Der Tod der blauen Wale

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Mein Haus, nicht unseres, schoss es Natalie durch den Sinn. Nicole Herber hatte hier nichts zu melden. Auch sie war hier nur eine Art Dekoration.

Obwohl sie wütend war, hielt sie Herbers Blick noch eine Sekunde lang stand, bevor sie sich provozierend langsam umdrehte und zusammen mit Marx die Stufen zum Essbereich hinaufstieg. Herber folgte ihnen auf dem Fuße. Im Hinausgehen drehte Marx sich noch einmal um. »Es kann sein, dass wir in dieser Sache noch ein paar Fragen haben, dann …«

Der Rechtsanwalt fiel ihm barsch ins Wort. »In diesem Falle wenden Sie sich an meine Kanzlei. Guten Tag.«

Der Kriminalbeamte wollte darauf noch etwas erwidern, doch kaum war er vor die Tür getreten, wurde diese bereits hinter ihm zugeschlagen. Wieder einmal bestätigte sich seine Meinung, die er sich über Herber gebildet hatte. Er spürte, wie die Wut langsam in ihm hochkochte und Natalie ihm eine Hand auf den Arm legte. In ihren Augen sah er, dass sie genau dasselbe dachte wie er und das beruhigte ihn wieder. Wenn Herbers Verhältnis zu seinem Sohn genauso war, wie zu seiner Frau, dann war es kein Wunder, dass der Junge Selbstmord begangen hatte.

Kapitel 8

Als sich die eiserne Grundstückstür wieder hinter Natalie und Marx schloss, verließ Kleekamp gerade seine Wohnung und staunte. Die Tür gegenüber stand weit offen, sodass er in einen leeren Flur blicken konnte. Eigentlich hatte er erwartet dort die alte Eichengarderobe, den abgetretenen roten Teppichläufer und die Tapete mit dem Muster aus den siebziger Jahren zu sehen. Doch stattdessen blickte er auf kahle Wände, den blanken Estrich, eine hölzerne Malerleiter und diverses Werkzeug. Entweder war die alte Kreienhorst ausgezogen oder ihre Bude wurde endlich mal renoviert. Kleekamp wunderte sich, dass er davon nichts mitbekommen hatte, was aber sicherlich daran lag, dass er in letzter Zeit kaum vor die Tür gegangen war. Außer zum Saufen.

Er stieg die fünf Stufen zur Haustür hinunter, wo ihm ein junger Mann mit dunklem Teint und schwarzen Haaren entgegenkam. Der Türke von oben. Kleekamp kannte nicht mal seinen Namen. Der leere Abfalleimer in seiner Hand ließ jedoch darauf schließen, wo er gerade gewesen war.

»Hallo, Herr Kleekamp, lange nicht gesehen.«

»Tach«, knurrte Kleekamp einsilbig und wollte schon an ihm vorbei gehen, als der ihm den Weg versperrte. Er deutete mit dem Kopf zur offen stehenden Wohnungstür und grinste. »Na, was sagen Sie dazu, dass wir so schnell eine neue Mitbewohnerin bekommen?«

Kleekamp sah ihn mäßig interessiert an. »Ist die alte Kreienhorst endlich ausgezogen? Ins Altersheim?«

Der junge Mann sah ihn mit erstauntem Gesichtsausdruck an. »Wissen Sie das denn nicht? Die ist doch letzte Woche gestorben. Wir waren doch alle auf der Beerdigung«, er stutzte kurz, »na ja, alle bis auf Sie!«

»Und wieso hat mir keiner Bescheid gesagt?«, blaffte Kleekamp ihn an.

Der Mann fuhr erschrocken zurück. »Aber es haben doch alle eine Karte bekommen. Ich habe sie doch persönlich in den …« Sein Blick ging zur Haustür hinunter, neben der die Briefkästen montiert waren. Man musste nicht einmal genau hinsehen, um festzustellen, dass der von Kleekamp vollgestopft war, nicht einmal die Klappe ließ sich noch schließen.

Kleekamp war seinem Blick gefolgt und schluckte. Verdammt, wie lange hatte er da nicht mehr reingesehen? Der letzte Brief, den er bekommen hatte, war ihm als Einschreiben persönlich zugestellt worden und auch der Grund, warum er heute das Haus verließ. Er warf seinem Mitbewohner einen letzten Blick zu, zuckte nur mit den Achseln und ließ ihn dann ohne jedes weitere Wort im Treppenhaus stehen.

»Auf jeden Fall kommt jetzt Farbe ins Haus«, rief sein Nachbar ihm hinterher, doch Kleekamp reagierte nicht darauf.

Wäre er dem jungen Mann in letzter Zeit häufiger begegnet, dann wäre ihm aufgefallen, dass Kleekamp heute frisch geduscht und rasiert war. Das lag wiederum daran, dass ihm sein Rechtsanwalt dringend dazu geraten hatte. Bei ihrem letzten Treffen hatte sich Kleekamp zunächst allen Argumenten widersetzt, einen Termin beim disziplinarischen Vorermittlungsführer wahrzunehmen. »Die glauben mir doch sowieso nicht. Was soll ich also da?«

Moorland hatte ihm schließlich doch klarmachen können, dass eine Weigerung seinerseits vielleicht nicht ganz so clever war. Der über 70-jährige Rechtsanwalt hatte nicht nur eine Menge Lebens-, sondern auch Berufserfahrung und wusste daher genau, wann es Zeit für welchen Weg war. Allerdings hatte es ihn mehr als eine halbe Stunde gekostet, seinen Mandanten von dieser Vorgehensweise zu überzeugen.

Widerstrebend hatte Kleekamp sich also an diesem Morgen rasiert und geduscht, denn sein Rechtsverdreher hatte ihm mit auf den Weg gegeben, dass sein bloßes Erscheinen noch nicht reiche. Es käme auch auf einen guten Eindruck an, wenn er seinen Job behalten wollte. Und das wollte er, denn er hing daran.

Als er draußen die Haustür hinter sich ins Schloss zog und sich umdrehte, stieß er mit einer jungen Frau zusammen, die soeben ins Haus hineinwollte. Kleekamp blickte sie an und stutzte. Sie war fast so groß wie er, schlank, hatte pechschwarze Haare, die straff nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Augenblicklich fielen ihm ihre schneeweißen geraden Zähne auf, was vermutlich daran lag, dass ihre Haut dunkelbraun war.

»Oh, Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen, sondern in meiner Tasche nach dem Schlüssel gesucht.« Sie sprach ohne erkennbaren Akzent, doch Kleekamp hatte den Eindruck, als höre er unterschwellig einen leichten amerikanischen Akzent.

»Ist schon gut«, antwortete er, »ist ja nichts passiert.« Er trat einen Schritt zur Seite und gab ihr die Haustür frei.

»Wohnen Sie hier?« Sie steckte den Schlüssel ins Schloss.

»Ja, unten links.« Kleekamp betrachtete ihre langen Beine, die in einer hautengen Stretchhose steckten. Sie war aus einem Stoff, der irgendwo zwischen schwarzem Leder und schwarzem Gummi lag. Ihre roten Heels bildeten einen auffälligen Kontrast dazu.

»Oh, dann sind wir ja bald Nachbarn«, sagte die junge Frau und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Yvonne. Schön, Sie kennenzulernen.«

Kleekamp wurde von ihrem freundlichen Vorstoß ein wenig überrumpelt und es dauerte einen Augenblick, bis er ihre Hand nahm. »Kleekamp.« Er blickte in ihre Augen und hielt ihre Hand einen Moment länger als üblich fest. Dann bemerkte er ihren Gesichtsausruck, fühlte sich ertappt und ließ schnell los. »Äh, ich muss los, man sieht sich. Tschüss.«

Er drehte sich abrupt um und stiefelte den Plattenweg zum Gehweg hinunter. Das war nicht die erste schwarze Frau, die er gesehen hatte, konnte sich aber nur an wenige erinnern, die so attraktiv waren. Plötzlich musste er grinsen. Sobald sie ihr Namensschild an der Tür angebracht hätte, würde er auch wissen, wie sie mit Nachnamen hieß. Er war sich allerdings sicher, dass er ihren Beruf bereits kannte, denn für Nutten hatte Kleekamp einen guten Riecher. Nicht umsonst hatte er mal eine zur Freundin gehabt.

Kapitel 9

Natalie zog eine leere Kaffeetasse von der Mitte des Tisches zu sich heran. »Glaubst du eigentlich an Gott?« Nachdem sie zurück zur Dienststelle gefahren waren, hatten die beiden sich in den Aufenthaltsraum begeben und Marx hatte die Kaffeemaschine in Gang gesetzt.

»Schwerlich«, gestand dieser. »Was sollte das denn für ein Gott sein, der zulässt, dass sich junge Menschen so etwas antun.«

Natalie musste immer noch daran denken, was sie empfunden hatte, als sie sich das heimlich weitergeleitete Video noch einmal angesehen hatte. Dieser Junge war noch so jung gewesen und hatte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Ihr war ebenfalls aufgefallen, wie zart und zerbrechlich er ausgesehen hatte. Er hatte nicht diesen manchmal verbitterten oder aufsässigen Gesichtsausdruck anderer Jugendlicher. Der Junge hingegen kam Natalie eher verletzt vor. Ob es das Werk seines Vaters war? Sie schüttelte sich bei der Erinnerung an dessen barsche Worte.

Ihr Kollege holte sie aus diesen düsteren Gedankengängen, indem er die Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee vor sie hinstellte. Natalie lächelte ihn dankbar an und bediente sich. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk und blickte Marx dann über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Sag mal Wilfried, werden einem die vielen toten Menschen irgendwann einmal egal oder machen sie einem ein ganzes Polizistenleben lang zu schaffen?«

Marx seufzte und ließ sich gegenüber seiner jungen Kollegin auf einen Stuhl fallen. Er schwieg einen Moment, musste erst überlegen, was er ihr antworten sollte. »Ich glaube, es kommt immer darauf an, wer gestorben ist.« Marx legte beide Hände um die Kaffeetasse, als ob er sich daran wärmen wollte. »Wenn es um Kinder oder um Jugendliche wie diesen Kai Herber geht, dann bleibt es, glaube ich, immer schwer, sich damit abfinden zu müssen. Andere hingegen sterben auf Raten, und man weiß schon frühzeitig, dass sie irgendwann dran sind.«

Natalie warf ihm einen forschenden Blick zu. »Wer stirbt auf Raten?«

»Leute mit unheilbaren Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs. Dann unsere Junkies, die sich irgendwann totspritzen, oder die Alkoholiker, die sich mit der Flasche umbringen. Oder psychisch Kranke, die so lange versuchen, sich umzubringen, bis sie es endlich geschafft haben. Da rechnest du einfach damit, sie irgendwann mal tot aufzufinden, aber wenn der Tod so unerwartet kommt …« Marx sprach nicht mehr weiter. Es war zwar ein Scheißthema, aber er konnte verstehen, dass seine junge Kollegin nach Antworten suchte. Das hatte er in ihrem Alter auch gemacht.

 

»Meinst du, die Eltern von Kai haben nicht gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte?« Auf ihrer Stirn war ein großes Fragezeichen zu sehen.

Marx zuckte mit den Achseln. »Seinem Vater war er anscheinend egal. Es kam mir fast so vor, als sei er froh, dass er ihn endlich los ist.«

Natalie blickte ihn erschrocken an. »Okay, er schien nicht sonderlich zu trauern, aber froh?«

»So, als ob er durch den Tod eine Last losgeworden wäre. Aber wie gesagt, ist nur so ein Bauchgefühl von mir.«

»Was sollte Kai seinem Vater denn für einen Kummer gemacht haben? Ich habe ihn mal durch unseren Computer laufen lassen. Er ist sauber wie frisch gefallener Schnee. Keinerlei Einträge.«

Marx strich sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn. »Vielleicht gab es ja schulische Probleme? Vielleicht erfüllte er die Erwartungen des großen Dr. Herbers nicht?« Marx schob seine Kaffeetasse von sich weg und blickte Natalie in die Augen. »Aber denke bitte daran, dass dieser Fall als Suizid eingestuft worden ist. Es wird keine weiteren Ermittlungen mehr geben, da keine Straftat vorliegt. Nur um die können wir uns kümmern. Auch wenn Onkel Herbert mit allen Mitteln versucht, unsere personelle Situation zu verbessern, so müssen die neuen Kolleginnen und Kollegen doch erst einmal ausgebildet werden. Es dauert also noch, bis sie in den Dienststellen ankommen. Bis dahin müssen wir die ganze Arbeit noch alleine machen.«

Natalie musste lächeln, weil Marx ihren Innenminister Reul Onkel Herbert genannt hatte. Der Mann mochte vielleicht jovial aussehen, aber er packte endlich mal Dinge konsequent an und kümmerte sich um die Polizei seines Bundeslandes. Aber Wilfried Marx hatte Recht, wenn er an die Personalnot in allen Behörden und allen Bereichen der Polizei erinnerte. Jürgen Kleekamp hatte ihr das mal mit nur einem Satz beschrieben. »Die haben uns kaputtgespart!«

Marx streckte sich. »Ich habe letzte Woche zufällig ein Zitat von Winston Churchill gelesen, das auch auf unsere Situation passt: Noch nie haben so viele so wenigen so viel zu verdanken gehabt.«

Natalie musste schmunzeln. »Ich glaube das würde Jürgen auch gefallen«, sagte sie und überlegte, was ihr suspendierter Kollege wohl im Moment gerade machte.

***

Sie hätte sich gewundert, wenn sie gewusst hätte, dass Jürgen Kleekamp sich ganz in ihrer Nähe befand, denn in dem Moment, in dem sie an ihn dachte, betrat er soeben die Wache im Erdgeschoss und damit das Reich von Willi Martini. Der dicke Hauptkommissar thronte hinter dem Wachtisch in einem Bürosessel, den er mit seiner Leibesfülle komplett ausfüllte.

»Na, was willst du denn hier? Darf ich dich überhaupt reinlassen? Du bist doch Staatsfeind Nummer eins oder etwa nicht mehr?«, grinste der Dicke übers ganze Gesicht.

Martini war schon ewig Wachhabender in Kleekamps Dienstgruppe und nicht aus der Ruhe zu bringen. Weder von aufgebrachten Bürgern noch von seinen Vorgesetzten, egal welchen Dienstgrad sie hatten. Sein Motto war: Was können Sie mir tun? Leid können Sie mir tun! Jetzt wuchtete er sich ächzend aus dem Sessel und kam auf Kleekamp zu.

»Wird wohl besser sein, dass du nicht mit mir sprichst«, unkte Kleekamp, »sonst verdächtigt man dich noch, mit mir unter einer Decke zu stecken.«

Martini legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das wird garantiert nicht passieren. Erstens bin ich nicht schwul und krieche schon deswegen nicht mit dir unter eine Decke. Zweitens gibt es keine Decke, die so groß wäre, dass sie für uns beide reicht und drittens schert es mich einen feuchten Kehricht, was man von mir denkt. Schön, dich wiederzusehen.«

Kleekamp blickte den Wachhabenden skeptisch an, aber er fand keinen Anhaltspunkt dafür, dass Martini nicht die Wahrheit gesagt hatte, vor allem im letzten Punkt.

»Also, was willst du hier? Hat man dich zur Kreuzigung eingeladen?«, machte Martini sich über das disziplinare Vorermittlungsverfahren lustig.

»Ich sehe, du kannst immer noch Gedanken lesen«, grinste Kleekamp.

»War ja nicht schwer, das zu erraten, schließlich bist du frisch rasiert und gewaschen. Außerdem kämst du freiwillig wohl kaum hierher oder hattest du so eine große Sehnsucht nach mir?«

»Eher nach Natalie als nach dir, du Fettwanst!«

Martini lachte dröhnend. »Ich sehe, dein großes Maul haben sie dir immer noch nicht gestopft, aber ich bin sicher, das werden sie noch.«

»Na, dann träum mal schön weiter.« Kleekamp mochte diese für Außenstehende oft ruppig anmutenden Wortgefechte mit Martini. »Aber sag mal, was macht Natalie eigentlich gerade?«

»Bunny ist zurzeit doch immer noch bei der Kripo. Sie müsste jetzt gerade oben sein, habe sie vorhin mit Marx reinkommen sehen.« Den Spitznamen Bunny hatte Kleekamp Natalie an ihrem ersten Tag verpasst, als sie verkündet hatte, sie sei Vegetarierin. Seitdem war sie ihn nie wieder losgeworden.

Kleekamp nickte und sah dann zur Wanduhr. »Mist, ich muss auch nach oben. Habe um zehn Uhr einen Termin beim Vorermittlungsführer.«

Martini sah ihn von der Seite an. »Muss ich dich vorher nach Waffen durchsuchen oder die Schnauze zunähen? Ist ja beides gleichermaßen gefährlich.«

Kleekamp grunzte nur abfällig. »Die Kanone hat unsere Chefin schon kassiert und die Schnauze hat mir mein Rechtsanwalt mit Seife ausgewaschen. Ich muss los.«

Martini wackelte zu seinem Sessel zurück. »Na, dann viel Glück und vergiss nicht, vor Inbetriebnahme deiner großen Schnauze dein Gehirn einzuschalten, sonst kannst du demnächst wieder auf der Straße Dienst machen. Aber mit einem Kehrbesen.«

»Arschloch«, brummte Kleekamp und verließ die Wache mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Kapitel 10

Natalie wollte gerade ihren Wagen aufschließen, als sie instinktiv spürte, dass sich ihr jemand von hinten näherte. Noch bevor derjenige seine Hand auf ihre Schulter legen konnte, fuhr sie herum und nahm eine kampfbereite Haltung ein.

»Mach mal hier nicht auf Wonder Woman«, grinste Kleekamp sie an, »oder glaubst du, die Verbrecher sind schon so dreist, dass sie dich unmittelbar vor der Polizeiwache angreifen?«

Natalie ließ erleichtert die Schultern sinken. »Wenn man mit dir zusammenarbeitet, muss man auf alles gefasst sein.« Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ohne große Überlegung umarmte sie ihren Kollegen. »Was machst du denn hier?« Sie deutete zum Dienstgebäude hinüber.

»Ich hatte einen Termin wegen meiner Disziplinarsache.«

Natalies Augen weiteten sich erschrocken. »Und?«

»Ich habe dir doch gesagt, die können mir nichts«, verkündete er großspurig. Eine Viertelstunde vorher hätte er das allerdings noch nicht behauptet.

»Nun sag schon, was ist los?«, quengelte Natalie.

»Lass uns mal ein Stück die Straße runtergehen«, forderte Kleekamp seine Kollegin auf. »Muss ja nicht jeder mitbekommen, was wir quatschen.«

Ohne lange nachzudenken, hakte sich Natalie bei ihm ein und zog ihn mit sich. »Nun erzähl schon, lass dir nicht alle Würmer aus der Nase ziehen. Was ist nun? Bleibst du suspendiert? Schmeißen sie dich raus?«

»Du bist ganz schon neugierig.« Kleekamp seufzte. »Es tut mir leid, aber ich habe keine guten Nachrichten für dich.«

Natalie blieb stehen, ließ seinen Arm los und starrte ihn entsetzt an. »Rausschmiss?«

Kleekamp schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«

»Aber du hast doch gerade gesagt, du hättest schlechte Nachrichten.«

»Ja, aber schlechte Nachrichten für dich.« Als er sah, wie vollkommen verständnislos Natalie ihn anblickte, brach er in Gelächter aus. »Mädchen, die schlechte Nachricht für dich ist, dass ich wiederkomme!«

Natalie war immer noch sprachlos.

»Mörisch wird der Behörde vorschlagen, mein Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße einzustellen.«

Der erste Polizeihauptkommissar Stephan Mörisch war von der Kreispolizeibehörde Paderborn als Vorermittlungsführer eingesetzt worden und hatte Kleekamp heute zu einem abschließenden Gespräch eingeladen. Dabei hatte er ihn vorher absichtlich oder unabsichtlich im Unklaren darüber gelassen, wie das Gespräch enden würde. Aber das war Kleekamp jetzt völlig egal.

»Wenn Mörisch es vorschlägt … ich meine, wird die Behörde seinem Vorschlag … glaubst du, das geht durch?« Natalie brachte vor lauter Aufregung keinen einzigen vollständigen Satz heraus.

»Er hat durchblicken lassen, er sei ganz zuversichtlich, dass die Behördenleitung auf seinen Vorschlag eingehen wird. Es wird zwar noch ein paar Tage dauern, aber wenn sie dem zustimmen, wird die Suspendierung aufgehoben und ich kann wieder mit euch Dienst machen.«

Natalie atmete erleichtert auf. »Mensch Jürgen, das wäre ja toll. Ich drücke dir die Daumen, dass es genauso kommt.« Spontan umarmte sie ihn erneut und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Der ansonsten mehr als abgebrühte Kleekamp wurde rot und hielt ausnahmsweise mal den Mund. Gut, dass sie nicht direkt vor dem Polizeigebäude standen.

»Aber sag mal, wie hoch wird diese Geldbuße denn sein?« Seine Kollegin hatte ihn losgelassen und auf Armeslänge von sich gedrückt.

»Mörisch hat mir gesagt, dass er ein Monatsgehalt vorschlagen wird.«

Natalie ließ erschrocken die Luft ab. »Ein Monatsgehalt?« Sie schüttelte verärgert den Kopf. »Du hast Vanessa und mir das Leben gerettet, du hast einen Mörder überführt und dafür brummen sie dir jetzt ein Monatsgehalt als Strafe auf?«

»Nach Aussage von Mörisch hat er all das berücksichtigt. Aber ich hätte mich nun mal ohne Genehmigung aus dem Einsatz entfernt und das wäre halt ein Dienstvergehen, das geahndet werden müsste.«

»Dann müssen sie mich auch verurteilen«, begehrte Natalie wütend auf. »Ich bin ja schließlich mitgefahren.«

Kleekamp schüttelte lachend den Kopf. »Das kannst du vergessen, Bunny, ich habe Mörisch nämlich erzählt, ich hätte dich gezwungen. Damit hast du nur die Anweisung deines unmittelbaren Vorgesetzten, also meine, ausgeführt.«

Die junge Polizistin stemmte aufgebracht die Hände in die Hüften. »Wenn ich auf der Fachhochschule gut aufgepasst habe, da habe ich aber doch ein Dienstvergehen begangen, ich hätte gegen deine Entscheidung protestieren müssen.«

»Auch das habe ich Mörisch erzählt. Du hättest es getan, aber ich hätte keine Notiz davon genommen.«

»Du Lügner, sobald er mich vorlädt, werde ich die Sache klarstellen.«

Kleekamp grunzte behäbig. »Darauf kannst du lange warten. Es wird keine weiteren Vernehmungen mehr geben, denn ich habe mich mit seiner Maßnahme sofort einverstanden erklärt. Also weder du noch Vanessa werden befragt und das ist auch besser so.«

»Ach ja?« Man sah Natalie ihren Unwillen deutlich an. »Und warum ist das besser?«

»Weil ihr dann keine Scheiße erzählen oder euch um Kopf und Kragen reden könnt.« Kleekamp fasste sie am Oberarm und sah ihr ernst in die Augen. »Natalie, tu mir einen Gefallen und lass die Sache jetzt in Ruhe ihren Gang gehen. Ich weiß zwar noch nicht, woher ich die Kohle nehmen soll, aber ich weiß, dass ich diesmal noch mit einem blauen Auge davongekommen bin.« Er blickte sie mit ernstem Gesicht an.

Natalie hielt seinem Blick stand. »Okay, wenn du es so willst, dann machen wir es so. Ich werde nichts mehr dazu sagen und auch nicht fragen, was passiert ist, unmittelbar bevor der Brand ausbrach.«

Kleekamps Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Das musst du auch gar nicht wissen!«