Schöpfer der Wirklichkeit

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Unsere unwillkürliche, unterbewusste Intelligenz

Das autonome Nervensystem umfasst sowohl Teile des zentralen als auch des peripheren Nervensystems. Es bildet das automatische, selbstregulierende Kontrollsystem des Körpers und hat seinen Ursprung im Mittelhirn – dem Bereich direkt unterhalb des Neocortex –, das für die automatischen Funktionen des Körpers zuständig ist und einen der drei Hauptbereiche des Gehirns ausmacht (siehe Abbildung 3.7).

An dieser Stelle sei angemerkt, dass Dr. Joe Dispenza den Begriff »Mittelhirn« für den Bereich verwendet, in dem das limbische System lokalisiert ist [Anm. für die hier vorliegende deutsche Ausgabe.]

Das autonome Nervensystem steuert alle unwillkürlichen Funktionen und die Homöostase des Körpers, d.h. das konstante Gleichgewicht aller Funktionen. Es regelt die Körpertemperatur, den Blutzuckerspiegel, den Puls und all die Millionen Prozesse, die wir Tag für Tag als selbstverständlich hinnehmen. Es heißt »autonom«, weil es all das tut, ohne dass wir uns bewusst darum kümmern müssen: Wir brauchen uns keine Gedanken zu machen, wie schnell unser Herz jetzt gerade schlagen sollte und welche Enzyme im Moment für unsere Verdauung notwendig sind. Das autonome Nervensystem reguliert das alles, um den Körper chemisch in der Balance und »normal« gesund zu erhalten. Man könnte sagen, es wirkt auf einer unterbewussten Ebene.


Abbildung 3.7

Schnitt durch das Gehirn

Das autonome Nervensystem besitzt zwei Abteilungen: das sympathische Nervensystem und das parasympathische Nervensystem (siehe Abbildung 3.8).


Abbildung 3.8

Die beiden Zweige des autonomen Nervensystems

Das sympathische Nervensystem stellt den Körper auf Notfallsituationen ein. Sobald wir etwas in unserer Umgebung als bedrohlich wahrnehmen, bereitet dieser Teil des Nervensystems automatisch den ganzen Körper darauf vor, zu kämpfen oder zu fliehen. Unser Herzschlag wird schneller, der Blutdruck steigt, der Atem beschleunigt sich, es kommt zum Ausstoß von Adrenalin, damit wir unmittelbar reagieren können. Zugleich wird die Energie des Körpers vom Verdauungstrakt abgezogen und in die Extremitäten gelenkt. Das sympathische Nervensystem verändert den Körper elektrochemisch, um unsere Überlebenschancen zu erhöhen.

Das parasympathische System besorgt genau das Gegenteil: Diese Abteilung des autonomen Nervensystems speichert die Körperenergie und sorgt dafür, dass die Vorräte wieder aufgefüllt werden. Lässt sich in unserer Umgebung keine Bedrohung erkennen, verlangsamt das parasympathische Nervensystem den Pulsschlag, schickt mehr Energie in die Verdauung, entspannt den Körper und lenkt das Blut zu den inneren Organen, um Wachstums- und Erhaltungsprozesse zu fördern. Bildlich gesprochen, fühlt sich das an, als hätten wir ein mehrgängiges Menü genossen.

Einen weiteren Teil des unwillkürlichen Nervensystems bildet die ganze Skala der Reflexe, mit denen wir auf verschiedene Außenreize reagieren und die dem Körper beim Überleben und beim unmittelbaren Handeln dienlich sind. Klopft der Arzt beispielsweise mit dem Hämmerchen auf den Punkt unterhalb Ihrer Kniescheibe, zuckt Ihr Bein sofort und unwillkürlich nach vorne. Kommen Sie an einen heißen Topf, dann ziehen Sie Ihre Hand automatisch zurück. Treten Sie aus der Dunkelheit in einen hellen Raum, verengen sich spontan Ihre Pupillen. Diese rudimentären, automatischen Muskelreaktionen entspringen dem Hirnstamm und dem Kleinhirn. Jahrmillionen der Anpassung an unsere Umgebung haben sie tief in unserem Körper verankert.

Nachdem wir jetzt die instinktiveren, unwillkürlichen Funktionen unseres autonomen Nervensystems besser verstanden haben, können wir vielleicht auch seine enorme Bedeutung für uns besser wertschätzen. Es ist unser unterbewusster Anteil, und es birgt eine Intelligenz in sich, die in jedem Augenblick sämtliche unzähligen Körperfunktionen auf zellulärer wie auch allen möglichen übergeordneten Ebenen kontrolliert und dirigiert, ohne dass wir uns auch nur im Geringsten darum kümmern müssten. Solange es nicht gestört wird, hält dieses erstaunliche, unglaublich ausgeklügelte System unser Leben, unsere Gesundheit und unsere innere Ordnung automatisch aufrecht.

Unsere willkürliche, bewusste Intelligenz

Als menschliche Wesen genießen wir das Privileg, willentlich und bewusst handeln zu können. Wir können frei wählen, woran wir denken und was wir im Gedächtnis bewahren wollen, welche Fähigkeiten wir entwickeln und was wir tun möchten. Wir benutzen unser Gehirn und unser Nervensystem, um unsere Entscheidungen zu lenken – ob wir essen, spazieren gehen oder uns hinsetzen und ein Buch lesen wollen –, und wir bringen unsere Muskeln dazu, diese Entscheidungen umzusetzen. Unsere Wünsche und unser Handeln leiten sich aus unserem freien Willen ab. Deswegen sprechen wir vom willkürlichen Nervensystem, wenn wir den Sitz unseres bewussten Geistes und unseres freien Willens meinen. Dieses willkürliche Nervensystem befindet sich in dem Teil des Gehirns, der »Neocortex« genannt wird (siehe Abbildung 3.7).

Die Interaktion zwischen unserem unwillkürlichen und unserem willkürlichen Nervensystem lässt uns zu Menschen werden, sie bildet die Quelle unseres Menschseins. Das willkürliche Nervensystem untersteht unserer bewussten Kontrolle und lässt uns den freien Willen: Wir können tun, was wir tun möchten. Das autonome Nervensystem hingegen wird von unserer unterbewussten Intelligenz gesteuert und sorgt für all die unzähligen elektrochemischen Reaktionen, die unseren Körper lebendig halten und unser Tun und Fühlen unterstützen. Abbildung 3.9 bietet einen Überblick über das Nervensystem und seine einzelnen Abteilungen.


Abbildung 3.9

Das Nervensystem mit all seinen Unterteilungen

Ich hoffe, Sie beginnen zu verstehen, weshalb ich bei unserer Erkundung des menschlichen Gehirns auf der Zell-Ebene angesetzt habe. Die Konstruktion unserer Nervenzellen ermöglicht eine exponentielle Kommunikation: Über dieselben neuronalen Verbindungen und Pfade lassen sich durch den Einsatz verschiedener Neurotransmitter eine Unmenge unterschiedlicher Gedanken, Gefühle, Handlungen, Stimmungen und Wahrnehmungen erzeugen. Diese Prozesse können Taten inspirieren, Emotionen hervorrufen, Körperfunktionen beeinflussen, Verhalten manifestieren, Triebe auslösen und Hormone ausschütten sowie holografische Bilder – »Gedanken« und »Erinnerungen« genannt – produzieren.

Jetzt können wir uns die »Anatomie der inneren Haltung« vornehmen und dabei auf unseren einfachen Kenntnissen der Neurobiologie und Gehirnchemie aufbauen. Eine innere Haltung ist eine miteinander verschaltete Gruppe von Gedanken – wird sie stimuliert, schüttet sie spezifische Neurotransmitter aus, worauf wir eine bestimmte Art des Fühlens, Denkens und Handelns entwickeln. Angenommen, Sie wachen morgens auf, gehen in die Küche und erledigen den Abwasch vom Vorabend. Ihre innere Haltung zu Ihrer Tätigkeit entsteht aus Gedanken wie: »Ach, was hab’ ich gut geschlafen! Ich bin so froh, dass ich heute nicht zur Arbeit muss. Mann, die Nudeln von gestern Abend waren wirklich lecker! Aber echt gut, dass wir die Teller gestern Abend schon mal kurz vorgespült haben. Der Himmel ist heute ja wirklich unglaublich blau!« Am Abend desselben Tages sind Sie vielleicht wieder mit dem Abwasch beschäftigt, doch Ihre innere Haltung besteht möglicherweise eher aus Gedanken wie: »Jetzt hat sie schon wieder mit dem Thema angefangen! Ich weiß wirklich nicht, wozu das gut sein soll. Wir hatten das doch alles ausdiskutiert und jetzt wärmt sie das Ganze wieder auf. Warum summt die alberne Lampe bloß so? Das nervt! Ich habe überhaupt keine Lust auf diesen dämlichen Abwasch. Ich würde viel lieber schon im Bett liegen.«

Auf der Basis dieser beiden verschiedenen Gedankengruppen werden Sie wahrscheinlich einen großen Unterschied zwischen ihren beiden inneren Haltungen wahrnehmen, obwohl Sie beide Male genau dieselbe Tätigkeit verrichten, nämlich Geschirr spülen. Als freien Willen bezeichnen wir oft unsere Freiheit, zu entscheiden, welche innere Haltung wir einnehmen wollen, und das hat viel mit unserem Gehirn und seiner Chemie zu tun. Durch diesen freien Willen sind wir alle individuelle, unterschiedliche Wesen. Wenn Sie das nächste Mal etwas anfangen, bedenken Sie dabei ruhig einmal, welche Auswirkungen Ihre Gedanken auf den Chemiecocktail in Ihrem Gehirn haben.

Wenn unser Gehirn die Maschine ist, die uns im täglichen Leben antreibt, dann ist es doch sinnvoll, zu wissen, wie sie funktioniert und wie wir sie steuern können, um an das gewünschte Ziel zu gelangen. Und genau davon handelt dieses Buch. Wissen ist Macht, und Macht bedeutet Kontrolle. Wir arbeiten darauf hin, unseren mentalen/chemischen Zustand, unser Leben und letztlich unsere persönliche Realität willentlich lenken zu können. Das Gute an der Sache: Unser mentaler/chemischer Zustand und unser Leben sind so engmaschig miteinander verknüpft, dass jede Veränderung des einen immer auch zu einer Veränderung des anderen führt.1

Im vierten Kapitel werde ich erklären, wie das Gehirn sich bis zu diesem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte entwickelt hat. Dann werde ich Sie mit den einzelnen Regionen und Substrukturen des Gehirns vertraut machen, damit Sie besser verstehen lernen, wie es zu Ihren inneren Gedanken und äußeren Reaktionen kommt. Auf der Grundlage dieser gebündelten Informationen wird Ihnen dann sicher klar, weshalb Sie genau so sind, wie Sie sind.

 

1. Referenzen für das gesamte dritte Kapitel: • Guyton, A.: Textbook of Medical Physiology. 8th. London: WB Saunders and Co, 1991. • Snell, R. S.: Clinical Neuroanatomy for Medical Students. Little Brown, 1992. • Ornstein, R. und Thompson, R.: The Amazing Brain. Houghton Mifflin, 1984.

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Unsere drei Gehirne und mehr
Im Verhältnis zu unserer Körpermasse ist unser Gehirn dreimal schwerer als bei unseren nächsten Verwandten. Dieses riesige Organ wird unter Schmerzen und Gefahr geboren, ist aufwendig in der Ausbildung und verbraucht bei einem ruhenden Menschen ungefähr 20 Prozent der Körperenergie, obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht. Es muss doch einen Grund dafür geben, dass sich die Evolution dieses Ding so viel kosten lässt..
Susan Blakemore

Der amerikanische Autor Kurt Vonnegut verwendet in seiner Novelle Galapagos die Phrase »Vielen Dank, großes Gehirn« als eine Art Refrain, um seine Geringschätzung gegenüber all den sogenannten Fortschritten in der sozialen und politischen Entwicklung der Menschheit zu unterstreichen. Vonnegut leidet darunter, dass all die Kriege, die Armut und die Gewalt Produkte unseres Gehirns sind, doch nicht jeder teilt seinen Zynismus.

Unser Gehirn wiegt durchschnittlich drei Pfund, was etwa zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht. Zu unserer Körpergröße in Relation gesetzt, ist es sechsmal größer als bei irgendeinem anderen lebenden Säugetier – mit Ausnahme der Delfine. Das Größenverhältnis Körper:Gehirn ist bei Menschen und Delfinen ziemlich ähnlich. Wobei das Delfingehirn sich in den letzten 20 Millionen Jahren nicht mehr wesentlich verändert hat.

In der Evolution des menschlichen Gehirns ist etwas geschehen, das Biologen und Paläontologen schon seit Langem Rätsel aufgibt. Bei der Evolution der einzelnen Tierarten entwickelt die Gehirnmasse sich proportional zu den übrigen Körperstrukturen wie Lunge, Leber und Magen. Vor etwa 250000 Jahren waren die meisten Säugetiere bezüglich Komplexität und Masse ihres Gehirns auf dem Höhepunkt ihrer evolutionären Entwicklung angelangt. Doch dann löste die Evolution unserer menschlichen Art sich auf unerklärliche Weise von der der anderen Säugetiere. Statt – wie bei den anderen Säugetieren – im Wesentlichen auf dem Stand zu bleiben, der sich bis zu diesem Zeitpunkt ausgebildet hatte, erfuhr der menschliche Neocortex in relativ kurzer Zeit einen ungeheuren Wachstumsschub – sowohl Masse wie auch Komplexität betreffend.

Das Rätsel des Hirnwachstums

Wie neuere Erkenntnisse gezeigt haben, nahm vor 250000 bis 300000 Jahren, als das menschliche Mittelhirn etwa seine heutige Komplexität erreicht hatte, die Masse des Neocortex, des denkenden, vernunftfähigen Teils des Gehirns, um 20 Prozent zu.1 Diese plötzliche Erhöhung des Volumens und der Dichte der Gehirnmasse scheint sich spontan und aus uns unerfindlichen Gründen ereignet zu haben. Die neu hinzugekommenen 20 Prozent grauer Substanz sind für die Überlegenheit des menschlichen Gehirns verantwortlich. Diese explosionsartige Entwicklung beschenkte uns also mit einem Neocortex, der wesentlich größer und dichter ist als der aller anderen Arten – doch wie es zu diesem Prozess kam, blieb bis heute ungeklärt.

Während die Dichte des Neocortex um besagte 20 Prozent zunahm, vergrößerte der menschliche Körper sich lediglich um 16 Prozent. Das heißt, das Körperwachstum betrug proportional zur Vergrößerung der Gehirnmasse nur 80 Prozent. Das ist für Säugetiere äußerst ungewöhnlich.

Da fragt man sich doch, weshalb das Gehirn so stark zulegte, der Kopf dabei aber nicht mitwuchs. Das Schädelvolumen nahm schon etwas zu, aber längst nicht in dem Ausmaß, wie es der normalen evolutionären Entwicklung im Tierreich entsprochen hätte. Wissenschaftler wollen die Ursache dafür im Geburtsvorgang sehen: Ein größerer Kopf hätte nicht mehr durch das weibliche Becken gepasst. Auch heute noch birgt jede Geburt Schwierigkeiten und Risiken für Mutter und Kind – wegen der Größe des Babykopfs. Ein weiteres Wachstum hätte vielleicht zum Aussterben der species humana geführt. Wir wissen auch nicht, weshalb Mutter Natur das weibliche Becken nicht einfach verbreitert hat. Allerdings können wir uns ganz gut ausmalen, welche Gestalt Frauen dann angenommen hätten – vielleicht hätte das für sie das Ende des aufrechten Gangs bedeutet.

Das Schaumstoffball-Gehirn

Die Natur hat jedoch eine andere, äußerst elegante Lösung für das Problem des »Zuwachses« gefunden: Das Gehirn hat sich in sich selbst eingefaltet: Etwa 98 Prozent des Neocortex sind in den Falten versteckt. Wie bei einem japanischen Fächer, dessen Dekor man nicht sehen kann, wenn er zusammengeklappt ist, bleibt auch der größte Teil der grauen Substanz des Gehirns in seinem Inneren verborgen. Dieses walnussähnliche »Design« ist eine sehr effiziente Art, viel Material auf wenig Platz zu verstauen.

Vor ein paar Jahren half ich meiner Tochter bei einer Hausaufgabe über das Gehirn. Wir sprachen darüber, wie das Gehirn mit seinen vielen Falten möglichst viel Masse auf möglichst wenig Raum unterbringt. Es fiel ihr schwer, das zu verstehen. Am nächsten Tag besorgte ich 10 Schaumstoffbälle von je etwa 12 Zentimetern Durchmesser und einen großen Dreieinhalb-Liter-Glasbehälter mit einer weiten Öffnung und einem Deckel. Als wir uns abends wieder trafen, forderte ich sie auf, zwei Bälle in das Glas zu stecken. Der Behälter war damit fast voll. »Keine Falten, stimmt’s?«, fragte ich sie. Sie nickte. »So sähe unser Gehirn aus, wenn es keine Falten hätte«, erklärte ich. Dann fragte ich sie, ob sie alle 10 Bälle in das Glas stopfen könne. Als sie es tat, begann sie zuerst zu grinsen und dann zu lachen. Der Inhalt des Glases sah jetzt genauso faltig aus wie ein Gehirn.

Die Einfaltungen des Gehirns wurden im Lauf der Zeit immer mehr, bis sie das heutige Ausmaß erreichten. Wie Ihnen jetzt auch meine Tochter erklären könnte, verschafften diese Einfaltungen des Gehirns den frühen Menschen einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen Arten ihres Umfeldes. Auf diese Weise bekamen die Menschen die Möglichkeit, ihre Intelligenz zu fördern und mehr zu lernen, ohne deswegen ihren Körper verändern zu müssen, folglich brachte das »Faltenmuster« den Menschen eine enorme Erhöhung ihrer Überlebenschancen.

Die Einfaltungen des Gehirns und die Entwicklung des Neocortex, des »neuen Gehirns«, bescherten der Menschheit auch ein mentales Potenzial, von dem wir noch kaum Gebrauch machen. Die heutigen Menschen nutzen proportional immer noch fast dieselbe Hirnmasse wie vor 250 000-300 000 Jahren. Mit unserem neuen Gehirn sind wir eigentlich nicht mehr darauf beschränkt, dem langen, linearen Pfad der Evolution zu folgen. Doch bislang schöpfen wir die volle Kapazität unseres neuen Gehirns bei weitem noch nicht aus.

Das Gehirn – die Zeitkapsel der Evolution

Wenn Sie die evolutionäre Entwicklung der Menschheit verfolgen wollen, ist es sinnvoll, ganz oben anzufangen. Das Gehirn ist eine Art Zeitkapsel der menschlichen Evolution, und deren Gedächtnis ist lang. Wir tragen den gesamten Verlauf unserer Evolution in unserem Schädel. Ausgestattet mit einem anderen Gehirn, wäre auch die Geschichte unserer Art anders verlaufen.

Nach Paul MacLean, M.D., der in diesem Bereich bahnbrechende Forschungsarbeit geleistet hat, besteht das Gehirn aus drei Bereichen, die alle jeweils ihre eigene Form, Struktur und Funktionsmuster haben und die unsere Entwicklung während bestimmter Zeitalter widerspiegeln. Nach MacLean hat unser Gehirn drei Untergehirne, die man sich als drei miteinander vernetzte Biocomputer vorstellen kann. Jedes besitzt seine eigene Intelligenz, seine eigene Subjektivität, sein eigenes Raum-Zeit-Empfinden, sein eigenes Gedächtnis und viele andere Funktionen.2

Er nannte diese drei Substrukturen das protoreptilische Gehirn (dazu gehören der Hirnstamm und das Cerebellum bzw. Kleinhirn), das paleomammalische Gehirn (Mittelhirn oder limbisches System) und das neomammalische Gehirn (Neocortex, zerebraler Cortex oder Vorderhirn). Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden den Hirnstamm und das Cerebellum als das »erste Gehirn«, das Mittelhirn als das »zweite Gehirn« und den Neocortex als das »dritte« oder »neue Gehirn« bezeichnen.

Manchmal verwende ich in diesem Buch auch andere Namen für diese drei Gehirnsysteme. Abbildung 4.1 ist Dr. MacLeans Buch The Triune Brain in Evolution entnommen. Sie können sie mit der Abbildung 3.7 vergleichen, die das Schema eines Gehirns nach moderner Vorstellung zeigt. Jedes dieser Subsysteme funktioniert unabhängig, und doch bewirken sie zusammen mehr, als es die Summe ihrer Teile vermuten ließe.


Abbildung 4.1

Das »dreieinige« Gehirn (»The Triune Brain« nach Paul MacLean)

Die hierarchische Ordnung dieser drei Gehirne kann uns viel über unsere Evolution und die Funktionen des Gehirns erzählen. Als erstes – vor über 500 Millionen Jahren – entstand der Hirnstamm, der dort sitzt, wo das Rückenmark ins Gehirn eintritt. Dieser primitivste Teil unseres Gehirns macht bei Reptilien den größten Teil ihrer Hirnmasse aus und heißt deshalb auch oft »reptilisches Gehirn«.

Das direkt hinter dem Hirnstamm liegende Kleinhirn oder Cerebellum entwickelte sich vor etwa 500 bis 300 Millionen Jahren. Hier haben unsere Koordinationsfähigkeit, unsere unbewusste Wahrnehmung von Bewegung und Raum und die Steuerung unserer Bewegungen ihren Sitz. Neueren Studien zufolge erfüllt das Kleinhirn noch weitere Funktionen. Zum Beispiel ist es eng mit dem Frontallappen verbunden, jenem Bereich des Neocortex, der mit vorsätzlicher Planung zu tun hat.3 Außerdem scheint es eine dynamische Rolle bei komplexen emotionalen Verhaltensweisen zu spielen.4

Die Neuronen des Kleinhirns sind von allen am dichtesten gepackt. Diese erhöhte Verbundenheit ermöglicht es dem Kleinhirn, viele Funktionen zu erfüllen, ohne dass wir uns bewusst darum kümmern müssen.

Das Mittelhirn entstand irgendwann vor 300-150 Millionen Jahren. Dieses zweite Gehirn ist bei Säugetieren besonders ausgeprägt. Es umgibt den Hirnstamm und erreichte den Höhepunkt seiner Entwicklung vor etwa 250000 Jahren. Von hier aus wird unser unwillkürliches, autonomes Nervensystem gesteuert.

Und schließlich bildete sich vor etwa 3 Millionen Jahren das neue Gehirn aus mit seinem wichtigsten Bestandteil, dem Neocortex, und schmiegte sich um die beiden zuerst entstandenen Gehirne. Das heißt, diese äußerste »Lage« ist die letzte und am höchsten entwickelte. Dieses neue Gehirn birgt unsere bewusste Selbstwahrnehmung, unseren freien Willen, unsere Fähigkeit zum Lernen und zur Vernunft. Abbildung 4.2 ist ein Schnitt durchs Gehirn von Ohr zu Ohr und demonstriert die Dicke und Größe des Neocortex mitsamt der grauen Substanz (Neuronen) und den Gliazellen.

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