vorherbestimmung und […] ein Wunderwerk der göttlichen Gnade“585 untersuchen zu wollen, erkannte er die Notwendigkeit einer Rechtfertigung. Er bekannte eigens, er stehe auf dem Standpunkt des Offenbarungsglaubens und in voller Übereinstimmung mit dem Lehramt der Kirche. Eine Theologie des Berufes schließe eine Psychologie aber nicht aus, sondern gerade ein.586 Eine wirkliche Berufung sei ohne berufenden Gott nicht denkbar und deshalb widersinnig. Gleichwohl gebe es äußere Fakten, die über die in der Gnadenführung aktive Berufung Auskünfte geben könnten, nicht über die göttliche Gnadenführung selbst, sondern die sich daran anschließenden Faktoren, die die Wahl des Priesterberufes ermöglichten und anregten.587 Wichtig war Crottogini hier vor allem die Betonung der „grundsätzliche[n] Nichterfaßbarkeit der Berufung und der Gnade in sich“588. Die göttliche Gnade sei damit nicht ausgeschlossen oder gar verneint; sie ließe sich nur nicht direkt einer Prüfung unterziehen.589 „Wer könnte die Gnade in direkter wissenschaftlicher Erfahrung fassen?“590 Crottogini baute auf diese Weise möglichen grundsätzlichen Einwänden gegen das Projekt vor.

 

Der zweite Teil und zugleich der Schwerpunkt seiner Dissertation trug die Überschrift „Die Faktoren der Berufswahl“591. In ihm stellte Crottogini seine Ergebnisse und Interpretationen dar. Auf die äußeren Faktoren wie Umwelt, Familie und weitere Umwelt folgte der Abschnitt der inneren Faktoren wie Begabung, Temperament, sittlich-religiöse Dispositionen, Sexus, Eros und Zölibat.592 Im dritten Abschnitt schließlich sollte das Zusammenspiel der äußeren und inneren Faktoren untersucht werden.593 Für dieses Schlusskapitel erarbeitete er außerdem einen weiteren „kleinen“ Fragebogen, der an eine kleine Vergleichsgruppe in ihrem Priesterwunsch gescheiterter „Ehemaliger“ ging, um die hemmenden Faktoren derjenigen zu evaluieren, die sich final gegen den Priesterberuf entschieden hatten. Denn

„[e]in nicht ungescheiter Psychologe und Pädagoge wird einwenden, das ganze Experiment hinke. Wolle man etwas über die tatsächlichen fördernden und hemmenden Faktoren in der Wahl des Priesterberufes ausmachen, so gehe es nicht an, nur jene zu befragen, die schlußendlich auf dem direkten Weg zum Ziel stehen oder dasselbe schon erreicht haben; die Rechnung stimme erst dann, wenn sozusagen die Passiven einbezogen werden, […] es müßten auch die sogenannten ‚Ehemaligen‘, die ‚gescheiterten‘ Berufe einbezogen werden.“594

Für die Auswertung der einzelnen Fragen stellte Crottogini die Antworten der „Ehemaligen“ statistisch mit den Antworten der Theologen in einer Tabelle dar. Die statistische Auswertung wurde oft noch um Zitate der Befragten ergänzt.595 Dann kommentierte er die Antworten, zog Schlüsse und/oder betrachtete sie je nachdem im Kontext der Theologie, der Psychologie und der Pädagogik. Schließlich bewertete er manchmal auch seine eigene Fragestellung dahingehend, ob sie ergiebig oder ergebnislos gewesen sei.

Bei den äußeren Faktoren ergab sich z. B. ein annähernd gleicher Anteil von Teilnehmern ländlicher (50,4%) wie städtischer Herkunft (49,6%), bei leichtem Überhang ersterer. Dazu rekrutierten sich die Theologen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Vor allem Handwerker- und Bauernsöhne hätten ein besonderes Interesse am Theologiestudium. Die Geschwisterreihe und -anzahl beeinflusse die Wahl zum Priesterberuf, ebenso die väterliche Mitgliedschaft in einer christlichen Gewerkschaft.596 Den Religionsunterricht hätten viele Teilnehmer als unbefriedigend bewertet, zugleich habe er aber viele bei ihrer späteren Berufswahl beeinflusst. Das Fachstudium habe den Berufswunsch überwiegend gestärkt wie auch der regelmäßige Altardienst und das Vorbild geistlicher Persönlichkeiten.597

Die Antworten auf die Fragen nach den inneren Faktoren fielen hingegen mehrheitlich unterschiedlich aussagekräftig aus. Mit Ausnahme der Antworten auf die Sexualfragen verfügte Crottogini nur über sehr bescheidenes Material, was die Interpretation erschwerte. Für Crottogini zeigte sich hier die Begrenzung der Fragebogenmethode, „die in bezug auf die saubere Erfassung einzelner innerpersönlicher Wirkkräfte nie an die Möglichkeiten der modernen psychodiagnostischen Methoden heranreicht.“598 Erkennbar sei aber: Die Teilnehmer seien meist gute bis sehr gute Volksschüler gewesen. In der Mittelschule habe es kleinere Notenverschiebungen nach unten gegeben. Die Mehrheit sei begabter in den sprachlichen Fächern, sodass Moderne Sprachen, Philosophie und Geschichte bei den Lieblingsfächern überwogen.599 Schwieriger zu interpretieren seien z. B. Angaben zur Selbsteinschätzung der Befragten gewesen, ob sie eher zu den Lebhaften, den Nervösen oder den Stillen gehörten. 203 Befragte zählten sich zu den Lebhaften, nur 5 zu den Nervösen und 217 zählten sich zu den Stillen. Auch der religiöse Eifer in Kindertagen sei nicht bei allen Befragten gleichermaßen auszumachen gewesen, sodass es „verfehlt [gewesen wäre], darin ein absolut notwendiges Zeichen für die Echtheit des Priesterberufes zu sehen.“600

Zu den inneren Faktoren zählten schließlich die Fragen zu Sexus, Eros und Zölibat, die aus heutiger Sicht sehr vorsichtig wirken, für damalige Verhältnisse aufgrund ihrer Intimität aber eine wirkliche Besonderheit waren. So interessierte sich die erste Frage für kleine oder große sexuelle Schwierigkeiten in der Pubertät.601 Diese Frage wurde von 413 Schweizern (97,2%) und 191 Ausländern (97,4%) beantwortet. 286 der Schweizer (69,3%) und 122 der befragten Ausländer (63,9%) berichteten von großen sexuellen Schwierigkeiten. 127 Schweizer (30,7%) und 69 Ausländer (36,1%) gaben kleine sexuelle Probleme an. Alle blickten auf mindestens kleine sexuelle Schwierigkeiten in der Pubertät zurück, zwei Drittel sogar auf große. „Die Qualifikationen ‚groß‘ und ‚klein‘“, so Crottogini, „beziehen sich dabei nicht auf die objektive ‚Schwere‘ des Tatbestandes, sondern auf die Intensität, mit welcher die Schwierigkeiten damals empfunden wurden.“602

Crottogini fragte sodann nach den genauen Ursachen und den Erscheinungsformen der Schwierigkeiten. Auf diese Frage antworteten ihm 323 Schweizer und 131 der ausländisch Befragten. Als größter Problembereich habe sich die Selbstbefriedigung erwiesen: 181 Schweizer (56%) und 68 der Ausländer (51,9%) gaben dies zur Antwort. Darauf folgten, wenn auch mit Abstand, unsaubere Phantasien (13,6%/15,3%), mangelnde Aufklärung (13%/14,5%), Verhältnisse zu Mädchen (9,3%/10,7%), homosexuelle Tendenzen (4,4%/3,8%) und Ängstlichkeit (3,7%/3,8%). Die Mehrheit, so Crottogini, habe oft jahrelang und schwer unter dieser Schwäche gelitten.603 Insgesamt hätten „von 621 Befragten mindestens 40,1% vor oder während der Pubertät längere oder kürzere Zeit sich der Selbstbefriedigung hin[gege]ben.“604 Den „effektive[n] Bestand der Onanisten“ setzte er aber noch höher an, weil er „von 167 Kandidaten keine oder nur ungenügende Angaben über die Richtung ihrer sexuellen Schwierigkeiten“605 erhalten habe. Die Höchstgrenze schätzte er auf 45%. Nach Vergleichen mit ihm vorliegenden „Onanistenstatistiken“ kam er zu dem Fazit, die zumindest zeitweise Selbstbefriedigung sei eine weitverbreitete Erscheinung unter Jugendlichen. Er schlussfolgerte weiter: „Daraus aber schließen zu wollen, nicht der Onanist, sondern der sich geschlechtlich Enthaltende sei die Ausnahme, scheint uns mindestens gewagt, wenn nicht eine vorzeitige und nicht bewiesene Verallgemeinerung.“606 Aus den Angaben einiger Teilnehmer, sie hätten gar nicht gewusst, was sie taten, schloss Crottogini auf den Zusammenhang zwischen mangelnder Aufklärung und Selbstbefriedigung.607

Die dritte Frage lautete, ob Schwierigkeiten durch Fremdeinflüsse (Dritte) geweckt oder gestärkt worden seien. Dies bejahten 157 Schweizer (26,3%) und 60 Befragte der Vergleichsländer (31,4%). Die Mehrheit der Schweizer (106) gab eine direkte Verführung an (z. B. durch Aufklärungen von Gleichaltrigen). In seltenen Fällen sei es auch zu Verführungen durch Hausangestellte oder sogar Geschwisterkinder gekommen. Die sexuellen Schwierigkeiten seien in mehreren Fällen auch durch unsittliche Lektüre, Filme und Reklame bestärkt worden.608