Der Tod der blauen Wale

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Kapitel 3

Oh Gott, sieht der beschissen aus, dachte Natalie Börns, als er ihr die Wohnungstür öffnete. Jürgen Kleekamp, zurzeit suspendierter Oberkommissar der Paderborner Polizei, war zwar gerade mal knapp über fünfzig, aber heute Morgen machte sein unrasiertes und aufgedunsenes Gesicht locker einen Siebzigjährigen aus ihm. Seine Kollegin wusste allerdings, dass er dieses Aussehen nicht einer Krankheit verdankte, sondern seinem Alkoholkonsum. Seit ein paar Wochen war er ständig betrunken, Wer so viel säuft, sollte eine gute körperliche Konstitution haben. Aber Kleekamp war übergewichtig, ernährte sich falsch und war dazu auch noch herzkrank.

Sie kannte ihn nun bereits seit fünf Jahren, aber in letzter Zeit hatte sich sein Zustand zusehends verschlechtert. Als sie, frisch von der Polizeischule kommend, ihren Dienst auf der Wache in der Riemekestraße angetreten hatte, war sie ihm zugeteilt worden und hatte nach dem ersten Tag gedacht, es wäre am besten, sie würde gleich wieder kündigen. Kleekamp hatte sie zu Beginn gemobbt, brüskiert und keine Chance ausgelassen, um sie runterzumachen. Er war ein übler Zyniker, ein Trinker, geschieden, ohne Beziehung, illusionslos und gegenüber den Bürgern genauso ungehobelt, wie er gegenüber seinen Vorgesetzten aufsässig war. Seine Autoritätsresistenz hatte letztendlich dafür gesorgt, dass er zurzeit von allen Dienstgeschäften entbunden war.

Doch er hatte er einen triftigen Grund dafür gehabt, sich unerlaubt aus einem Einsatz zu entfernen, denn dadurch hatte er ihr und einer Kollegin das Leben gerettet. Die Chefetage war allerdings der Auffassung, dieser Alleingang sei nicht nur sehr gefährlich, sondern auch überflüssig gewesen. Er war nun mal nicht beim Sondereinsatzkommando, sondern ein einfacher Streifenbeamter.

Natalie kannte Kleekamp mittlerweile sehr gut, denn sie hatte schon so manche gefährliche Situation mit ihm erlebt, in denen sie sich gegenseitig das Leben hatten retten müssen. Vermutlich war sie in der ganzen Behörde die Einzige, die nicht nur zu ihm hielt, sondern ihn sogar ein bisschen verstand. Okay, Jürgen war ein Großmaul. Er konnte auch ein gewaltiges Arschloch sein, aber er hatte das Herz auf dem rechten Fleck, und würde er sich Mühe geben, wäre er auch ein guter Polizist. Ja, wenn.

Trotz seines Dienstalters war er immer noch Oberkommissar und viele andere waren auf der Beförderungsleiter bereits an ihm vorbeigeklettert, doch das interessierte ihn nicht. Mit dem, was er verdiente, kam er aus, und man hörte ihn nicht selten sagen, das finanzielle Plus, das eine Beförderung mit sich brächte, würde er ohnehin nur seiner geschiedenen Frau in den Rachen werfen müssen. »Und wenn es einen Menschen gibt, dem ich das nicht gönne, dann ist es diese blöde Kuh«, fügte er meist noch verbittert hinzu.

Zu der blöden Kuh hatte er ebenso wenig Kontakt wie zu seinem Sohn oder seiner Tochter. Nach seiner Scheidung war er in dieses Mehrfamilienhaus in der Paderborner Innenstadt gezogen. Hier hauste er in seiner Junggesellenwohnung. Besonders aufgeräumt und sauber hatte sie noch nie ausgesehen, aber als Natalie nun in den Flur trat, hatte sie das Gefühl, sie stünde in einem umgekippten Zirkuswagen. Leere Flaschen, volle Mülltüten, schmutzige Wäsche auf dem Boden und ein Geruch, der zwar nicht genau zu definieren, aber widerlich war. Wie konnte man nur so hausen?

Noch während Kleekamp die Wohnungstür hinter ihr schloss, hatte sie sich bereits die Nase zugehalten, war in die Küche gestürmt und hatte dort das Fenster aufgerissen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und drehte sich dann zu ihrem Kollegen um, der mit einer schmuddeligen Jogginghose und einem fleckigen, ehemals weißen Unterhemd bekleidet in der Tür stehen geblieben war und sich nun mit verschränkten Armen an den Rahmen lehnte.

»Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Hier stinkt es wie im Schweinestall, die Bude sieht aus wie Sau und ich frage mich, ob du dich heute mal im Spiegel angesehen hast?«

Kleekamp blickte sie aus geröteten Augen an, verzog aber keine Miene und sagte auch kein Wort. Jeder andere hätte sich mit so einer Ansage postwendend einen verbalen Arschtritt von ihm eingefangen. Vermutlich war Natalie die einzige Person, die sich das bei ihm herausnehmen durfte. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte sie ja Recht. Er war in einem jämmerlichen Zustand und wusste nicht, wie lange er so noch würde weitermachen können. Als er suspendiert worden war, hatte er zwar den coolen Macho gespielt, aber bereits wenige Tage später festgestellt, dass ihm sein Beruf, über den er so oft gemeckert hatte, doch fehlte. Er hatte ja nichts anderes und konnte auch nichts anderes. Nur Bulle sein.

Er starrte Natalie an, die ihm in seiner dreckigen Küche gegenüberstand und ihn trotz ihrer rüden Frage mit einem traurigen Gesichtsausdruck ansah. Sie hatte sich verändert. Ihre schwarzen Haare trug sie zwar immer noch kurz geschnitten, aber vor fünf Jahren hatte sie ein Babyface gehabt und sich benommen wie ein Teenager, der plötzlich in einem Actionfilm gelandet war. Mittlerweile hatte sie sich bewährt, hatte gelernt, hatte geblutet und war an ihren Problemen und Aufgaben gewachsen. Jetzt stand ihm eine junge, attraktive Frau gegenüber, die selbstbewusst geworden war und ihren Beruf ebenso liebte wie er. Mit dem Unterschied, dass sie es auch zugab. Er bewunderte ihre sportliche Figur, ihre offene Art und vor allen Dingen ihre Fähigkeit, mindestens ebenso häufig zu lächeln, wie er grimmig dreinschaute.

Sie war unverheiratet und, wenn sich in den Wochen seiner Suspendierung nichts geändert hatte, auch immer noch ohne Partner. Manchmal fragte er sich, wann sie sich für einen Mann und möglicherweise auch für Kinder entscheiden würde, denn mit fast dreißig begann auch ihre biologische Uhr langsam zu ticken. Er hatte sie ins Herz geschlossen und er liebte sie, war sich aber darüber klar, dass diese Liebe rein platonisch bleiben würde. Außerdem würde momentan nicht einmal er selbst mit sich ins Bett gehen wollen.

»Was willst du? Bist du nur gekommen, um mich anzupöbeln?«, schnauzte er sie an, um nicht zu verraten, wie nah ihm ihr Besuch ging.

»Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht. Du lässt ja nichts mehr von dir hören.«

Kleekamp schlurfte zu einem der Küchenstühle, um sich darauf ächzend niederzulassen, schob einen Stapel Zeitungen, der darauf lag, achtlos zur Seite, sodass er zu Boden fiel. »Wie soll es mir schon gehen? Blendend, siehst du doch!« Er machte mit dem Arm eine raumgreifende Bewegung durch die Küche. »Ich bin suspendiert und lebe hier in meinem kleinen Paradies, alles bisschen runtergekommen und dreckig, aber immerhin bezahlt.«

Natalie sog deutlich hörbar ein. »Wenn du jetzt auf die Eigentumswohnung anspielen willst, die ich vor drei Wochen gekauft habe, dann …«

Kleekamp stoppte sie, indem er müde abwinkte. »Sorry, war nicht so gemeint.« Er blickte zu Boden und versuchte, das Thema zu wechseln. »Und? Was gibt es Neues auf der Wache? Hat die Alte euch schon alle eingenordet?« Mit der Alten meinte er Katharina Vogt, ihre neue Direktionsleiterin, die seinen ehemaligen Erzfeind Polizeioberrat Hartmann abgelöst hatte.

»Im Großen und Ganzen lässt sie uns in Ruhe, aber momentan ist es auch sehr still in der Stadt, nur ab und zu die üblichen Sondereinsätze im Stadion vom SC.«

Kleekamp lachte bitter auf. »In welcher Liga spielen die momentan überhaupt? Erste, zweite, oder dritte?« Er war kein Fußballfan und interessierte sich daher auch nicht für die heimische Bundesligamannschaft.

Natalie lachte ebenfalls. »Wenn die gegen die Bayern spielen, muss es ja wohl die erste Liga sein.« Dann wurde sie ganz plötzlich ernst. »Vor ein paar Tagen habe ich etwas Schlimmes erlebt.«

Ihre Stimme klang plötzlich so betrübt, dass Kleekamp sie erschrocken anblickte.

»Wir hatten einen Unfall. Ein dreizehnjähriger Junge ist von einem rechtsabbiegenden Laster erfasst und getötet worden.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und schüttelte sich, als ihr die Erinnerung kalte Scheuer über den Rücken laufen ließ. »Fürchterlich«, hauchte sie.

Kleekamp hatte in seinen Dienstjahren bei der Polizei schon so viel erlebt, dass ihn so etwas kaum noch schocken konnte. Was ihn jedoch berührte, war die Tatsache, wie emotional Natalie darauf reagierte. Wenn man nicht so zynisch und misanthropisch eingestellt war wie er, dann ging einem der Tod eines jungen Menschen immer noch nahe. »Tja, die Problematik mit dem toten Winkel kennen wir ja schon lange«, versuchte er das Gespräch auf eine sachliche Ebene zu lenken.

Natalie schien noch nicht dazu bereit zu sein. »Thomas hat den Unfall aufgenommen. Ich musste nur die Unfallstelle absichern und zum Glück die Todesnachricht nicht überbringen. Auch das hat er gemacht.«

Kleekamp blickte zu Boden und nickte dabei. Thomas Golzig war ihr Dienstgruppenleiter. Bei dem Fall hatte er also gleich zweimal ins Klo gegriffen. Erst die Unfallaufnahme, dann das Überbringen der Todesnachricht. Das war eine der undankbarsten Aufgaben bei der Polizei.

»Willst du einen Kaffee?«, fragte er, um von diesem beschissenen Thema wegzukommen.

Natalie seufzte noch einmal, drückte dann die Schultern durch und sah sich in der Küche um. »Wenn du in diesem Chaos noch Kaffee findest, gerne. Ansonsten lade ich dich zum Bäcker an der Ecke ein. Aber nur unter einer Voraussetzung.«

»Und die wäre?«

Natalie sah ihn und fing dann an zu lachen. »Dass du dir vorher was anderes anziehst!«

»Wieso, was gefällt dir denn an meinem Outfit nicht?« Er sah grinsend an sich hinunter. »In so einem Unterhemd hat Bruce Willis doch mal Karriere gemacht.«

»Wäre es nicht so dreckig, fände ich es ja auch ganz okay, denn du bist ja so gekleidet wie immer: einfach, aber geschmacklos.«

 

Kleekamp sah sie mit gespielt empörten Gesichtsausdruck an. »Na, hör mal, was fällt dir denn ein? Das ist …«

»Ich weiß, das ist dein Spruch«, fiel ihm Natalie ins Wort. »Aber nun komm endlich auf die Hufe, ich habe nämlich Durst auf Kaffee.« Sie schüttelte den Kopf, ging hinüber zum Fenster und schloss es wieder.

Kapitel 4

»Hey, Alda! Noch ’nen Hörnertee?« Sven Bohmert hielt die Flasche mit dem Hirschkopf auf dem Etikett hoch und stierte seinen Kumpel Markus Winter dabei aus geröteten Augen an.

Der rülpste vernehmlich und schüttelte dann den Kopf. »Nee, danke. Ich muss morgen früh raus. Um sechs Uhr geht der Wecker.« Als er auf seine Armbanduhr schaute, erschrak er und schnaufte erschöpft. Viertel nach zwei. Wenn er es jetzt schaffte, hier zügig die Kurve zu kratzen, bekäme er mit viel Glück vielleicht noch drei Stunden Schlaf.

»Melanie will morgen Nachmittag nach Bielefeld ins LOOM zum Shoppen, und ich habe ihr versprochen, dass ich sie hinfahre.« Mit taumelndem Kopf grinste er seinen Kumpel an. »Und Frauen soll man ja nichts versprechen, was man nicht halten kann.«

Sven schnaufte missbilligend. »Frauen ja, aber doch nicht der Schlampe!«

»Moment mal!« Markus glaubte, sich verhört zu haben. »Was hast du gerade gesagt? Melanie ist eine Schlampe?«

Sven kippte den nächsten Schnaps runter. »Hast richtig gehört. Das weiß doch jeder, nur du anscheinend nicht.«

Markus sprang so abrupt auf, dass der kleine Gartentisch ins Schwanken geriet und Bierflaschen und Gläser umstürzten. »Sag das noch mal und ich hau dir eine rein, du Arschloch!«, fauchte er seinen Kumpel an. Er nahm eine drohende Haltung ein und sein Gesicht wurde zornesrot.

Sven blieb gelassen. Ihn schien dieser Ausbruch entweder nicht zu beeindrucken oder aber er konnte die aufkommende Gefahr aufgrund seines Alkoholkonsums nicht richtig einschätzen. »Mensch, Alter, reg dich doch nicht so auf. Die Kuh vögelt doch mit jedem rum, der nicht bei drei auf dem Baum ist.« Unter alkoholschweren Lidern schaute er zu seinem Freund hoch.

Statt einer Antwort stürzte der sich auf ihn und die beiden kippten mitsamt Svens Stuhl nach hinten. »Komm mit raus! Dann schlage ich dir deine dumme Fresse ein«, schrie Markus mit Schaum vor dem Mund. »Los, du feige Sau, steh auf und wiederhol dann noch mal, was du gerade gesagt hast.«

Markus hatte sich aufgerappelt und ein paar Schritte zur Tür neben dem Rolltor gemacht. Hier in der ehemaligen Lkw-Werkstatt trafen sich die beiden Freunde regelmäßig, um nun an klapprigen Autos zu schrauben. Meist endeten diese Schraubertreffen allerdings erst in den frühen Morgenstunden und selten nüchtern, also genau wie heute.

Eigentlich waren die beiden wirkliche Freunde, aber seit Markus sich in Melanie verguckt hatte, war er bei diesem Thema sehr dünnhäutig. Dabei hatte er früher über jede lockere und freizügigere Frau heftig hergezogen. Obwohl seine Melanie sehr locker und sehr freizügig war, so stand sie für ihn doch plötzlich über allen anderen und jede Kritik an ihr war so etwas wie eine Gotteslästerung. Wäre er nüchtern gewesen und hätte ein paar Minuten nachgedacht, dann hätte er sich eingestehen müssen, dass sein Kumpel nicht ganz Unrecht hatte. Melanie legte in Bezug auf Sex tatsächlich mehr Wert auf Quantität, als auf Qualität. Doch voll mit Bier und hochprozentigem Kräuterschnaps war er weder in der Lage, das alles sachlich zu sehen, noch sich zu beherrschen.

»Was ist nun, du Spacke?« Er öffnete die Tür und wankte in die Einfahrt. Seine Wut steigerte sich noch, als er sah, dass er sich bei dem Sturz die Hose aufgerissen hatte.

Sein Kumpel Sven, ebenfalls auf die Beine gekommen, torkelte soeben hinter ihm aus der Werkstatt. »Mensch, hör doch mal zu …«, setzte er an, kam aber nicht weiter, weil Markus ihm mit dem Edelstahlrohr in den Magen schlug, mit dem sie normalerweise das große Tor offen hielten. Sven krümmte sich zusammen, riss die Hände vor den Bauch und ging augenblicklich zu Boden. Noch im Fallen begann er zu würgen und übergab sich.

Erschrocken taumelte Markus zurück und ließ das Rohr los, das mit schepperndem Tönen die schräge Einfahrt hinunterrollte und im Rinnstein liegen blieb. Fassungslos sah er zu Sven herunter, dem auf dem Boden liegend plötzlich Blut aus dem Mund floss.

Verdammt, was hatte er da getan? Mit einem Schlag war er so ernüchtert, dass seine Rage augenblicklich verflog und er sich Vorwürfe machte. Was sollte er jetzt machen? Er hatte noch eine Bewährungsstrafe wegen einer anderen Schlägerei offen, und wenn Sven ihn jetzt wegen dieser Körperverletzung anzeigte, dann saß er womöglich bald im Knast.

Panisch sah er sich um. Anscheinend hatte niemand etwas mitbekommen. Also weg hier und hoffen, dass Sven sich später an nichts erinnern konnte. Einen Moment lang stutzte er. Oder sollte er dafür sorgen, dass Sven sich tatsächlich an nichts mehr erinnern würde? Eine Gehirnerschütterung sollte da ja Wunder wirken. Er sah auf seine schweren Arbeitsschuhe mit den Stahlkappen. Dann fiel ihm das Rohr wieder ein. Leicht schwankend begab er sich zum Rinnstein und wollte es schon aufheben, da schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf.

Kapitel 5

Natalie hatte gerade ihren Wagen abgeschlossen, als sie von hinten angesprochen wurde. Sie drehte sich um und schaute ihrer Chefin, Katharina Vogt, direkt ins Gesicht.

»Hallo, Frau Börns. Na, wie gefällt es Ihnen im Ermittlungsdienst? Ich hoffe, die Arbeit macht Ihnen Spaß.« Die Polizeioberrätin mit den blonden Haaren und den beiden goldenen Sternen auf jeder Schulterklappe, lächelte sie freundlich an. Seit der Versetzung von Polizeioberrat Hartmann war sie die Leiterin der Schutzpolizei, ihr unterstanden alle Wachen und Streifenbeamten. Sie war es auch, die Jürgen Kleekamp vom Dienst suspendiert hatte, nachdem er mit Natalie einen Serienmörder gestellt hatte.

Natalie musste sich schütteln, als sie an die gefährliche Situation dachte, in der sie von der Schusswaffe hatte Gebrauch machen müssen. Dann tauchten in ihrer Erinnerung auch wieder die Flammen auf. Sie sah sie vor ihrem inneren Auge aus dem alten Gebäude schlagen und erlebte noch einmal die bangen Minuten des Wartens, bis Kleekamp unverletzt aus dem Gebäude gestürzt kam. Bis heute wusste sie nicht, wie das Gebäude hatte in Brand geraten können, doch es war zum Scheiterhaufen für einen unsagbar grausamen Mörder geworden.

Nach diesem spektakulären Einsatz war Kleekamp suspendiert und sie war aus fürsorglichen Gründen, wie man es höflich formuliert hatte, vorübergehend zur Kripo versetzt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Ermittlungsverfahren gegen sie beide eingeleitet, dessen Ausgang bis heute noch offen war. Natalie blickte ihre Chefin mit gemischten Gefühlen an, weil sie nicht einschätzen konnte, warum sie versetzt worden war, aus Fürsorge oder um sie aus dem Verkehr zu ziehen.

Sie hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und erinnerte sich an Katharina Vogts Frage. »Ist schon okay. Ich sitze zwar lieber auf dem Streifenwagen als im Büro, aber es ist ja mal ganz interessant mit den Kollegen von der Kripo zu arbeiten. Meist schreiben wir ja im Streifendienst nur die Anzeigen, geben sie in den Geschäftsgang und hören dann nichts mehr davon. Jetzt erlebt man mal, wie sie weiterbearbeitet werden.«

Katharina Vogt strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ja, so ein Perspektivwechsel kann sowohl aufschluss- als auch hilfreich sein. Schön, dass es Ihnen gefällt. Könnten Sie sich denn vorstellen, mal dauerhaft in diesem Bereich zu arbeiten?«

Natalie schüttelte den Kopf. »Nein, wie ich schon gesagt habe, ich fahre lieber Streife. Da kann man seine Einsätze abarbeiten und somit abschließen. Jetzt erlebe ich oft, dass viele Vorgänge gleichzeitig bearbeitet und immer wieder hin und her geschoben werden. Mal fehlt noch eine Zeugenaussage, mal will die Staatsanwaltschaft noch eine Frage beantwortet haben, dann fehlen kriminaltechnische Untersuchungsergebnisse. Ich habe den Eindruck, die Bearbeitung mancher Vorgänge dauert ewig. Das wäre nichts für mich.«

Ihre Chefin schmunzelte. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor.«

Natalie nutzte die Gunst dieses Gesprächs. »Wie lange muss ich denn noch da oben bleiben?«

»Die Staatsanwaltschaft hat gestern das Ermittlungsverfahren gegen Sie und ihren Kollegen Kleekamp eingestellt. Man geht bei dem Brand von einem Unglücksfall aus und ihre Schussabgabe wurde aufgrund der Aussagen Ihrer Kollegen als Notwehrhandlung eingestuft.«

Man konnte Natalie die Erleichterung ansehen und den Stein förmlich hören, der ihr vom Herzen fiel. Auch wenn sie sich immer wieder wie ein Mantra heruntergebetet hatte, richtig gehandelt zu haben, so waren ihre Selbstzweifel doch nie ganz verschwunden. Schließlich hatte sie auf einen Menschen geschossen. Die Obduktion der Leiche hatte zwar ergeben, dass er aufgrund des Feuers gestorben war, aber auch das hatte sie nicht wirklich beruhigen können. Ihre einzige Rechtfertigung war, dass der Täter versucht hatte, Jürgen Kleekamp zu töten, und sie diesem damit das Leben gerettet hatte. Als ihr sein Name in den Sinn kam, fiel ihr sofort etwas anderes ein.

»Wenn das so ist, dann wird ja jetzt auch Jürgens Suspendierung aufgehoben, oder?« Das wurde auch höchste Zeit, denn bei ihrem Besuch hatte sie deutlich gespürt, wie sehr er darunter litt.

»Nein, die Suspendierung von Herrn Kleekamp bleibt bestehen, bis die Vorermittlungen des Disziplinarverfahrens abgeschlossen sind.«

»Aber wenn die Staatsanwaltschaft doch schon zu dem Schluss kommt …«

Katharina Vogt unterbrach die junge Polizistin. »Frau Börns, Herr Kleekamp ist nicht wegen der Vorfälle in der Auguste-Viktoria-Klinik suspendiert worden, sondern weil er gegen eine dienstliche Anordnung verstoßen hat. Hier geht es um disziplinar- und nicht um strafrechtliche Aspekte. Erst wenn der Vorermittlungsführer zu einem Ergebnis gekommen ist, werden wir sehen, ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Ich glaube aber, ich brauche Ihnen nicht zu erklären, dass so ein Verfahren im Falle Kleekamp aufgrund seiner vielen bereits vorausgegangenen Verfehlungen nur das Ziel der Entlassung haben könnte.«

Dann geht er kaputt, dachte Natalie. Bei den Ausführungen ihrer Chefin war sie kreidebleich geworden. Wenn dieser Fall eintrat, wäre es das Todesurteil für Jürgen. Sie war sicher, dass er sich das Leben nehmen würde, aber nicht mit einer Pistole, sondern mit einer Flasche Schnaps.

»Aber er hat doch vollkommen richtig gehandelt, als er sich aus dem Einsatz entfernt und sowohl Vanessa als auch mir das Leben gerettet hat.«

Katharina Vogt sah, dass der jungen Polizeibeamtin die Tränen in die Augen stiegen. Auch wenn sie erst kurze Zeit in Paderborn war, so wusste sie doch, was Natalie zusammen mit Jürgen Kleekamp bereits erlebt hatte. »Frau Börns, es kann nicht angehen, dass er sich ohne Absprache aus einem Einsatz entfernt, Sie dazu überredet mitzumachen und sie beide sich in eine Situation begeben, bei der wir normalerweise das Sondereinsatzkommando eingesetzt hätten.«

»Aber der Täter wollte uns doch haben, auf etwas anderes hätte er sich doch vermutlich gar nicht eingelassen.«

Katharina Vogt seufzte. »Frau Börns, ich schätze Sie und Ihre Art, aber glauben Sie nicht, dass die Beurteilung einer solchen Situation anderen Leuten überlassen werden sollte? Dazu gibt es Führungskräfte und Sondereinsatzkommandos wie die Verhandlungsgruppe.« Sie blickte Natalie ernst in die Augen. »Und wer weiß, vielleicht wäre der Täter heute noch am Leben, wenn Herr Kleekamp nicht auf eigene Faust gehandelt hätte.«

Natalie schnappte hörbar nach Luft. »Was wollen Sie denn damit sagen?«, brauste sie auf.

»Dann sagen Sie mir doch bitte, wie und warum der Brand entstanden ist«, verlangte Katharina Vogt.

Natalie senkte betroffen den Blick. »Das kann ich nicht«, musste sie zugeben.

Eine Weile schwiegen beide, dann ergriff die Polizeichefin noch einmal das Wort. »Lassen Sie uns abwarten, ob es ein Disziplinarverfahren geben und wie es ausgehen wird, dann sehen wir weiter.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und streckte Natalie dann die Hand hin. »Ich muss leider los, der nächste Termin wartet schon. Halten Sie die Ohren steif und genießen Sie das schöne Wetter.« Dabei deutete sie mit dem Kopf zum wolkenlosen blauen Paderborner Himmel und ließ sie dann stehen.