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Die von Karl Julius Weber erwähnten 62 Furztöne soll übrigens der Humanist, Arzt und Universalgelehrte Jerome Cardan (1501 – 1576) festgestellt haben – genauer: vier Grundtöne nebst 58 Variationen. Weber starb am 20. Juli 1832 in Kupferzell, wo er auch begraben liegt. Gut zwanzig Jahre später trat im Ratssaal von Pozega (im heutigen Kroatien) ein Mann öffentlich auf, der in der Kunst des musischen Furzens eine außerordentliche Fertigkeit erlangt und sogar die chrowotische Hymne aus seinem Allerwertesten ertönen lassen konnte. Der bis heute wohl unübertroffene Meister dieses Metiers hieß mit bürgerlichem Namen Joseph Pujol (1857 – 1945). Die Karriere des in Marseille aufgewachsenen Künstlers, der sich Le Pétomane nannte, begann in den 1880er Jahren, nachdem er intensiv trainiert hatte, mit den ihm leicht fallenden Blähungen Kerzen auszublasen und schließlich durch Modulation des Schließmuskels die Tonhöhe zu verändern. Als er sich auf die rektale Vertonung von Violinstücken, Gewittern und Kanonenschläge spezialisierte, rieten ihm Freunde 1887 zu öffentlichen Auftritten. Sie wurden ein voller Erfolg in vielen Städten Europas.

Internationalem Ruhm gewann der schnauzbärtige Le Pétomane, nachdem er 1892 vom legendären Pariser Moulin-Rouge engagiert worden war. Fortan gab der mit Frack und weißen Handschuhen ausstaffierte Künstler einen schier unglaublichen Anschauungsunterricht im Tabubruch des Furzens. Wenn Pujol sich feierlich verneigte, um dann französische Kinderlieder, die Marseillaise, den Radetzkymarsch, imitierte Tierstimmen und donnernde Kanonenschüsse aus seinem Hinterteil ertönen zu lassen, tobte das Publikum vor Begeisterung. Le Pétomane konnte das nur recht sein – seine Gagen waren schließlich deutlich höher als die der zu seiner Zeit berühmten Schauspieler.

Im September 1914 gab Le Pétomane seine Abschiedsaufführung. Als er 1945 im Alter von 88 Jahren starb, bot die medizinische Fakultät des Collège de Sorbonne den Hinterbliebenen 25 000 Francs, um die Leiche obduzieren zu können. Die Familie lehnte ab.54 Die Rektalphysiologie des einst weltberühmten Flatus-Künstlers blieb der Wissenschaft verschlossen. In der Folgezeit geriet die Kunst der Pétomanie ziemlich aus dem Fokus; in Deutschland meldete sie sich vernehmlich im August 1987 zurück, als in Hamburg der vom Aktionskünstler André Heller initiierte Vergnügungspark Luna Luna seine avantgardistischen Pforten öffnete. Dort lockte der »Palast der Winde«, in dessen Zuschauerraum bei den Vorstellungen der Radetzky-Marsch ertönte. Eine Zeitzeugin schildert, was bei ihrem Besuch im Palast geboten wurde:

»In der von Manfred Deix gestalteten Jahrmarktsbude betraten zwei Männer im Frack die Bühne und kündigten ihre Nummer an. Als sie sich umdrehten um hinter den Paravent zu gehen, sahen wir, dass der gesamte Bereich ihrer Gesäße vom Stoff ausgespart geblieben war. Erst jetzt begriffen wir, was ›Palast der Winde‹ bedeutete. Die beiden Männer pressten ihre Popos durch die Löcher und pupsten Beethovens 9., was man durch die Bewegungen ihrer Schließmuskel deutlich sehen konnte. Es war geruchsfrei und hat uns sehr amüsiert, andere Gäste aber waren sichtlich echauffiert und gingen vorzeitig.«55

Die Ansichten über das Furzen sind seit der Antike so vielfältig wie geteilt.56 Ich schätze das Bekenntnis von Karl Julius Weber: »Der Wind reinigt die Luft und den Dunstkreis, und so reinigen auch die Afterwinde den Körper, und wenn sie auch nicht laut genug ihre Verrichtung der Nase predigen, so hat mich schon oft ihre leise Musik in schlaflosen Nächten ergötzt.«57

00 4 Kleine EnzyKLOpädie

Das so vertraute Wort Toilette kommt aus dem Französischen. Es bezeichnete ab der Frühen Neuzeit bei Hofe den Raum für das persönliche Herrichten: das cabinet de toilette. In ihm standen zunehmend auch Nacht- bzw. Leibstühle bereit, bei deren Aufsuchen ein Tuch (toile) zum Abschirmen diente. Die sanft verschleiernde Bezeichnung Toilette für einen Raum mit WC-Becken kam ab Beginn des 20. Jahrhunderts in Gebrauch. Das Kürzel WC wiederum ist dem Englischen entlehnt und steht für water closet, sprich für eine Spültoilette. Höfliche Briten umgehen den in ihrem Land in die Welt gesetzten Begriff WC lieber – sie ziehen verhüllende Bezeichnungen vor: restroom, powder room, convenience, toilet oder lavatory.

Das mit einer eingebauten Spülung versehene Wasserklosett wurde in seiner ersten Frühform überraschenderweise nicht von einem Handwerker, sondern von einem englischen Dichter erfunden. Der in Kelston nahe Bath lebende Sir John Harington (1561 – 1612) entwarf es zu Beginn der 1590er Jahre und bewarb es ab 1596 in seinem mit Skizzen versehenen Buch: A New Discourse of a Stale Subject called The Metamorphosis of Ajax für den Selbstbau.58 Wie es sich für einen Schriftsteller gehört, setzte er sowohl auf die Kraft der Lyrik als auch auf die einer fiktiven Briefszene, um die zeitgenössische Leserschaft für seine neue Errungenschaft zu interessieren. In dem von Harington vorangestellten Gedicht geht es schon in den ersten beiden Zeilen gleich zur Sache: »Ein biedrer Pater saß im Kämmerlein, / ​zu tun, was er mußte und was muß sein.« Und dann lässt er den Reisenden »T. C.« in einem Brief an »M. E. S. Esquire« verdeutlichen, worum es geht:

»An dem Ort, der auf Euch so abstoßend wirkt, sollt Ihr erst einmal einen Spülkasten bauen, der den Inhalt eines Wasserbottichs oder mehr fasst. Der Behälter soll sich im Raum selbst oder darüber befinden, von wo aus das Wasser durch ein Bleirohr von einem Zoll Durchmesser unter den hinteren Teil des Sitzes geleitet werden kann. Das soll jedoch nicht sichtbar sein. An das Rohr muß ein kleiner Wasserhahn oder sonst eine Absperrung angebracht werden, womit man den Einlauf des Wassers in die Schüssel regelt. Nun baut ein ovales Becken […]. Setzt alles sehr nah an Euren Sitz, wie die Schüssel eines Nachtstuhls, und haltet das Oval auf der rechten Seite etwas niedriger. Das Gefäß kann aus Ziegeln, Blei oder Stein sein. Es soll hinten einen Ablauf von 3 Zoll Querschnitt haben (vor dem ein Schieber aus Messing einzubauen ist). Den Boden und alle Seiten soll man mit Pech, Harz und Wachs glatt verschmieren, um die Zersetzung durch Urin zu verhindern. […] Im unteren Teil des Beckens auf der rechten Seite müsst Ihr eine Schleuse oder eine Dichtungsscheibe aus Messing durch Löten oder mit Zement abdichten […]. Wenn ausreichend Wasser vorhanden ist, bleibt die Anlage umso frischer, je öfter die Schleuse geöffnet wird. Ist das Wasser knapp, dann genügt es auch einmal am Tag, selbst wenn 20 Personen den Ort benutzen.«59

Sir John Harington war ein Verwandter der legendären Regentin Königin Elisabeth I. (1533 – 1603). Als sie ihn 1592 in seinem prächtigen Haus aufsuchte, war sie von seiner Erfindung beeindruckt und gab den Installationsauftrag für ein pumpenbetriebenes Wasserklosett in ihrem Schloss Richmond. Der Dichter, der wegen einiger zu freizügiger Texte bei den Hofdamen keinen guten Ruf genoss, ließ nach dem Einbau des WCs seine Schrift Ajax mit einer Kette anbringen, die er mit einer Widmung für die »Gnädigsten Damen« versah. Sie gipfelte in den Sätzen: »Setzen Sie sich her, sehen Sie, riechen Sie und fühlen Sie, daß seine Erfindungsgabe diesen Ort von allem Unangenehmen befreit hat. Und nun urteilen Sie, […] ob’s schicklicher ist, mich oder Sie zu preisen: Sie, die Sie mich in schlechten Geruch gebracht, oder mich für die geschaffene Annehmlichkeit.«60

Ob seine Widmung von den Ladys gelesen wurde, will ich nicht beschwören. Wie lange sie die »Annehmlichkeit« als solche schätzten, und ob überhaupt, ist auch nicht überliefert. Sehr wahrscheinlich ist hingegen, dass Haringtons Buchtitel-Anspielung – die Metamorphose des Ajax – von den Damen weniger mit der griechischen Mythologie, als vielmehr mit der gleichtönenden englischen Umschreibung a jakes in Verbindung gebracht wurde (das volkstümlich-englische Substantiv jakes steht für Abtritt, Latrine und teils auch für Exkremente).

Die von dem Dichter genial einfach konstruierte WC-Spülung mit ventillosem Auslauf, die auf dem Unterdruckprinzip basiert, setzte sich nicht durch. Nachdem um 1750 in Frankreich mit Wassertanks versehene Klosettstühle, sogenannte Lieux à l’anglaise, aufgekommen waren, meldete 1775 der in Edinburgh aufgewachsene Mechaniker Alexander Cumming (ca.1731 – 1814) das Patent für ein Wasserklosett mit Auslaufventilspülung und Geruchsverschluss an. Sein Modell enthielt genau das doppelt gekrümmte Abflussrohr, das als Siphon bis heute bestens vertraut ist. Cummings Erfindung ermöglichte prinzipiell den bis dahin möglichst vermiedenen Einbau ortsfester Toiletten in direkter Nähe von Wohnbereichen. Allerdings erforderte sie den Einbau von Druckwasserleitungen und ein Abwasserkanalsystem; folglich erhebliche bautechnische wie finanzielle Vorleistungen und eine Stadtplanung. Die ersten zentralen städtischen Anlagen zur Abwasserableitung und -reinigung entstanden relativ spät – hierzulande zum Beispiel ab 1843 in Hamburg, ab 1860 in Leipzig und ab 1877 in Berlin.

Während der Regierungszeit von Königin Viktoria, sie regierte von 1837 bis 1901, erlebten diverse WC-Varianten unterschiedlicher Hersteller auf der Insel ihren Testlauf – das Pfannen- oder das Trichterklosett und andere Varianten mehr. Durch den Einsatz von Keramik wurde ab 1870 die Produktion großer Stückzahlen und deren Export – auch in deutsche Lande – möglich. Ab wann die ersten aus England importierten WCs in deutschen Städten Einzug hielten, und welche Lösungsprobleme damit für die Kommunen entstanden, möchte ich kurz an dem verallgemeinerbaren Beispiel von Dresden veranschaulichen. Um 1875 gab es in der von 200 000 Einwohnern bewohnten Barockstadt 7500 Wohngebäude. Während die meisten Haushalte bestenfalls über »zugige Trichter ohne Wasseranschluß in den Aborten auf den Treppenabsätzen« verfügten, deren Ausdünstungen erheblich waren, hatten sich Angehörige des Bürgertums bereits 300 der neuartigen »Waterclosets« mit Geruchsverschluss einbauen lassen.61 Da Dresden zu jener Zeit über kein auch nur halbwegs funktionales Stadtentwässerungssystem verfügte, wurde das Aufkommen wassergespülter Toiletten prompt zu einem Lackmustest der Politik. Und in der Tat lehnte der Stadtrat 1875 die Einführung von WCs ab, und auch die neue Bauordnung von 1878 ermöglichte den Einbau nur in bestimmten Fällen. Erst ab 1906 wurde »die Anlage und Benutzung von Wasserklosetts« amtlich genehmigt – weil seit 1890 der Ausbau des öffentlichen Schwemmkanalisationssystems umfänglich vorangetrieben worden war. Die erste Kläranlage, die mit Siebscheiben allerdings nur die festen Anteile des Abwassers von den flüssigen trennen konnte, ging 1910 in Betrieb.

 

In den anderen deutschen Großstädten verlief der für die WCs notwendige Ausbau der Schwemmkanalisation ähnlich schleppend. »In ganz Deutschland verfügten im Jahr 1892 von 564 Städten mit mehr als 5000 Einwohnern ganze achtzehn Städte über Anlagen zur Schwemmkanalisation, der Rest der Kommunen war mit dem hygienisch bedenklichen, herkömmlichen Grubensystem, seltener mit dem moderneren Tonnensystem ausgerüstet.«62

Seit dem frühen 20. Jahrhundert sind Wasserklosetts »formal und funktional hochgradig typisierte Gegenstände«, vermerkt Bettina Möllring. »Toiletten sind sitzhoch, ihr meist weißes Aufnahmebecken ist oval, und auf dem oberen Rand liegt ein Sitzring auf. Die funktionale Vereinheitlichung ist dagegen weniger eindeutig, weil sie visuell kaum wahrnehmbar ist: Sie bezieht sich beispielsweise auf die Versorgung mit einem Spülsystem und die Standardisierung der technischen Anschlüsse – vor allem zeigt sie sich darin, dass gleichartige Toiletten in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt werden. Sitztoiletten werden sowohl in öffentlichen Toilettenanlagen als auch in privaten Haushalten installiert und sollen von Frauen, Männern und Kindern gleichermaßen bei allen Ausscheidungsprozessen benützt werden. Vor allem im privaten Bereich ist es das heutige Konzept der Toilette, sie als Klosett und Urinal zu verwenden. Dies erscheint uns so selbstverständlich, dass wir es kaum hinterfragen.«63 Hinterfragen? – Ich bitte um Geduld bis zum letzten Kapitel.

Ein Ort – lateinisch locus – kann schön wie eine Landschaft sein: locus amoenus; oder auch ganz schrecklich: locus terribilis. Er kann weiter weg oder nahe liegen, still oder lärmumtost und Ort für die Notdurft sein: locus necessitatis. Als solcher kann er, wie Peter Handke beteuert, ein »möglicher Asylort« sein und weit weg liegen »von all den Salons und Gemächern des Herrenhauses«; er kann ohne Dach sein, eben »offen zum Himmel«, und er kann unter sich Mist haben. Handke erzählt in seinem Versuch über den Stillen Ort:

»Es war an der Schwelle zwischen der Kindheit und dem Heranwachsendenalter, daß der Stille Ort mir etwas zu bedeuten begann über das Übliche oder Gewohnte hinaus. Wenn ich mir heute […] den Abort des bäuerlichen Großvaterhauses im südlichen Kärnten vergegenwärtigen möchte, kommen mir nur spärliche Bilder in den Sinn […]: die handlich zu mehr oder weniger dicken Packen zurechtgeschnittenen Zeitungen, gelocht und an einer Schnur von einem Nagel in der Holzbretterwand hängend, mit der Variante, daß die Sprache der Schnipsel überwiegend das Slowenische war, des vom Großvater abonnierten Wochenblatts ›Vestnik‹ (›Der Bote‹). Der senkrechte Schacht vom Sitzloch hinab Richtung Misthaufen, der zu dem Viehstall unten gehörte – oder führte er nicht doch weiter zu einer Art Sickergrube? –, mit der Nuance, daß jener Schacht ungewöhnlich lang war, oder mir Kind jedenfalls so erschien, indem der Abort sich im ersten Stock des in einen Steilhang mitten im Dorf gebauten Bauernhofes befand […], kaum als eigener Ort kenntlich, nicht einmal als Verschlag, geschweige denn als ›Abtritt‹, zumal das mehr oder weniger landesübliche Herz in der Tür fehlte …«64

Vom Abort oder Abtritt spricht heute kaum jemand mehr. Im amtlich tolerierten Sprachgebrauch dominieren Toilette und WC, umgangssprachlich Klo und stilles Örtchen, Lokus, keramische Anstalt, Häusl, Hüüsli etc. An vulgären Benennungen mangelt es gewiss nicht. Die Spanne reicht von A wie Arschbliss bis W wie Wichsbude.65 Und wenn jemand in deutschsprachigen Landen trotz der Abschaffung der Monarchie genau dorthin will, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht, soll bekanntlich nicht etwa ein lieblicher Schlossgarten, sondern ein Ziel angesteuert werden, das unmissverständlich als Scheißhaus bezeichnet wird. Sprache ist verräterisch?

Das Wort Abort kam im Mittelalter auf und entstammt dem mittelniederdeutschen af ort, sprich: abgelegener Ort. (Dass die Mediziner seit der frühen Neuzeit zudem eine Fehlgeburt als Abort bezeichnen, steht auf einem anderen Blatt.) Lediglich in seiner Verkleinerungsform Örtchen lebt es noch fort. Mit Abtritt gab es jahrhundertelang einen alternativen Begriff. In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon der 1730er Jahre findet sich der erläuternde Eintrag: »Abtritt […] ist der nothwendige Ort bey einer Haushaltung, dahin der Mensch seinen Leib zu erleichtern Abtritt nehmen kann.«66 Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm heißt es um 1860: »der geheime ort und gang im hause, der abtritt, für welchen die sprache eine menge andrer namen bietet.«67 Mit der Bezeichnung Abtritt wurden sowohl der konkrete Ort selbst, als auch der Gang dorthin, das Abtreten, verbunden. Ein Vorgang, der zuweilen mit der Bemerkung angekündigt wird: Ich muss mal austreten; ich muss mal bei die Tante Maier gehen; ik mott es naot’t Hüüsken! usw.

Von einer Latrine – lateinisch: latrina (abgeleitet von lavare = sich waschen) – ist heute insbesondere dann die Rede, wenn es um die historische Würdigung von Toilettenanlagen im römischen Kaiserreich geht, als auch um behelfsmäßige (Lager-) Anlagen. Latrinengerüchte oder Latrinenparolen kommen nicht von ungefähr. Auch das merkwürdig deutsche Wort Donnerbalken bezeichnet einen provisorisch angelegten Ort, an dem Holzbalken über einer ausgehobenen Grube oder dem Wasser, der eine – auch gemeinschaftliche – Verrichtung der Notdurft ermöglicht. Latrine wurden jahrhundertelang auch über Gruben oder Misthaufen angelegte Aborte genannt. Der großartige deutsche Erzähler Siegfried Lenz (1926 – 2014) schildert in So zärtlich war Suleyken, einem Band mit Geschichten aus längst vergangenen ostpreußischen und masurischen Zeiten, was es mit einer Latrine so auf sich haben konnte. In der 14. Geschichte beschließt der Lehrer Eugen Boll, sein Latrinchen vertiefen zu lassen – »mit der Absicht, den Schülern zu verschaffen einen kritischen Blick in die Natur«:

»Ließ auch gleich drei oder vier Bürschchen mit der Seilwinde in eine entsprechende Grube hinab, gab Anweisung, reichte Werkzeug und was gebraucht wurde hinterher und beaufsichtigte die Wissenschaft von der Natur. So, und in diesem Augenblick will es die Erzählung, daß herangerollt kommt in seiner leichten Kutsche der Oberrektor Christoph Ratz samt einem dünnen, bebrillten Weibchen, welches zu seiner Begleitung gehört. […] Der Ratz, er hob plötzlich die Nase, schnupperte, stellte sich, dieser Mensch, auf die Fußspitzen und sog die Luft ein, und auf einmal kam er, beroch uns Knaben und sprach: ›Die Zöglinge‹, sprach er, ›sie stinken.‹ Und nach einem erklärenden Blick zu dem Latrinchen: ›Wenn man schon, Lehrer Boll, den Frühling begrüßen will […] – warum denn, wenn ich fragen darf, muß das stattfinden neben dem Latrinchen? Warum nicht, wie es ziemlicher wäre, in Gottes schöner Flur?‹«68

Es gibt für die jahrhundertelang zumeist außerhalb der Wohnstätten gelegenen Latrinen, Aborte und Abtritte eine veritable Anzahl von Bezeichnungen, die inzwischen versunken bzw. hochsprachlich bereinigt worden sind. Vom Mittelalter an lange gepflegt wurden hierzulande besonders in tonangebenden Kreisen kaum zufällig so wohltönend verhüllende Bezeichnungen wie haymlich gmäch, heimlikeit, gelegenheit, kommoditee, läublein, necessarium, prifet oder privet, retirade, secret und sprâchhûs. (Die Schreibweise veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte graduell.) 1568 forderte etwa der Rat von Dresden die Bürger auf: »Ein Jeder soll in seinem Hause eine Heymlichkeit bauen oder man wolle ihm das Haus zumachen.«69 In Grimms Deutschen Wörterbuch wird unter dem Stichwort heimlich gmach ein herrliches Zitat aus dem Jahr 1642 geliefert. Und zwar von Philander (Pseudonym des Staatsmanns und Satirikers Johann Michael Moscherosch): »der andere […] wüntschte sich glückseelig zu sein, wann er dasz brett auf dem heimlichen gemach were, damit er seiner liebsten je zu zeiten, möchte den leib berühren.«70 Auch für das alternative gelegenheit liefert das Wörterbuch einen bezeichnenden Eintrag: »gelegenheit nennt man in mehren deutschen kreisen einen bekannten inkognitoort […]; wo is hier de gelegenheit? frägt man, wenn man das geheime gemach im hause suchet […], wie franz. la commodité.«71

Für das ab dem 14. Jahrhundert aufgekommene Hüllwort sprâchhûs oder auch sprachhäuslein oder sprachkammer sind im Deutschen Wörterbuch eine Fülle von Belegen eingetragen. Verwiesen wird beispielsweise auf: »(ich will) mine unnützen büecher zerrissen ze fetzen … vast hinder hin, zum sprachhus mit!«72 Die Auffassung von Martin Illi, noch in der frühen Neuzeit wäre es üblich gewesen, »die Notdurft mehrsitzig zu verrichten«, und eben deshalb sei »die Latrine als sog. Sprachhaus bezeichnet« worden, führt meines Erachtens in die Irre.73 Als Sprachhaus wurden ursprünglich das Rathaus und der Sitz der Gerichtsbarkeit bezeichnet, wo zwar vielerlei Gespräche zu führen waren, diese aber unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit, also geheim erfolgten. Jedenfalls verdeutlicht das Deutsche Wörterbuch, dass der sprâchhûs genannte Abtritt ein Ort ist, wo »unter ausschlusz der öffentlichkeit in geschlossener sitzung« die Entleerung stattfinden kann.

Die vom Mittelalter bis zum Aufkommen der modernen Hüllwörter Toilette und WC gepflegten Euphemismen kommen nicht von ungefähr. Sie entspringen dem menschlichen Schamgefühl. Der Wunsch, bei der Verrichtung der Notdurft möglichst allein und ungestört zu sein, bestand offenbar schon zu Zeiten, als die nachhaltige »Verhäuslichung« der Erleichterung, sprich die feste Integration von Spülklosetts in die Wohnungen, bestenfalls ein Traum war. Wo die von den Gebrüdern Grimm so trefflich bezeichneten Inkognito-Orte in aller Regel zu finden waren und welche Artefakte insbesondere die Defäkation vor dem Einzug der wassergespülten Sitzklosetts ermöglichten, ist in einer Fülle von Publikationen in vielerlei Hinsicht ausgeleuchtet worden. Allerdings erscheint mir die wissenschaftlich erhärtete Kenntnis über die Bedingungen in der höfischen und klösterlichen Welt entschieden größer, als über die der Land- und arbeitenden Bevölkerung zu sein. Ich beschränke mich auf das Wesentliche.74

Als Ort des Erleichterungsgeschehens diente bis zur menschlichen Sesshaftwerdung im Neolithikum das offene Feld; nach der Anlage von festen Lagern und Wohnstätten legten die Siedler zunehmend über ausgehobenen Gruben Latrinen an, die mit Halterungen gegen unbedachtes Rückwärtsfallen oder auch schon mit dicken Ästen als Sitzmöglichkeit versehen waren. Ab wann Bretter oder Steinplatten in unseren Breitengraden als Auflage üblich wurden, vermag ich nicht zu sagen. Auf den Orkneyinseln sind Steinbänke mit Löchern und darunter liegenden wassergespülten Kanälen aus der Zeit um 2800 v. u. Z. erhalten geblieben. Dass in der Antike die Griechen und mit einiger zeitlicher Verzögerung auch die Römer in den Städten über private und öffentliche Latrinen mit steinernen Sitzauflagen verfügten, die mit einem Loch nebst schlüssellochförmiger Aussparung versehen waren, gehört heute gleichsam zur Allgemeinbildung.75 Die vom Archäologen Richard Neudecker wissenschaftlich ausgeloteten, von außen abgeschirmten römischen Latrinenanlagen ermöglichten vielen Personen die gemeinsame Verrichtung auf dafür hergerichteten Marmorplatten. Die Ausscheidungen wurden über darunterliegende Abwasserkanäle abgeführt.76

 

Die vielgerühmten Prachtlatrinen und öffentlich gegen Gebühr nutzbaren Latrinen und necessaria in allen Ehren. In der mehr als eine Million Einwohner zählenden Metropole Rom hatte die Masse der Bevölkerung – einschließlich der vielen Sklaven – entweder keinen Zugang oder nicht das nötige Kleingeld für die von Pächtern betriebenen Latrinenanstalten in den nicht kanalisierten Stadtteilen. Sklaven konnten sich immerhin ein Zubrot durch den Transport mit Ausscheidungen gefüllter Tongefäße (vasa obscoena) zur nächstgelegenen öffentlichen Kloake oder zu den Gärtnern des Umlands verdienen. In den vielen mehrstöckigen Miethäusern kamen Nachttöpfe zum Einsatz, dienten Fässer im Erdgeschoss oder auch Gruben zur Sammlung der Exkremente. Auch die vielen Misthaufen erfüllten nicht nur für die Tiere ihren Zweck. Der von Gerbern, Walkern und Färbern dringend benötigte Urin wurde an einigen Plätzen der Stadt von Händlern in Amphoren gesammelt. Legendär ist die spezielle Steuer, die Kaiser Vespasian um das Jahr 70 den Latrinenpächtern auferlegte, und die seinen Sohn dazu verleitete, ihm eine Münze mit dem Kommentar unter die Nase zu halten: »Non olet«. Seitdem stinkt Geld bekanntlich nicht.

Kurz, wenn auch das spätrömische Reich über eine ausgeprägte Badekultur und beachtliche Wasserversorgungsanlagen verfügte, gab es für die meisten Bewohner dennoch weder fließend Wasser, noch mit Marmorsitzen ausgestattete Abortanlagen. Die vielen überlieferten, wenn auch teils übertriebenen Klagen über Nachtgeschirre, die bei Dunkelheit auf die Straße gekippt wurden, sprechen für sich. Etwa in den Satiren von Juvenal (ca. 55–ca. 127): »Betrachte jetzt noch andere, verschiedenartige Gefahren der Nacht: wie hoch die Häuser sind, von denen dir ein Dachziegel auf den Schädel fällt, wie oft man leckes oder gesprungenes Gefäß aus dem Fenster wirft, mit welcher Wucht sie auf dem Pflaster ihre Spuren hinterlassen […]. So viele Gefahren bedrohen dich, wie beleuchtete Fenster offenstehen, unter denen du vorbeigehst. Begnüge dich also mit der kläglichen Hoffnung, daß man wenigstens nur den Inhalt flacher Becken auf dich ausleert.«77

Für die römischen Offiziere wurden an den Kastellplätzen zum Teil wasserunterspülte Latrinen mit Sickergruben angelegt, die Legionäre mussten in einfachen Holzbauten angelegte Mannschaftsaborte nutzen, die vielfach wohl aus Donnerbalken über Gruben bestanden. Die Kenntnis von mit Sitzbänken ausgestatteten und mit Wasser unterspülten Latrinenanlagen war in Mitteleuropa vorhanden, als das römische Reich zerfiel, und in Nord- und Mitteleuropa die Mönche die ersten frühmittelalterlichen Klosterbauten errichten ließen, deren Latrinen zum Teil mit Abflussvorrichtungen in nahe Gewässer versehen waren. In ihnen wurden sowohl innenliegende, mit Tür oder Vorhang verschließbare Nischen oder Erker, als auch mehrsitzige Abortanlagen für die Verrichtung der Notdurft eingerichtet. In den ab dem 10. Jahrhundert vielerorts erbauten Burgen und Wohntürmen gab es heimliche Gemächer mit Brettauflagen, die zumeist in Form von hölzernen, teils auch gemauerten Abtrittserkern angelegt wurden.

Friedrich-Wilhelm Krahe vermerkt aus fachmännischer Sicht: »Der Bewohner eines Gebäudes mit dieser Einrichtung musste nicht bei Nacht und Nebel aus dem Haus gehen, sondern konnte im Haus selbst einen Abtritt benutzen. Dieser Luxus war selbstverständlich im Prinzip für die Herrschaften gedacht. Entstanden ist er vermutlich durch die Notwendigkeit, einen Wohnturm oder ein festes Haus über längere Zeit nicht verlassen zu können, weil man von Feinden umringt wurde.«78 Unter den zumeist einsitzigen Toiletten verschwanden die Exkremente entweder in Schächten, die zum Burggraben oder in Gruben verliefen, oder sie fielen direkt in die Tiefe (eben deshalb wurden die Erker außen versetzt an der Wand angebracht). Für die übrigen Anwesenden auf den Burgen gab es ebenerdige, wohl in Holzhäuschen über temporär genutzten Fäkaliengruben angelegte Abtritte. Sie haben die Zeiten nicht überdauert.

Einige Burgen des Deutschen Ordens hatten Dansker genannte Abtritte an den Nichtangriffsseiten, die in separaten Türmen über dem Graben lagen und durch einen gedeckten Wehrgang erreichbar waren.79 Generell stimme ich der Einschätzung Krahes zu: »Die Abtritte auf Burgen waren, wie immer sie auch hergestellt worden sind, eine recht luftige Angelegenheit, denn der Wind pfiff stets durch das Loch im Sitzholz.«80

Und an welchen Ort begab sich ab dem Beginn des Mittelalters die Masse des mitteleuropäischen Volks, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Land zuhause war? Immerhin lebte noch um 1800 in Deutschland gut neunzig Prozent der Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten unter 5000 Einwohnern. Auf dem Lande lag der Abort – zunächst wohl ohne Wetterschutz – in aller Regel genau da, wo er vor der Erfindung des Kunstdüngers den meisten Sinn machte: in der Nähe, direkt am oder über dem Misthaufen. Im Winter, schon der Wärme wegen, nach Möglichkeit in Nähe der Tierstände. Große Teile der Landbevölkerung, die in einfachen Katen und Kotten untergebracht waren, erleichterten sich im Zweifelsfall über offenen Hockgruben, die mit einem Holzstock zum Festhalten versehen waren. Oder »oewern Knüppel«, also mit einer Querstange als Sitzstütze. Ab wann Knüppel bzw. Donnerbalken ausgedient hatten, vermag ich nicht einzuschätzen. In den Stallungen größerer Bauerngehöfte wurden gegen Ende des Mittelalters zunehmend von außen oder innen zugängliche Abtrittswinkel bzw. Verschläge angelegt. Teils mit einem hinter dem Sitz schräg gestellten Brett, das die eingeübte Hockstellung unterbinden – also die Sitzfläche sauber halten sollte.

Ab wann die zumeist über Jauchegruben oder auch Gewässern platzierten, vor Wind und Wetter schützenden Häusl aufkamen, verrät ein wunderbarer Holzschnitt: spätestens im 15. Jahrhundert. Die Abbildung findet sich in der Ars memorativa aus der Druckerei des Augsburger Verlegers Sorg, genauer: Anton der Jüngere (ca. 1430 – 1493). Zu bewundern ist ein junger Mann, der seine Defäkation nicht auf dem mit einem einladenden runden Sitzloch ausgestatteten Häusl, sondern gezielt vor dessen Intimität gewährender Tür verrichtet. Warum er den Abort links liegen lässt, bleibt unklar. Womöglich misstraute er der ihm unbekannten Einrichtung oder fürchtete sich gar vor dieser auf dem Holzschnitt doch gastlich wirkenden Stätte, in der dem damaligen Volksmund zufolge Dämonen ihr Unwesen trieben, weshalb viele sie bei Nacht auch nicht alleine zu betreten wagten.


»Stinckent« (ca. 1480),

Holzschnitt aus der Ars memorativa

Als im 19. Jahrhundert im Zuge der sich entwickelnden Hygienebewegung immer mehr Ärzte die Verhältnisse auf dem Land einer kritischen Betrachtung unterzogen, entstanden Berichte, die offenbar jahrhundertelang gepflegte Einrichtungen und Gewohnheiten spiegelten. Zwei Beispiele: 1871 beschrieb der Mediziner Aloys Schmitz die Zustände »des Schwalm- und Nette- und eines Teiles des Niers-Gebietes, insbesondere der Stadt und Gemeinde Viersen« im Hinblick auf die Aborte ziemlich ernüchtert so:

»Auf den Häuserhöfen befindet sich in der Regel die Düngerstätte, worauf die organischen Abfälle der Wirthschaft, sowie die Auswurfstoffe Platz finden und wohin nicht selten die Stalljauche und Abtritte abfliessen. Meistens entsprechen die Düngergruben weder den hygienischen noch den landwirthschaftlichen Anforderungen. Die Jauche wird entweder in offene Gruben, oder in gemauerte und überwölbte Gewölbe, sogenannte Stallwasserkeller geleitet. Die Einrichtung der Aborte ist durchweg unzweckmäßig. Auf dem Lande sind sie häufig nur mit einem Sitzbrette oder Bretterhäuschen versehene Schlinggruben [Sickergruben]. Die gewöhnlichste Abtritt-Einrichtung ist die der gemauerten Gruben auf dem Hofe oder in den Hintergebäuden, die aber durch die häufig schlechte Beschaffenheit ihrer Umfassungsmauern den Boden in weiterer Entfernung mit ihren Zersetzungsproducten imprägniren und die Brunnen verderben.«81

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