Ein Fluch aus der Vergangenheit

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Es ist mir persönlich gleichgültig, aber ich befrage Sie im Rahmen der Ermittlungen eines schweren Gewaltverbrechens“, verschärfte die Kommissarin ihre Stimme.

„Es wird gegen vierundzwanzig Uhr gewesen sein. Hat ihre Frage mit den Bewegungen dieser utopisch anmutenden Leute an der Freitreppe zu tun?“, wollte der Bootsbesitzer wissen.

„Ja.“

„Wir helfen Ihnen gern, wenn wir können.“

„Haben Sie heute Nacht Geräusche oder einen Streit an der Freitreppe gesehen oder gehört?“

„Nein“, kam die schnelle Antwort.

„Sind Sie sich sicher?“

„Also, ich glaube, mir kam etwas seltsam vor“, sprach die Frau. „Ich habe heute Nacht, als ich vom Schnarchen meines Mannes aufwachte, einen Schrei gehört.“

„Ich schnarche nicht“, erboste sich ihr Mann.

„Nein, ich hatte nur Angst, du zersägst unser Boot“, lachte die Frau.

„Erzählen Sie, was Sie gehört haben wollen“, forderte sie die Kommissarin auf.

„Ich bildete mir ein, einen kurzen Schrei gehört zu haben. Es war nur ganz kurz, deshalb dachte ich, mich verhört zu haben, und bin danach gleich wieder eingeschlafen“, sprach die Frau.

„Wann glauben Sie den Schrei gehört zu haben?“

„Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber ich schätze, es muss zwischen zwei und drei Uhr gewesen sein, denn wir waren noch nicht lange zu Bett gegangen, aber wie gesagt, ich möchte es nicht beschwören, es war nur ein Gefühl“, schloss die Frau ihre Aussage.

Frau Meister verabschiedete sich von den Bootseigentümern und ging an Land, wo Hauptkommissar Klaus Ullmann bereits auf sie wartete. Sie ging auf ihn zu und fragte nach seinen Ermittlungsergebnissen bei den Besitzern des anderen Bootes.

„Magere Ausbeute. Die Eltern und die Tochter wollen nichts gehört haben und ich glaube ihnen, denn ich musste sie wecken und alle waren sehr verschlafen. Sie hatten offensichtlich gestern Abend viel Alkohol zu sich genommen, denn auf dem Tisch stand eine ganze Batterie von Flaschen.“

Die Kommissarin berichtete dem Hauptkommissar von der Befragung der anderen Bootsbesitzer und brachte zum Ausdruck, dass das Ergebnis sehr mager ist, da die Aussage der Frau bezüglich des angeblich gehörten Schreies sehr zweifelhaft und nicht nachzuvollziehen sei. „Ich schlage vor, wir fahren in die Dienststelle zurück. Im Augenblick denke ich, haben wir alles ermittelt. Ich werde eine Befragung der Anwohner der Umgebung veranlassen, möglicherweise bekommen wir neue Hinweise. Die Tatortumgebung haben wir uns gründlich angesehen und eingeprägt. Der Leichnam ist in die Pathologie gebracht worden.“

In diesem Augenblick trat Herr Müller, der Chef der Spurensicherung, zu ihnen und sagte: „Ich werde jetzt mit meinen Leuten abziehen, für uns gibt es nichts mehr zu tun.“

„Wart ihr erfolgreich?“

„Kann ich nicht behaupten. Für den Augenblick gibt es keine konkreten Hinweise auf irgendwelche Täter oder einen einzelnen Täter. Das gesammelte Spurenmaterial ist sehr dürftig und wird noch genauer ausgewertet. Ich kann euch leider keinen weiterhelfenden Hinweis liefern“, schloss der Spurensicherer leicht verzweifelt.

„Ich warte auf das Protokoll“, bat Ullmann.

„Du bekommst es so schnell wie möglich, aber ich möchte mit meinen Mitarbeitern erst die vorhandene Täterkartei sichten, vielleicht ist ein Bekannter dabei“, sagte Müller und verabschiedete sich.

„Der Getötete ist in Finowfurt zu Hause, deshalb erwarte ich nicht, dass die zukünftige Befragung der Anwohner verwertbare Ergebnisse bringt“, schloss Ullmann.

Der Hauptkommissar ordnete in Übereinstimmung mit dem Chef der Spurensicherer an, die Absperrung am Tatort aufzuheben, und begab sich mit seiner Mitarbeiterin zu ihrem Dienstwagen.

Der Hauptkommissar wollte sich mit Jana Schubert und dem Polizeipräsidenten über die weiteren Ermittlungsschritte abstimmen und die entsprechenden Maßnahmen festlegen. Beide saßen später im Dienstzimmer mit Jana und der Sekretärin, Frau Schneider, zusammen und Ullmann hatte sich bereits mit dem Präsidenten abgestimmt. Frau Schneider hatte ihren berühmten Kaffee für ihre Kollegen gebrüht und die Stimmung war angesichts des schrecklichen Verbrechens sehr gedrückt. Der Hauptkommissar wollte soeben mit der Dienstbesprechung beginnen, als an die Tür zum Sekretariat geklopft wurde. Der Kommissar rief mit lauter Stimme: „Herein.“ Ein junger Mann in Polizeiuniform betrat etwas schüchtern das Sekretariat der Mordkommission und blieb zurückhaltend stehen. „Sind sie Herr Philipp Schroeder?“, wurde er von Ullmann gefragt.

„Ja“, kam es leise zurück.

„Treten Sie ein und besorgen Sie sich einen Stuhl“, wurde er vom Hauptkommissar aufgefordert.

Die Mitarbeiter der Mordkommission schauten sich verdutzt an und warfen ihrem Chef fragende Blicke zu. Der junge Mann wirkte leicht verunsichert, besorgte sich aus dem Sekretariat einen Stuhl und setzte sich an den Tisch der Mordkommission. Der Hauptkommissar schaute seine Mitarbeiter mit einem verhohlenen Lächeln an und begutachtete den eingetretenen jungen Mann. Er war mit seinem Auftreten zufrieden und der junge Mann erweckte bei ihm einen guten Eindruck. „Darf ich euch unseren neuen Mitarbeiter vorstellen?“, fragte er plötzlich und freute sich über die überraschten Gesichtausdrücke seiner Mitarbeiter.

Jana Schubert und Hannelore Meister schauten leicht verdutzt zu dem jungen Mann und Frau Schneider sagte: „Da werde ich gleich noch einen Kaffee besorgen, Sie trinken doch sicherlich welchen?“ Sie schaute den Neuen mit fragendem und zugleich warmherzigem Blick an.

„Gern, aber ich kann den Kaffee selbst besorgen“, kam die Antwort des Mannes.

„Das gehört zu meinem Aufgabengebiet“, lächelte Frau Schneider Philipp Schroeder an und es war deutlich zu sehen, dass der junge Mann das Herz von Helga Schneider in Flug erobert hatte.

Philipp Schroeder erweckte einen sehr aufgeschlossenen Eindruck und wirkte nicht überheblich. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, 1,80 Meter groß und blauäugig, was ihm einen stets freudigen Ausdruck verlieh. Er hatte am Tisch Platz genommen und wartete auf seine Vorstellung durch seinen künftigen Vorgesetzten, der in diesem Augenblick das Wort ergriff und seine Mitarbeiter dabei aus den Augenwinkeln beobachtete.

„Ihr seid sicherlich über die personelle Aufstockung unserer Abteilung überrascht, aber ich hielt es für nicht angebracht, euch vor dem Eintreffen unseres Neuzuganges zu informieren, da ich nicht sicher war, dass unser Polizeipräsident meinem Ersuchen nach einer Aufstockung der Mordkommission nachkommt. Gleichzeitig war mir der Zeitpunkt der Vergrößerung unserer Abteilung unbekannt und ich wollte keine unnützen Hoffnungen in euch wecken, dies hätte unserer Arbeit nicht gut getan. Ich freue mich, dass unser Präsident meinem Ansinnen verhältnismäßig schnell folgen konnte. Ich habe gestern Abend, nachdem mir das heutige Eintreffen unserer Verstärkung bekannt wurde, die Personalakte von Polizeianwärter Philipp Schroeder genauestens durchgelesen und muss gestehen, dass ich von dem Lebenslauf und den Zeugnissen sehr beeindruckt bin, und hoffe, dass diese Fakten in Zukunft bei der Erledigung unserer Dienstaufgaben nicht getäuscht haben. Herr Schroeder absolviert gegenwärtig die Schulung zum Polizeianwärter und hat die besten Noten der gesamten Klasse. Nach Befragung eines möglichen Praktikums in unserer Dienststelle willigte Herr Schroeder sofort ein, deshalb die schnelle Erfüllung meines Ersuchens. Ich hoffe, wir werden zukünftig gut zusammenarbeiten. Ich würde Sie jetzt bitten, sich in kurzen Worten Ihren neuen Mitarbeitern vorzustellen“, endete der Hauptkommissar.

„Mein Name ist Philipp Schroeder. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, habe das Abitur in Brandenburg abgelegt und mich danach sofort für den Polizeidienst entschieden. Seit drei Jahren absolviere ich das Studium an der Polizeischule. Ich bin nicht verheiratet und wohne noch bei meinen Eltern, die ein Eigenheim besitzen und daher genügend Raum für mich zur Verfügung haben. Ich freue mich sehr, in Ihrer Abteilung arbeiten zu dürfen, und werde mich bemühen, die Aufgaben nach bestem Ermessen zu erledigen, wobei ich sicher bin, dass ich von Ihnen sehr viel lernen kann. Das schulische Wissen ist die eine Seite, aber ich weiß, dass zwischen Theorie und Praxis eine große Lücke klaffen kann“, schloss Philipp Schroeder.

„Danke, Herr Schroeder“, zeigte sich Ullmann zufrieden.

„Darf ich noch etwas ergänzen, Herr Hauptkommissar?“, fragte der junge Mann.

„Bitte sehr“, sagte Ullmann.

„Ich heiße Schroeder mit ‚oe‘ und ‚d‘ wie Dora“, sagte der Neue mit leiser Stimme.

Im Dienstzimmer herrschte für einen kurzen Moment Stille. Die übrigen Mitarbeiter der Mordkommission schauten sich verdutzt an und brachen anschließend in schallendes Gelächter aus. Philipp Schroeder ließ es ruhig über sich ergehen und musste nach kurzem Zögern gleichfalls lachen, womit das letzte Eis der Anwesenden gebrochen war. Philipp Schroeder schien eine gute Ergänzung für das Kollektiv zu werden und erweckte einen sehr positiven Eindruck.

„Ich erwähne das hauptsächlich, weil es diesbezüglich bereits mehrere Verwechslungen gegeben hat, und für die Anfertigung von Protokollen oder anderer Belege ist die richtige Namensbezeichnung von nicht unwesentlicher Bedeutung“, erwähnte Schroeder.

„Ich hoffe, bezüglich der Erweiterung unserer Mordkommission sind die wichtigsten Fragen geklärt. Ich schlage vor, dass sich Herr Schroeder einen Arbeitsplatz in eurem Zimmer einrichtet, und erwarte, dass ihr ihm dabei behilflich seid. Frau Schneider wird Ihnen das benötigte Material zur Verfügung stellen. Ihren Computer können Sie in der Abteilung Technik abholen, die Mitarbeiter wissen Bescheid. Ich werde jetzt das neueste Verbrechen mit euch besprechen. Bei diesem, der Tötung eines Mannes in Angermünde, kann es sich um ein Gewaltverbrechen oder einen Unfall mit Todesfolge handeln. Genaueres erwarte ich vom Obduktionsbericht, den uns Frau Kesser heute noch zustellen wird“, führte Ullmann aus, als die Tür zum Dienstzimmer aufging und ein Polizist Frau Schneider eine Mappe mit der Bitte zur Weitergabe an den Hauptkommissar übergab. Der Hauptkommissar blätterte in der Akte und schaute, nachdem er sie durchgelesen hatte, seine Mitarbeiter mit festem Blick an. „Diese Akte enthält genauere Angaben zur Person, die heute Nacht tot aufgefunden wurde. Der Mann ist verheiratet und in Finowfurt wohnhaft. Er ist selbstständiger Versicherungsvertreter und gegenwärtig zu einer Schulung in Angermünde angemeldet. Er ist 35 Jahre alt und gemeinsam mit drei weiteren Versicherungsvertretern im ‚Hotel am Seetor‘ als Gast eingetragen. Die vier Personen sollen befreundet sein und jährlich gemeinsam die Schulung besuchen. Frau Meister und ich haben heute Morgen den Tatort besichtigt und erste Erkenntnisse gewonnen sowie Befragungen durchgeführt, deren Ergebnisse uns nach jetzigem Erkenntnisstand nicht wesentlich weiterhelfen. Ich werde gemeinsam mit Jana nach Finowfurt zu der Ehefrau der getöteten Person fahren, wobei wir über weitere Details sprechen können. Frau Meister wird Herrn Schroeder mit ‚oe‘ in den Fall einweisen und weitere Nachforschungen zum ‚Hotel am Seetor‘ in Angermünde durchführen. Belegungszahl, Gästeliste und so weiter, Sie wissen Bescheid, Frau Meister. Ich bitte Sie, das Umfeld von Lutz Schimmel bezüglich seiner beruflichen und privaten Tätigkeit zu durchleuchten, wir müssen von diesem Mann so viel wie möglich erfahren“, schloss der Hauptkommissar die Dienstberatung und alle Mitarbeiter gingen an ihre Arbeitsplätze.

 

5

Am gleichen Tag, als in Angermünde der Leichnam von Lutz Schimmel aufgefunden wurde, herrschte auf dem Gestüt der Familie Büttner Hochbetrieb. Das Gestüt lag in der Schorfheide nahe dem Ort Oderberg und umfasste ungefähr zweihundert Hektar. Das Gebiet der Schorfheide erstreckte sich von Eberswalde bis nach Friedrichswalde und war ein Teilgebiet des Barnimer Landes. In dem Gebiet der Schorfheide befand sich in der Nähe von Joachimsthal ein Biosphärenreservat, das nur zum Teil begehbar war. Die Schorfheide beherbergte seltene Gehölze und viele urwüchsige Pflanzen, welche nur in dieser Gegend beheimatet waren. Durch dieses Gebiet führten mehrere Rundwege, welche zum Großteil, besonderes an Wochenenden, von vielen Fahrradfahrern zu Ausflügen genutzt wurden. Es war ein zur inneren Ruhe einladendes Gebiet und zeigte besonders im Frühjahr und im Sommer seine ganze Pracht und Schönheit. Die Rundwege führten an vielen bekannten Sehenswürdigkeiten und alten Gebäuden vorbei. Eine besondere Sehenswürdigkeit war das Kloster Chorin, welches sich am Rand der Schorfheide befand. Am 2. September 1258 übereignete das markgräfliche Brüderpaar Johann I. und Otto III. dem Zisterzienserkloster Lehnin ein umfangreiches Gebiet im damaligen Barsdin, einschließlich der Burg Oderberg. Dafür sollte ein Kloster errichtet werden. Gemäß den damaligen Regeln der Zisterzienser mussten deren Klöster abseits von Siedlungen in abgeschiedenen Wald- oder Sumpfgebieten errichtet werden.

Neben ihrer Hauptaufgabe, dem Dienst an Gott, war es die Pflicht des Ordens, den Lebensunterhalt durch die Arbeit ihrer eigenen Hände zu sichern und Wildnis in Kulturland umzuwandeln. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war die Klosteranlage baulich vollendet. Dabei sind drei Bauabschnitte zu unterscheiden, die durch Wechsel von Material und Ziegelformaten bestimmt wurden. Im Osten wurde mit dem Bau des Klosters begonnen, deren verwendete Ziegel rot gefärbt waren. Im zweiten Bauabschnitt waren die Ziegel fleischfarben getönt. Der dritte Bauabschnitt ist durch die Verwendung von gelblichen Ziegeln gekennzeichnet. Im Westflügel wurde ein vollständiger Kreuzgang errichtet. Am Westflügel schlossen sich der Bau des südlichen Ostflügels sowie der Bau des Südflügels mit Brunnenhaus und Abt-Haus an. Das vom See und von sumpfigen Wiesen umgebene Klosterareal verbesserten die Mönche durch umfangreiche Wasserbaumaßnahmen. Die erforderliche Senkung des Wasserspiegels wurde mit dem Bau eines Dammes zwischen dem Chorinsee und der Ragöse bewirkt.

Die gesamte Bausubstanz muss während des Dreißigjährigen Krieges erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Im Jahre 1665 wurde die gesamte Kirche als baufällig bezeichnet. Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu baulichen Sicherungen und gestalterischen Verbesserungen. Im Laufe der nächsten Jahre erfolgten weitere bauliche Verbesserungen des Klosters und der gesamten Anlage, einschließlich der Neueindeckung des Daches.

In der Gegenwart finden im Kloster Trauungen und geführte Rundgänge durch die Anlage statt. Die Klosteranlage erweckt, aufgrund ihrer guten Pflege, einen sehr erfrischenden Eindruck und gibt den Touristen das Gefühl der Ruhe und Geborgenheit. Die Trauungen erfolgen in der ehemaligen Sakristei. Die Klosteranlage ruft bei den vielzähligen Besuchern stets Bewunderung über die Leistungen der Mönche beim Bau des Klosters hervor. Unter Berücksichtigung, dass die gesamte Außenanlage einschließlich der erforderlichen Wasserversorgung von den Mönchen geschaffen wurde und unter Beachtung der zum damaligen Zeitpunkt zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittel, ist den Touristen ihre Bewunderung deutlich anzusehen.

Neben dem Kloster Chorin gibt es in der Schorfheide weitere bedeutende Sehenswürdigkeiten, wobei dieses Gebiet nur durch kleine Ortschaften, wie zum Beispiel Joachimsthal und Chorin, besiedelt ist. Das Gestüt der Familie Büttner befand sich in der Nähe von Joachimsthal. Es beherbergte Stallungen für mindestens zwanzig Pferde, zwei große Koppeln, ein mehrstöckiges Wohngebäude, ein Gästehaus mit zwölf Übernachtungsmöglichkeiten und kleiner Küche zur Selbstanfertigung kleiner Mahlzeiten und ein langes Auslaufgelände zum Einreiten der Pferde. Zur Reinigung und zum Betrieb der Gästezimmer hatte die Familie Büttner eine Frau angestellt, zudem gehörten drei professionelle Jockeys zum Betrieb des Gestütes. Die Familie Büttner betrieb dieses Gestüt bereits seit zwanzig Jahren und die Gestütsinhaberin Katja Büttner hatte es von ihren Eltern vor zwanzig Jahren übernommen.

Sie hatte ihr ganzes Leben auf dem Hof ihrer Eltern verbracht und war im Prinzip mit den Pferden aufgewachsen und wusste daher über ihre Bedürfnisse sowie ihre Eigenheiten bestens Bescheid. Ihre Eltern hatten sie frühzeitig mit ihren Plänen der Übernahme des Gestütes vertraut gemacht und ihr die notwendigen Kenntnisse beigebracht. Nach ihrem Abitur hatte sie Zoologie studiert und sich dabei auf die Aufzucht und die Ausbildung der Pferde als Rennpferde, einschließlich der Gestaltung des Trainings und der Zucht der Tiere spezialisiert. Unter Pferdezucht versteht man die geplante und durchdachte Vermehrung von Pferden mit dem Ziel, Gesundheit, Leistungsvermögen und -bereitschaft und bestimmte Rassemerkmale zu erhalten oder zu verbessern. Das vom Züchter erstrebte Ideal ist, ein Pferd zu schaffen von so vollkommener Gesundheit und Harmonie zwischen äußerem und innerem Leben, dass alle Kräfte frei bleiben für Wollen und Wirken im Dienste des Menschen.

Dem Gestüt Büttner war es in den zurückliegenden Jahren mehrmals gelungen, gute Pferde zu züchten, die wiederholt im Pferderennsport Titel geholt hatten. Das Gestüt hatte einen guten Ruf und war in der glücklichen Lage, ein Überangebot an Zuchtanfragen zu erhalten, sodass sie einige Angebote nicht annehmen konnten und sich die Besitzer der Pferde aussuchen konnten.

Die Pferdezucht hat eine weit zurückreichende Historie und beginnt nach derzeitigem Wissensstand zwischen 5000 und 3000 v. Chr. etwa zeitgleich in verschiedenen Gebieten Europas, Asiens und Nordafrikas. Heute gibt es Hunderte verschiedene Pferderassen, die mit dem Menschen nahezu alle Lebensräume erobert haben. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein Rückgang der Artenvielfalt zu beobachten. Ursache dafür ist der Wegfall einer Reihe von Einsatzgebieten durch fortschreitende Industrialisierung, wie zum Beispiel der Einsatz der Pferde für Waldarbeiten beziehungsweise im Straßenverkehr.

Zu Beginn der Pferdezucht konnte man kaum von einer systematischen Zucht wie in der heutiger Form sprechen. Es wurden schlicht die zur Verfügung stehenden Tiere nach Gefallen miteinander gekreuzt. Gerne wurden durch Handel oder Raubzüge aus entfernteren Gegenden stammende Tiere gekreuzt. Das Endprodukt war eher zufällig. Die Rassen entsprachen weitgehend dem jeweiligen Gebiet der vorgefunden Naturrassen. Beim späteren Reinzuchtverfahren wurden nur Tiere der gleichen Rasse miteinander gepaart. Die Veredlung einer Rasse durch Einzucht einiger weniger Individuen mit gewünschten Eigenschaften ist Standard in der Pferdezucht. Die beiden Ursprungsrassen werden im Zuchtverlauf immer wieder zur Blutauffrischung und Verfestigung der Zuchtrichtung eingekreuzt. Die Zucht im 21. Jahrhundert ist überwiegend Privatengagement, da staatliche Institutionen die Kosten für eine reine Erhaltung nicht mehr tragen können. Wie auch bei anderen Tierarten werden Pferde mittlerweile nicht mehr nur auf natürlichem Wege, also durch das Zusammenführen von Hengst und Stute, vermehrt. Auch in der Pferdezucht haben künstliche Befruchtung und Embryotransfer Einzug gehalten. Wegen des verhältnismäßig langen Generationsabstandes des Pferdes sind für Züchter meist Hengste, die eine ganze Zuchtlinie begründen können, interessanter als Stuten, die selten mehr als sechs Nachkommen haben und dadurch ihre Merkmale nicht im selben Maße weitervererben.

Ein wesentlicher Faktor bei der Züchtung von Pferden ist deren Gesundheit, dazu gehört die ständige Kontrolle durch einen Tierarzt, einschließlich der Behufung der Tiere. Zu diesem Zweck hatten die Büttners einen Vertrag mit einem ortansässigen Hufschmied, der eine zyklische Kontrolle durchführte und gegebenenfalls neue Hufeisen aufbrachte. Die wichtige Reinigung der Stallungen und die Beseitigung des angefallenen Stallmistes wurden von den Mitarbeitern des Gestütes getätigt. Die Pferde standen unter ständiger ärztlicher Kontrolle durch einen zugelassenen Tierarzt, der den Tieren auch die erforderlichen Spritzen verabreichte und eine gegebenenfalls erforderliche Behandlung durchführte.

Zur Pferdepflege gehören weiterhin solch wichtige Faktoren wie die Zahnpflege, Entwurmungen, Gesundheitscheck, Insektenschutz und eine wiederholte Massage. Pferde sind sehr sensible Wesen und erfordern ständige Beobachtung bezüglich ihrer Gesundheit und stellen an ihre Umwelt eine hohe Anforderung in puncto Sauberkeit. Nach dem Ausreiten oder den Trainingseinheiten müssen sie gründlich getrocknet und abgerieben werden, was viel Aufwand erfordert, sodass die Mitarbeiter des Gestütes ständig unterwegs waren und wenig Zeit für Pausen blieb.

Zum Gestüt gehörten insgesamt acht Mitarbeiter, die in unterschiedlichen Schichten eingesetzt wurden. Die Rangordnung in einer Pferdeherde ist in der Regel weitgehend gefestigt und wird von der Mehrzahl der Pferde akzeptiert. Auf einem Gestüt spielt diese Rangordnung nicht die wesentliche Rolle, ist aber dennoch von Bedeutung, da die Tiere während ihres Aufenthaltes auf der Freikoppel ein ruhiges Miteinander erleben sollen. Zu Konflikten kommt es meist, wenn junge Pferde ihre Grenzen noch nicht genau kennen oder neue Pferde in die Herde eingeführt werden. Der Neuling muss sich vom letzten Platz nach vorn durchkämpfen, bis er schließlich seine feste Position innerhalb der Gruppe gefunden hat. Unsichere oder scheue Pferde fühlen sich im Herdenverband wohler als in Einzelhaltung.

Das Gestüt Büttner hatte sich auf die Zucht von Baden-Württembergern spezialisiert, und ihre Kunden und die Besitzer der beim Gestüt untergestellten Tiere hatten sich gleichfalls für diese Rasse entschieden. Diese Pferderasse ist ein echtes Reit- und zugleich Sportpferd. Der Baden-Württemberger hat einen edlen, ausdrucksstarken Kopf mit freundlichen, großen Augen. Der kräftige, muskulöse Rücken geht in eine runde, leicht abgeflachte Kruppe mit gut angesetztem, getragenem Schweif über. Diese Tiere werden zumeist bei Galopprennen eingesetzt. Bei einem Galopprennen werden die Pferde in ausgeloster Reihenfolge in die Startmaschine geführt. Das Signal zum Start durch den Startrichter erfolgt in seinem eigenen Ermessen, wobei er keine Rücksicht auf schwierige Pferde nimmt. Um eine Chancengleichheit zu gewährleisten, müssen die besten Pferde ein zusätzliches Gewicht von fünf Kilogramm tragen. Die Reihenfolge, in der die Pferde ins Ziel laufen, wird durch den Zielrichter, gegebenenfalls durch Zielfoto, bestätigt. Bei den Wetten von Pferderennen gibt es mehrere verschiedene Wetten. Die häufigsten Wetten sind die Siegwette, Platzwette, Zweierwette und Dreierwette, wobei bereits der Titel der Wette die gesetzte Platzierung des Pferdes zum Ausdruck bringt. Unabhängig von der gewählten Wette kommt es darauf an, die richtigen Ergebnisse des Rennens zu tippen. Die Zahl der Wettscheine ist praktisch unbegrenzt und man kann so viele abgeben, wie man möchte, wobei die professionellen oder süchtigsten Wetter zumeist erst kurz vor dem Start des jeweiligen Rennens ihre Wetten abgeben, was dann meistens zu einem regelrechten Ansturm auf die Wettschalter führt. Alle eingesetzten Renngelder laufen im sogenannten Totalisator zusammen, wo sie dann ausgewertet und in die Quoten umgerechnet werden. Diese Totalisatoren dürfen ausschließlich von Pferdezucht- oder Rennvereinen betrieben werden. Der Totalisator stellt quasi das Wettgeschäft auf der Rennbahn dar.

 

Die Finanzierung des „Gestüt Büttner“ ruhte, analog aller derartigen Gestüte, auf der Bezahlung der untergebrachten Pferde und der Reitstunden durch deren Besitzer sowie dem prozentualen Anteil am Gewinn der Reitpferde bei ihren gewonnenen Rennen. Ein wesentlicher Bestandteil der Finanzierung des Gestütes ist die Aufzucht und der Verkauf von Jungpferden, deren Preis von der Abstammung ihrer Eltern oder deren Nachzucht abhing. Je höher der Gewinn der elterlichen Pferde bei Rennen gewesen ist, desto höher ist der Verkaufswert der Jungpferde.

Zur guten Finanzlage des Gestütes trug die sehr gute Auslastung des zum Gestüt gehörenden Gästehauses bei, sodass die Familie Büttner finanziell auf guten Beinen stand. Aufgrund der Tatsache, dass das Gestüt keinerlei staatliche Hilfen erhielt, hatte Herr Büttner einen sogenannten „Freundeskreis Gestüt“ ins Leben gerufen. In diesen „Freundeskreis Gestüt“ zahlten viele Sponsoren in einen Finanzpool ein, welcher das Gestüt in die Lage versetzte, jährlich mehrere Veranstaltungen und Feste zu organisieren. Herr Büttner wurde als Geschäftsführer des „Freundeskreises Gestüt“ bestätigt und ging sehr sorgfältig mit den zur Verfügung stehenden Mitteln um und musste jährlich bei der Jahreshauptversammlung Bericht erstatten.

Die Sponsoren kamen aus unterschiedlichen Landesteilen und waren mit dem Gestüt eng verbunden und nahmen zum Großteil an den Veranstaltungen teil.

Am heutigen Tag herrschte auf dem Gestüt wieder Hochbetrieb, da viele Pferdebesitzer sich zu einem Ausritt mit ihren Lieblingen entschlossen hatten. Die Mitarbeiter gingen ihrer geregelten Arbeit nach und behinderten die Pferdebesitzer in keiner Weise, sondern halfen ihnen, ihre Pferde für den Ausritt vorzubereiten. Einige Besitzer waren mit ihren Tieren bereits unterwegs und hatten sich zum Teil zu kleineren Gruppen zusammengeschlossen. Herr Büttner kontrollierte die Arbeiten der Angestellten, während sich seine Frau Katja um das wohl der Gäste kümmerte. Der heutige Tag war jedoch kein Tag wie alle anderen, sondern erweckte bei den Mitarbeitern des Gestütes und besonders bei den Besitzern einen fahlen Nachgeschmack. Am heutigen Tag, genau vor sechs Jahren, war es auf dem Gestüt zu einem tragischen Unfall gekommen, bei dem ein Mann sein Leben verlor. Bis heute war der Fall nicht gänzlich aufgeklärt, obwohl die Polizei den Fall abgeschlossen und als tragischen Unfall zu den Akten gelegt hatte. Das Geschehen um den Unfall ist für die meisten Mitarbeiter noch immer rätselhaft und führt zu teilweise wilden Spekulationen. In der Box einer Besitzerin hatte eine Stute aus unerklärlichen Gründen sehr aggressiv reagiert und einen Mann zu Tode gebracht. Die Stute hatte sich bis zu diesem Augenblick stets unauffällig und ruhig verhalten und war das Lieblingspferd ihrer Besitzerin, welche noch zwei weitere Pferde besaß. Die Frau musste in der Box mit anschauen, wie ihr Mann durch die plötzliche Aggressivität des Pferdes zu Tode kam, erlitt dabei einen schweren Schock und ist bis heute geistig verwirrt. Sie wird immer noch in einer Klinik betreut.

In der Box des Geschehens war an der Rückwand eine Messingtafel mit dem Namen des getöteten Mannes, Herr Frank Korn, angebracht. Die Inschrift der Tafel enthielt den Namen des Mannes und das Datum des schrecklichen Geschehens. Der Mann und seine Frau hatten zwei Kinder, Silvia und Helmut. Das Mädchen war zum damaligen Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt gewesen, ihr Bruder bereits volljährig. Die beiden Geschwister hatten ein sehr enges Verhältnis und der Bruder kümmerte sich liebevoll um seine Schwester. Es waren Gerüchte im Umlauf, wonach die kleine Tochter des Ehepaares in der unmittelbaren Umgebung des Geschehens gewesen sein soll, was jedoch nie konkret bewiesen werden konnte, da das Mädchen nichts Genaues schildern konnte. Das Ehepaar Büttner, welches sich noch längere Zeit um die beiden Geschwister bemüht hatte, wusste, dass sie in Angermünde arbeiteten. Im Laufe der letzten beiden Jahre hatten sie den Kontakt zu ihnen abgebrochen.

Katja Büttner stand in der Unfallbox und betrachtete mit Wehmut das Messingschild. Ihr gingen wieder die damaligen Ereignisse durch den Kopf.

„Du kannst den Unfall nicht vergessen?“, fragte sie ihr Mann.

„Nein.“

„Wir hatten damals große Probleme mit dem Gestüt.“

„Ja, wir standen vor dem Konkurs“, erwiderte Katja.

„Der Unfall hat unserem guten Ruf sehr geschadet. Einige Besitzer zogen ihre Schützlinge ab und brachten sie auf andere Gestüte.“

„Ich frage mich noch heute, wie der Unfall geschehen konnte.“

„Da bist du nicht die Einzige“, antwortete ihr Mann.

„Die Stute war immer so sanftmütig und nichts deutete auf ein aggressives Verhalten hin. Nach meiner Meinung muss es einen Auslöser für ihr Verhalten gegeben haben.“

„Die Polizei hat alles gründlich untersucht.“

„Ich weiß, dennoch will ich nicht an das Verhalten des Pferdes ohne Grund glauben“, dachte Katja Büttner laut nach und schaute ihren Mann fragend an.

„Du musst das Geschehen endgültig vergessen.“

„Ich versuche es, aber immer wenn ich in diese Box komme, werden Zweifel in mir wach, was genau geschehen ist“, sagte Katja.

„Ich bin froh, dass wir damals der drohenden Insolvenz entkommen konnten. Zum Glück hatten wir einige Unterstützer und die Banken haben uns auch gut behandelt und uns mit günstigen Krediten unterstützt, sodass wir mit verkleinertem Etat weiterarbeiten konnten“, erläuterte ihr Mann.

„Ich weiß, wie du um unser Überleben gekämpft hast, und bin dir noch heute sehr dankbar dafür. Ohne deinen Einsatz hätten wir es nicht geschafft.“

„Du musst dich nicht bedanken, das habe ich für uns und unsere Kinder getan. Wir möchten doch beide, dass sie eines Tages das Gestüt weiterführen“, überlegte Herr Büttner.

„Das ist auch meine Hoffnung.“

„Ich denke, dass unsere Kinder sich hier sehr wohl fühlen, und ich habe den Eindruck, dass sie unser Werk fortsetzen. Auch ihre Ehepartner fügen sich gut ein.“

„Da hast du vollkommen recht und das bereitet mir viel Freude.“

„Wir sollten uns jetzt wieder unserer Arbeit widmen“, schlug Herbert vor.

„Ja, ich werde mich um unsere Gäste kümmern. Wenn ich richtig informiert bin, weilen heute einige Gäste bei uns, die damals ebenfalls auf unserem Gestüt zu Gast waren. Ich werde mit ihnen sprechen“, schlug Katja Büttner vor.

„Ich bin mir sicher, du findest die richtigen Worte für den Fall, dass euer Gespräch auf die damaligen Ereignisse kommt.“

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?