Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

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Sari: Orbis Romanicus #15
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Die mimetisch-dystopische Metropolendarstellung in Onettis frühen Romanen und Kurzgeschichten wird in der Forschung oft mit dem Werk Roberto Arlts, dem Pionier des rioplatensischen Stadtromans, verglichen. Das ‚literarische Erbe‘, das Onetti von Arlt übernimmt, besteht demnach vornehmlich in der negativ konnotierten Darstellung der Großstadt als Ort der Feindseligkeit und Selbstentfremdung des modernen Individuums.62 In seiner Romantrilogie El juguete rabioso (1926), Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) entwirft Arlt die Großstadt (Buenos Aires) als Strudel, wie Rosalba Campra mit Bezug auf ein eigentlich konträres Konstrukt feststellt. So bezog sich dieser Begriff ursprünglich auf den Urwald als die alles verschlingende, zivilisationsfreie Hölle in Eustachio Riveras gleichnamigem Roman La vorágine (1924). Den Gegensatz dazu bildete die zivilisierte Stadt. Nach Campra erhält bei Arlt jedoch genau die ehemals zivilisierte, beherrschbare Stadt die menschenvernichtenden Züge des unkontrollierbaren Urwalds:

La ciudad ya se ha transformado en una vorágine. Los críticos han insistido suficientemente en el papel de Roberto Arlt respecto a la creación de esta imagen de una Buenos Aires sombría. En El juguete rabioso (1926), Los siete locos (1929), Los lanzallamas (1931), Arlt muestra cómo la ciudad forma, o más bien deforma a los personajes en su cuerpo y en su alma, obligándolos a actuar como seres despiadados y corruptos para poder sobrevivir. El espacio en que se mueven, coherentemente, es mezquino y oscuro: zaguanes, escaleras de caracol, sórdidas piezas amuebladas en las que estas criaturas resentidas rumian su venganza contra el mundo.63

Die Großstadt wird bei Arlt damit zum düsteren (mezquino y oscuro) Dschungel, der die Menschen zwar nicht mehr ‚verschlingt‘ (wie der Dschungel die Protagonisten Arturo und Alicia in La vorágine), jedoch in ihrem täglichen Überlebenskampf moralisch deformiert und korrumpiert (wie etwa Silvio Astier, den Protagonisten von El juguete rabioso (1926), der im Laufe seiner éducation sentimentale zum Verbrecher und Verräter an seinem Freund wird, wie Juan Villoro schreibt)64. Die Feindseligkeit der Großstadt geht dabei in den Körper der Figuren über und deformiert deren Psyche.65 Letzteres mündet in einen schmutzigen, trotzigen Überlebenskampf der einzelnen Individuen. Die entsprechende Kulisse dafür bilden dunkle Flure, Wendeltreppen oder schäbige Pensionszimmer.

In Recorridos urbanos (2009) gelangt Christina Komi zu einem ähnlichen Schluss. Sie vergleicht die medial vermittelte Repräsentation der Großstadt Buenos Aires in Arlts Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) mit der Onettis in El pozo (1939), Tierra de nadie (1941) sowie einigen frühen Kurzgeschichten. Das Bild der Stadt, das Komi in ihrer Monographie herausarbeitet, setzt sich daraus zusammen, was die Stadt einerseits an Bedeutungen generiert und wodurch sie andererseits selbst geprägt und verändert wird. Dabei bezieht sich Komi auf das Konzept der analogen Stadt des italienischen Architekten Aldo Rossi.66 Die Idee, die hinter Rossis Überlegungen stand, war, modernen Städtebau nicht nur an infrastrukturellen und ökonomischen Funktionen auszurichten, sondern kulturelle Analogien und Verweise zwischen Architektur und Stadt herauszuarbeiten, um dementsprechend zukunftsweisend zu bauen. Komi transferiert diese originär urbanistische Betrachtungsweise für ihre Studie in die Literaturwissenschaft:

La expresión señala el punto de encuentro entre los componentes materiales del espacio, la memoria y los elementos imaginativos que forjan, también a su manera, este espacio.67

El lenguaje de la ficción percibe, representa e inventa la ciudad y sus lenguajes.68

Sie beschreibt zunächst die Besonderheiten, die das Buenos Aires (bzw. die rioplatensische Großstadt) der Zwischenkriegsjahre von europäischen Metropolen wie Paris oder London unterscheiden. Da ist einerseits die immense Zahl an europäischen Migranten zu nennen, die Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zwei mehr oder weniger parallel existierende Gesellschaften (die Norm-Gesellschaft sowie die davon abgespaltene randständige Gesellschaft der Einwanderer) teilt und andererseits die relative historische Unbeschriebenheit der rioplatensischen Gesellschaft („un tipo de tabula rasa“69). Die industrialisierungsbedingte Verstädterung tut ihr übriges, um die rioplatensische Großstadt der Zwischenkriegsjahre zu dem zu machen, was Komi als reale Vorlage für deren literarischen Repräsentationen bei Arlt und Onetti beschreibt:

La Buenos Aires de los años veinte surge como una ciudad de cemento que crece y se extiende a un ritmo desenfrenado, amenazando no sólo las tradiciones locales sino, más profundamente, la integridad psicológica del individuo que transforma de repente en hombre de masas dentro de una ciudad masificada, en una fracción de la sociedad o en pieza de máquina.70

Der rapide Anstieg der urbanen Bevölkerung sowie die zunehmende Ökonomisierung und Prekarisierung des städtischen Lebens befeuern die Entfremdung des Individuums, wie Komi fortfährt. Das ungebremste physische Wachstum der Stadt bedroht laut Komi nicht nur die ursprünglichen Traditionen, sondern vor allem auch die menschliche Psyche. So leidet das moderne Individuum sowohl in den Texten Arlts als auch in denen Onettis unter gesellschaftlicher Randständigkeit und Vereinsamung. Weiter verhandelt wird der Gegensatz zwischen einem Leben in Gesellschaft (Stadt) und einem Leben in Gemeinschaft (Peripherie, Land). Traum, Exzess und Gewalt sind laut Komi Strategien der städtischen Individuen, um den alltäglichen Entbehrungen und Feindseligkeit der Großstadt zu entfliehen bzw. um sich ihnen entgegenzustellen:

Tanto en Arlt como en Onetti, la ciudad se vive como un mundo atroz, difícilmente tolerable y, a menudo, asociado a la marginación, deliberada o casual. La realidad de la megalópoli aplasta a los individuos y es urgente buscar alternativas. En este contexto, la fabulación, el fraude y el ensueño son mecanismos que introducen en lo real partes de mundos alternativos, con el objeto de restituir lo que falta.71

Während Arlts Protagonist*innen die Großstadt als hypertrophes Gebilde wahrnehmen und sich vornehmlich in (sinnlose) Gewalt gegen sich selbst und andere stürzen, erfahren die Protagonist*innen in El pozo (1939) und Tierra de nadie (1941) die Stadt als fragmentierte Wirklichkeit, der sie sich nicht entgegenstellen, sondern der sie versuchen zu entkommen: Onettis Protagonist*innen ziehen sich in die Privatheit schäbiger Pensionszimmer und Tagträume zurück. Ihre Beziehung zur feindseligen Außenwelt ist weniger durch subjektive Konfrontation (wie etwa Erdosains Selbstmord bei Arlt) als vielmehr durch Kommunikationslosigkeit und Anonymität (sprechend ist in diesem Kontext bereits der Romantitel Tierra de nadie) gekennzeichnet.72

Rocío Antúnez‘ Monographie Caprichos con ciudades (2014) untersucht, wie auch Komi, Texte Onettis vor 1950 (journalistische Arbeiten eingeschlossen) und klammert damit Santa María weitestgehend aus. Anders als Komi fokussiert Antúnez jedoch eine literaturhistorische und biographische Einordnung Onettis in die lateinamerikanische Großstadtliteratur (bezüglich Buenos Aires und Montevideo). Eine weitreichende Beobachtung bezieht sich dabei auf Buenos Aires als ‚Stadt ohne Gedächtnis‘73. Das dadurch fehlende Identifikationspotential (das jede Form von kollektiver Erinnerung eigentlich vermittelt) schlägt sich laut Antúnez auch auf Onettis Protagonisten in Tierra de nadie (1941) nieder und das städtebauliche Äquivalent dieser „ciudad de todos y de nadie“74 findet seine Entsprechung im Mikrokosmos des Hotel- oder Pensionszimmers. Die Dominanz dieser geschichtslosen, nomadischen Wohnform zieht sich leitmotivisch durch Onettis Gesamtwerk. Seine männlichen Protagonisten leben, um Antúnez‘ Überlegungen weiterzuführen, nicht nur in Buenos Aires und Montevideo, sondern auch in Santa María teilweise in Transiträumen, wie etwa Junta Larsen im Hotel Berna (El astillero, 1961).

Eine weitere Forschungsarbeit, deren Ergebnisse für die vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht werden können, ist Andrea Mahlendorffs komparatistisch angelegte Raumstudie Literarische Geographie Lateinamerikas (2000). Mahlendorffs Analysekorpus ist breiter angelegt als das in Komis oder Capras Arbeiten. In ihrer Lektüre rekurriert sie auf Untersuchungen von Fernando Aínsa sowie auf Héctor Alvarez Murenas Essay El pecado original de América (1954).75 Ziel ihrer Analyse ist das Herausarbeiten eines lateinamerikanischen Raumbewusstseins, d.h. die Repräsentation der Stadt bildet nur eine Form von Räumlichkeit ab, die Mahlendorff untersucht. Ihre Lektüre von Tierra de nadie (1941) und La vida breve (ergänzt durch einen Vergleich mit Julio Cortázars Rayuela, 1963) deckt damit auch ein Forschungsdesiderat ab, das die komparatistischen Großstadtstudien von Campra, Komi und Antúnez bezüglich Santa María offenlassen. So zeichnet Mahlendorff in ihrer Untersuchung eine poetologische Genese anhand räumlicher Parameter auf. Santa María beschreibt in dieser Lesart den „Übertritt vom geographischen in den imaginären Raum“76. Den Roman Tierra de nadie (1941) liest Mahlendorff als „Prolog auf den neun Jahre später erscheinenden Roman La vida breve“77. Ähnlich wie Komi sieht auch Mahlendorff die urbanen Individuen in Tierra de nadie (1941) von Vereinsamung, Anonymität und gesellschaftlicher Ohnmacht geprägt:

Aus den vereinsamten Individuen, die Onetti in den Blick nimmt, ergibt sich das bedrückende Bild der anonymen Massengesellschaft, in der es dem Einzelnen nicht gelingt, ein persönliches Profil zu entfalten. Die wesentlichen Kennzeichen dieser Gruppe von Personen, die Onetti in seinem Roman vorstellt, sind Einsamkeit und Gleichgültigkeit. Er entwirft in ihnen eine indifferente Generation, die sich ihrem Schicksal machtlos ausgeliefert sieht.78

 

Die Entfremdung des modernen Individuums, die Mahlendorff paradigmatisch mit einem Ausspruch Diego Aránzurus79, einem der Protagonisten des Romans Tierra de nadie (1941), belegt, verweist auf das gestörte Verhältnis des vereinsamten Großstädters zu seinen kulturellen Ursprüngen. Ungelöste Identitätskonflikte, die sich in einem Hin- und Hergeworfen-Sein „zwischen Metropole und gran aldea auf der Suche nach dem eigenen Profil“80 artikulieren, dominieren die bruchstückhaften Figuren-Dia- und Monologe, aus denen sich Tierra de nadie (1941) zusammensetzt. Laut Mahlendorff eint alle Figuren das Gefühl persönlicher Schuld und persönlichen Scheiterns. Eine alles umspannende Langeweile beherrsche die gesamte Romanhandlung. Die Stadt werde nicht nur als identitätslos, sondern auch als Gefängnis wahrgenommen, dem es zu entfliehen gelte. „Die Überforderung angesichts einer chaotischen Welt“, so resümiert Mahlendorff die Verfasstheit der Figuren, „macht den Menschen entscheidungs- und handlungsunfähig. Einzige Fluchtburg bleibt die Welt der Imagination.“81 In diesem Sinne deutet Mahlendorff Aránzuru als „Urform Brausens“ und damit als intertextuelle Verbindung zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950):82

–En fin … Me voy a dedicar a inventarte. ¿Me entendés? Imaginar quién sos. Pensá un poco. Todos estos días juntos, piel con piel. Pero cada uno está preso en sí mismo y … Todo el resto es ilusión. (TN 221).

Das laut Mahlendorff zweite offensichtliche Bindeglied zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950) bildet der Fluss, denn während „el río sucio, quieto, endurecido“ (TN 228) den Text Tierra de nadie (1941) beschließt, bildet der Fluss in La vida breve (1950) eine erste topographische Referenz für die Situierung Santa Marías. Das entsprechende Kapitel ist mit „Díaz Grey, la ciudad y el río“ (VB 428) überschrieben.

Mahlendorffs Analyse von La vida breve (1950) konzentriert sich auf drei Raummodelle. Sie unterscheidet den „Raum des Alltäglichen“, den „Raum des Nebenan“ und den „Raum der Imagination“ voneinander.83 Der erste Raum verweist auf Juan María Brausens Wohnung in Buenos Aires, die er zusammen mit seiner Ehefrau Gertrudis bewohnt. Den zweiten Raum bildet demnach die symmetrisch gespiegelte Nachbarwohnung der Prostituierten Queca. Santa María, als der Raum der Imagination verstanden, konstituiert „die dritte räumliche Einheit, in der sich das Erzählen vollzieht. Im Vergleich zu den anderen beiden Räumen ist er nicht mehr in der konkreten Geographie Lateinamerikas verortet, sondern beschreibt sozusagen selbst einen Bereich imaginärer Geographie der Neuen Welt.“84 Mahlendorff liest Santa María zudem als „Ort der Erlösung“85, dessen geographischer Mittelpunkt in dem Reiterstandbild Díaz Greys zusammenläuft. Die Erlösung besteht vornehmlich darin, dass sie den Protagonisten Brausen von seiner aufreibenden Identitätsproblematik befreit. In Santa María kann er endlich sein, was er will. Identitäten werden nicht sozial oder gesellschaftlich festgeschrieben, sie sind wandelbar. Hier sieht Mahlendorff auch eine Verbindung zur Existenzphilosophie Martin Heideggers und Jean-Paul Sartres, die postuliert, es obliege jedem Menschen selbst, sich täglich neu zu erfinden:

Onettis Werk erscheint als eine literarische Illustration der Existenzphilosophie Heideggers und Sartres, die darin die absolute Freiheit des Menschen sahen, daß [sic] er nicht an eine vorherbestimmte Form des Daseins gebunden ist, sondern sein Leben auf eine Existenz hin entwirft.86

Diesen Grundgedanken existentialistischer Selbstverantwortlichkeit verknüpft Mahlendorff mit dem Begriff der Ambiguität sowie dem titelgebenden Leitmotiv des kurzen Lebens. Sie konstatiert, dass Brausens Rettung in der Möglichkeit bestehe, kraft der eigenen Imagination mehrere Identitäten, die wiederum an mehrere kurze Leben gebunden seien, für sich zu erschaffen. Jeder dieser Identitäten wird in Mahlendorffs Lesart ein eigener Raum zugeschrieben.

Diese Arbeit übernimmt die Begrifflichkeiten Mahlendorffs mit oben beschriebenen theoretischen Implikationen. Um die Provenienz der Termini kenntlich zu machen, werden sie in der Textanalyse kursiv verwendet.

2 Grundlegende theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender

You could see your own house

as a tiny fleck on an ever-widening landscape,

or as the center of it all from which

the circles expanded into the infinite unknown.

It is that question of feeling at the center

that gnaws at me now.

At the center of what?

WE ARE HERE BECAUSE YOU WHERE THERE.87

Adrienne Rich (1984)

Ende der 1960er Jahre proklamierte Michel Foucault ein ‚Zeitalter des Raumes‘: „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.“88 Und weiter: „Heute tritt die Lage an die Stelle der Ausdehnung, […]. Die Lage wird bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen […].“89

Analog dazu lässt sich auch Onettis Gesamtwerk, in der monographischen Lesart Ferros, als ein textliches ‚Neben- und Ineinander‘, als eine Ansammlung stark selbstbezüglicher Äußerungen, Motive, Semantiken etc. begreifen, die in eine spezifisch Onetti’sche Poetologie mündet. Weiter verstärkt wird diese räumlich ausgerichtete Ordnung durch die raumbasierten Figuren der Repetition, Metonymie, Fragmentierung oder Ellipse. Die fragmentierende Beschreibung wird in Onettis Texten vor allem an einer Deplatzierung von Objekten sichtbar. Durch grammatikalische Bedeutungsverschiebungen erscheinen Gefühle, Wahrnehmungen, Gesten oder Mimik im Wortsinne ‚wesentlich‘ und vom Körper abgekoppelt. Sie werden personifiziert und mit neuer Bedeutung aufgeladen: „[…] me voy levantando, estiro el dolor de las piernas.“ (JC 384). Anstatt der Beine streckt die Person den Schmerz (in den Beinen) aus, d.h. Onetti verschiebt durch die Personifizierung des Schmerzes den Fokus vom Materiellen (Körper) auf die reine Wahrnehmung (Schmerz) und verstärkt diese dadurch. Schmerz (Empfindung) wird vom Körper separiert.90 Besonders häufig wird der Typus der fragmentierenden Beschreibung im Zusammenhang mit der Personifizierung von risa oder sonrisa angewendet: „La risa bailó un solo círculo sobre la mesa.“ (TN 43) Das Lachen wird zu etwas Eigenständigem, in dieser Szene sogar zu einem Produzenten von szenischer (nicht wie zu vermuten, auditiv wahrnehmbarer) Kunst: Das Lachen tanzt. Bei der ersten Begegnung zwischen Junta Larsen und Angélica Inés in El astillero (1961) nimmt Larsen das Lachen der Frau als eine Art Korrespondenz zwischen ihr und dem Raum wahr: „[…][Angélica Inés] reía a sacudidas, con la cara asombrada y atenta, como eliminando la risa, como viéndola separarse de ella, brillante y blanca, excesiva; alejarse y morir en un segundo, derretida, sin manchas ni ecos, sobre el mostrador, sobre los hombros del dueño, entre las telarañas que unían las botellas en el estante.“ (AS 159) Ähnlich einem kubistischen Gemälde dekonstruiert Onetti dabei die Mimik einer Figur und setzt sie in neuer Anordnung, mit neuem Fokus wieder ins Bild. Das Lachen wird in diesem Fall nicht nur auditiv und optisch (als Gesichtsbewegung) wahrgenommen, sondern personifiziert (alejarse y morir). Es scheint sich zu materialisieren (derretida) und vom Körper zu lösen (sobre el mostrador, sobre los hombros del dueño, entre las telarañas). Durch die Figur der Hypallage (brillante y blanca als Charakterisierungen, die eigentlich mit den Zähnen, die sich beim Lachen zeigen, jedoch nicht mit dem Lachen selbst assoziiert werden) findet eine zusätzliche grammatikalische Verschiebung statt: von den Zähnen (die jedoch nicht im Text genannt sind, sondern allein durch die Kombination der beiden Adjektive brillante y blanca evoziert werden) zum Lachen. Die Logik mimetischer chrono- oder topographischer Deskriptionen gerät hingegen in den Hintergrund bzw. ist dieser autopoetischen Ordnung unterworfen. Onettis Texte sind nicht über eine kartographisch nachvollziehbare Topographie oder eine urbane Genealogie strukturiert, sondern über die Beziehungen der Figuren untereinander und zudem in Wechselwirkung mit dem Raum. Entsprechend wird Raum in vorliegender Arbeit als Träger kultureller Einschreibungen, Differenzen, Machtrelationen, Hierarchisierungen etc. fassbar. Konzeptionell geht diese Raumbetrachtung auf eine Reihe einflussreicher deutscher Vordenker wie Walter Benjamin und Georg Simmel oder Friedrich Ratzel zurück.91 Doch erst auf ‚Umwegen‘ fand diese Perspektive wieder Eingang in die aktuelle, deutschsprachige Raumtheorie: So zeichnete sich, wie u.a. Doris Bachmann-Medick feststellt, die deutsche Geisteswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst durch eine skeptisch-zurückhaltende Haltung gegenüber Raumfragen aus, die vor allem auf der historischen Erfahrung der imperialistischen Raum-Politik der Nationalsozialisten beruhte. Erst ab den 1970er Jahren griffen postkoloniale und soziologische Ansätze internationaler Forscher wie Edward Soja, Edward Said, Gayatri Spivak oder Homi Bhabha die analytische Verknüpfung von Raum- und Machtfragen wieder auf und leiteten damit eine (Re)Politisierung von Raum ein.92 Diese fand durch die Rezeption von Soja et al. auch wieder Eingang in den deutschen Diskurs.

Entsprechend wissen wir im 21. Jahrhundert nicht nur um die geopolitische Bedeutung von Kriegen oder der Folgen des Klimawandels, sondern auch um die symbolische Situierung von Macht an bestimmten Orten, wie etwa Regierungsvierteln oder Finanz-, Wirtschafts- und Technologiezentren. Massey hebt zudem hervor, dass die Situierung von gesellschaftlicher, politischer oder ökonomischer Macht entscheidend von geschlechterspezifischen Prämissen abhängt und dadurch bis heute eine spezifische Machtverteilung zwischen Männern und Frauen manifestiert. Grundlegend dafür ist laut Massey eine bis in die Antike zurückreichende Aufteilung in öffentlichen und privaten Raum, der in der westlichen Tradition geschlechterspezifische Machtverteilungen eingeschrieben sind:

One of the most evident aspects of this joint control of spatiality and identity has been in the West related to the culturally specific distinction between public and private. The attempt to confine women to the domestic sphere was both a specifically spatial control and, through that, a social control on identity. 93

So wurden und werden Frauen durch ihre Limitierung auf den Bereich des Hauses sowohl räumlich als auch in der Ausbildung ihrer Identität kontrolliert. Während Massey in ihren Untersuchungen insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser geschlechterspezifischen Segregation untersucht, soll in vorliegender Arbeit analysiert werden, inwieweit diese machträumliche Dichotomie zwischen Männern und Frauen in Onettis Texten reproduziert respektive unterlaufen wird. Im Vordergrund soll dabei die Frage stehen, welche Strategien Frauen-Figuren bei Onetti anwenden, um sich innerhalb eines männlich dominierten Diskursraums zu behaupten.