Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte

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Exkurs: Das Beispiel des Origenes

Leben und Werk des berühmten alexandrinischen Theologen Origenes († um 253) stellen ein klassisches Beispiel dar, wie jenes oben angedeutete Zusammenspiel zwischen Antike und Christentum gelingen konnte. Origenes wird um 185 in Alexandrien in einer christlichen Lehrerfamilie geboren. Sein Vater, der später als Märtyrer stirbt, macht ihn schon früh mit der Bibel vertraut, vermittelt ihm aber auch elementare Kenntnisse des klassischen antiken Wissens, sodass Origenes nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters die Mutter und die jüngeren Geschwister als Grammatiklehrer ernähren kann. Darüber hinaus studiert er die pagane Philosophie, um auch auf philosophische Fragen antworten zu können. Obwohl er sich von vielen Lehrmeinungen dieser Philosophie distanziert, entdeckt er im Platonismus viele Gedanken, die seines Erachtens mit der Heiligen Schrift übereinstimmen. Mit 18 Jahren vertraut man ihm auch die Unterrichtung der alexandrinischen Taufbewerber an. Sein Ansehen als christlicher Lehrer nimmt fortan derart zu, dass er seine Hörer aufteilen muss und den Einführungskurs seinem Schüler Heraklas überträgt. Aus dieser Lehrtätigkeit erwächst sein Werk De principiis, in dem er die gesamte christliche Glaubenslehre entfaltet. Dieses sehr eigenständige Werk und der Versuch, darin bisher offene Fragen zu beantworten, mag das Misstrauen von Bischof Demetrius von Alexandrien erregt haben. Als Origenes auch noch vom Bischof von Cäsarea in Palästina zum Predigen eingeladen und von ihm zum Priester geweiht wird, hält Bischof Demetrius zwei Synoden gegen ihn ab und schließt ihn um 230 aus seiner Gemeinde aus. Origenes zieht nun endgültig nach Cäsarea um, wo ihn der Bischof sofort mit der regelmäßigen Predigt über alle Bücher der Heiligen Schrift beauftragt. Hier sammelt Origenes auch eine Schülergemeinschaft um sich, deren Leben Gregor der Wundertäter († um 270/75) ausführlich schildert. Nach dem Muster zeitgenössischer Philosophenschulen entfaltet Origenes für diese Schüler nämlich ein Lehrprogramm, das von der Behandlung der philosophischen Teilbereiche Logik, Physik und Ethik bis zur philosophischen Güterlehre reicht und mit einer Einführung in die Heilige Schrift abgeschlossen wird. Allerdings beinhaltet dieses Curriculum nicht nur die Vermittlung von antikem und christlichem Wissen, sondern auch die Einübung der Schüler ins christliche Leben. So wird man diese hochschulartige Einrichtung des Origenes nicht nur als ein Bindeglied zwischen den traditionellen antiken Wissenschaften und der christlichen Lehre, sondern auch als einen Ort der christlichen Lebenspraxis und der Gewinnung von gebildeten Heiden für das Christentum bezeichnen können.


Die einheitliche, politisch-gesellschaftlich bedingte Kultur der Spätantike ruft bei den Zeitgenossen auch den Gedanken von der Einheit des Menschengeschlechts hervor, den das Christentum aufgreift und mit seinem Evangelium vom einen Gott verbindet, der für die gesamte Menschheit ein umfassendes Heil gestiftet hat. Diesem Evangelium kommt in der damaligen Gesellschaft außerdem eine allgemeine Aufgeschlossenheit für das Phänomen der Erlösungsreligion entgegen, wobei das Christentum die Mysterienreligionen vor allem darin überragt, dass es seinen Ursprung und sein Ziel auf einen Gott zurückführt, der zugleich leibhaftiger Mensch ist.

Zu den günstigen Bedingungen der christlichen Mission zählt auch die grundsätzliche religiöse Toleranz des römischen Staats. Denn das Aufkommen einer neuen Religion ist im Rahmen der liberalen römischen Religionsauffassung und Religionspolitik durchaus möglich, wenn auch die Grenzen des Staats- und Kaiserkults keinesfalls überschritten werden dürfen. Doch grundsätzlich gibt es keine prinzipiellen Einschränkungen nicht-römischer Religionen.

Indirekt förderlich wirkt sich im 3. Jahrhundert sicherlich auch die Weltkrise aus, die aufgrund militärischer, wirtschaftlicher und epidemischer Katastrophen über das Römische Reich hereinbricht. Angesichts der damit verbundenen Verunsicherung zieht das Christentum mit seinen eindeutigen Aussagen über die Welt und ihre Geschichte, mit seiner der heidnischen Götterwillkür eine Absage erteilenden Heilsgewissheit, mit seinen klaren ethischen Lebensdirektiven und seinen einleuchtenden Zukunftserwartungen sicher viele an, zumal solidarische Gemeinden und mutige Bekennerpersönlichkeiten für diese Glaubensaussagen mit bewundernswerter Überzeugungskraft eintreten.

Natürlich stellen sich der christlichen Mission auch ungünstige Bedingungen und Hemmnisse in den Weg. An erster Stelle sind hier die Christenverfolgungen zu nennen. Diese beruhen zwar in erster Linie auf dem mangelnden Willen der Christen, den Absolutheitsanspruch des römischen Staats durch die kultische Verehrung des römischen Kaisers und der römischen Staatsgötter anzuerkennen, doch lösen sie in der paganen Öffentlichkeit auch eine auf Gerüchte zurückgehende Kriminalisierung der Christen sowie weitere diskriminierende Vorurteile aus. Dieser schlechte Ruf bringt einerseits eine starke Minderung der Attraktivität des Christentums mit sich und erhöht andererseits die Schwellenangst potentieller Sympathisanten. Auch die Martyriumsbereitschaft vieler Christen überzeugt nicht immer, da manche das christliche Glaubenszeugnis auf die Borniertheit und den Fanatismus der neuen Religion zurückführen. Innere Streitigkeiten in Fragen des Glaubens und der Disziplin, die auch Außenstehenden bisweilen auffallende Kluft zwischen christlichem Ideal und kirchlicher Wirklichkeit, all das sind weitere Punkte, die die Skepsis der heidnischen Umwelt steigern.

Darüber hinaus enthält die christliche Lehre auch manchen Stein des Anstoßes, den weder ein Jude noch ein Heide ohne weiteres annehmen kann. Prinzipielle Aussagen wie die Lehre vom einen Gott (Monotheismus), die Menschwerdung Gottes, das Postulat einer den Menschen zugänglichen göttlichen Offenbarung und die christliche Auferstehungsvorstellung klingen in paganen Ohren absurd. Ohne Zweifel enthält die christliche Predigt für ihre Hörer also eine Reihe von schwer verdaulichen Inhalten, die mit den überkommenen Vorstellungen kollidieren und daher auf Widerstand stoßen.

Hinzu kommen manche äußere Erscheinungsformen des Christentums, die besonderen Verdacht erregen. So wird den frühen Christen beispielsweise das anfängliche Fehlen von Tempeln, Altären und Kultbildern als Atheismus ausgelegt, weil sie damit nicht die Merkmale einer konventionellen Kultreligion aufweisen. Schließlich wirkt der bisweilen als penetrant empfundene Exklusivitätsanspruch der Christen auf die Wahrheit auf Außenstehende gelegentlich hochmütig und abstoßend.

Angesichts dieser keineswegs harmlosen, teils innerkirchlich vorhandenen, teils von außen an das junge Christentum herangetragenen Gefährdungen kann man also nicht behaupten, dass der Siegeszug des Christentums in der antiken Welt nur aufgrund der namhaft gemachten günstigen soziologischen, politischen, kulturellen und religiösen Faktoren zwangsläufig so verlaufen musste, wie er verlaufen ist. Vielmehr wird man – ohne die vorgestellte Analyse der kirchengeschichtlichen Forschung grundsätzlich in Frage zu stellen – mit Chadwick auch eine Kette wunderbarer und unwahrscheinlicher Ereignisse für den Erfolg der frühen christlichen Mission gelten lassen, bei denen „menschliche Absichten nur eine untergeordnete Rolle spielten, in [… denen] das Auge des Glaubens aber das stille Wirken einer höheren Vorsehung erkennen“18 darf. Günstige Bedingungen, aber auch göttliche Fügungen ließen also die Begegnung zwischen Antike und Christentum so fruchtbar werden.

HOFMANN, Antike und Christentum (wie S. 15) 85-95 (mit Literatur).

1 DASSMANN (wie S. 12) 19.

2 HENGEL, Martin, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 39f.

3 Ebenda, 40.

4 BROX (wie S. 4) 10.

5 BAUS (wie S. 4) 96.

6 DASSMANN (wie S. 12) 21. – Ebenda weist Dassmann auch darauf hin, dass Johannes die mit der Geistausgießung verbundenen Geschehnisse in seiner Darstellung rafft (vgl. Joh 20,19-22), während Lukas „die ineinandergreifenden Ereignisse von Auferstehung, Himmelfahrt und Geistmitteilung heilsgeschichtlich entfaltet“, also sozusagen in chronologischer Reihenfolge aufeinander folgen lässt (vgl. Apg 2,1-13).

7 BAUS (wie S. 4) 96.

8 Dieser Meinungsverschiedenheit zwischen Pharisäern und Sadduzäern verdankt Paulus die Errettung aus einer äußerst bedrohlichen Situation in Jerusalem, indem er – bedrängt von der zornigen Menge – das Auferstehungsthema aufgreift, auf diese Weise einen heftigen Disput zwischen Pharisäern und Sadduzäern initiiert und sich so der öffentlichen Aufmerksamkeit entzieht (vgl. Apg 23,6-10).

9 Zu den Sieben vgl. hier und im Folgenden Kapitel 2.2.1.

10 Es handelt sich dabei um die erste Christenverfolgung der Geschichte, an der laut Gal 1,13 auch Paulus beteiligt ist. – Zur Datierung des Stephanus-Martyriums vgl. SCHNELLE (wie S. 32) 567.

 

11 Zur Flucht nach Pella vgl. DASSMANN (wie S. 12) 59f.

12 Zur Vertreibung der christlichen Hellenisten vgl. Kapitel 1.2.2.

13 DASSMANN (wie S. 12) 261f.

14 Zu den christlichen Hellenisten und Hebräern vgl. Kapitel 1.2.2.

15 Vgl. LÉGASSE, Simon, Vielfältige Wege der Mission (vom Orient nach Rom) (= Geschichte des Christentums 1) Freiburg Basel Wien 2003, 150-186; hier 167f.

16 Vgl. im Folgenden neuerdings M ERKT, Andreas / KARMANN, Thomas R., Frühes Christentum in Bayern, in: B ONK, Sigmund / S CHMID, Peter (Hg.), Bayern unter den Römern. Facetten einer folgenreichen Epoche, Regensburg 2009, 125-141.

17 SCHATZ, Klaus, Der päpstliche Primat: seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Würzburg 1990, 16. – Zu diesen frühen Zügen der Gemeinde von Rom vgl. eingehender Kapitel 5.1.

18 CHADWICK (wie S. 9) 56.

2. Die Entstehung und Entwicklung der kirchlichen Ämter und Dienste in den ersten drei Jahrhunderten
2.1 Urchristliche Vorgaben

Die Anfänge der kirchlichen Ämter und Dienste setzen mit den Aposteln ein. Die neutestamentlichen Schriften bezeugen zwar keinen einheitlichen Apostel-Begriff, enthalten aber gleichbleibende Grundelemente des urchristlichen Apostel-Verständnisses.19 Demnach bevollmächtigt und sendet der Auferstandene die Apostel zur Verkündigung des Evangeliums und zur damit verbundenen Gründung von Gemeinden, wie Er die Gemeinden auch bleibend an ihr Zeugnis bindet.

Unter den apostolischen Auferstehungszeugen ragen die Zwölf hervor, die bereits der vorösterliche Jesus in seine besondere Nachfolge berufen hat. Als unter ihnen Rangstreitigkeiten ausbrechen, macht Er ihnen deutlich:

„Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener (διάκονος) sein und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zụ dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,43-45).

Als Grundhaltung fordert Jesus von den Zwölfen also die διακονία: die in Liebe geübte Dienstbereitschaft für alle.

So machen sich zwei von Jesus grundgelegte Normen für die künftigen nachapostolischen Autoritäten seiner Gemeinde bemerkbar:

1. Ihre Bindung an das apostolische Zeugnis und

2. ihre in Liebe geübte Dienstbereitschaft für alle.

Über die sonstige organisatorische Gestalt der Kirche trifft weder der vorösterliche Jesus noch der Auferstandene Bestimmungen. Die Entfaltung der kirchlichen Ämter und Dienste ist also offen für eine geschichtliche Entwicklung Schließlich ist noch anzumerken, dass die Grundstimmung der ersten Christengenerationen von der baldigen Parusie des Herrn geprägt ist. Folglich machen sie sich keine systematischen Gedanken über die Einrichtung bleibender kirchlicher Strukturen und Ämter, weshalb die diesbezüglichen frühchristlichen Nachrichten zufällig und keineswegs vollständig sind.

Angesichts der weitgesteckten Vorgaben Jesu und der Vielfalt der antiken Welt ist es verständlich, dass sich in den frühchristlichen Quellen für die diversen Ortsgemeinden unterschiedliche Gemeindeordnungen bemerkbar machen. Vor diesem Hintergrund wird zunächst die kirchliche Verfassungsphänomenologie der beiden ältesten Christengemeinden, nämlich der Gemeinden von Jerusalem und Antiochien, ins Auge gefasst.

2.2 Die Verfassung der ältesten Gemeinden
2.2.1 Das judenchristliche Modell in der Gemeinde von Jerusalem: Von den Zwölf zu Jakobus dem Herrenbruder und den Presbytern

Deutlich lassen die für Jerusalem relevanten Quellen – der um 54/55 von Paulus geschriebene erste Korintherbrief und der um 55 nachfolgende Galaterbrief20 sowie die wohl um 90/100 entstandene Apostelgeschichte21 – die Leitungsstrukturen dieser judenchristlichen Gemeinde erkennen. Hier sind zunächst die Zwölf zu nennen, die der historische Jesus in die engste Nachfolge berufen hat. Nach 1 Kor 15 begegnet der Auferstandene zuerst ihrem Sprecher Petrus und dann – zusammen mit Petrus – der ganzen Zwölfergruppe. Diese Zwölf stellen sowohl bei der Verkündigung der mit Jesus angebrochenen Gottesherrschaft als auch bei der ihnen von Jesus aufgetragenen Sammlung des endzeitlichen Israel die führenden Autoritäten dar. Macht schon ihre Lebensgemeinschaft mit dem irdischen Jesus die authentische Weitergabe seiner Worte und Taten wahrscheinlich, so bestellt sie der Auferstandene ausdrücklich zu seinen Aposteln, indem Er sie zur Verkündigung seiner Frohen Botschaft und zur Sammlung des neuen Israel bevollmächtigt und sendet. Besonders deutlich kommt ihre Rolle als Protagonisten des neuen Zwölfstämmevolks durch die Nachwahl des Matthias zum Ausdruck. Sollte durch diese Wahl doch – nach dem Ausscheiden des Judas – die Israel repräsentierende Zwölfzahl wieder vervollständigt und so die Gewinnung ganz Israels ermöglicht werden.

Freilich ist Letzteres nicht gelungen, wie auch dem Zwölfergremium keine lange Dauer beschieden ist. Paulus trifft um 35 bei seinem ersten Jerusalembesuch von den Zwölfen nur Petrus an, neben dem der Herrenbruder Jakobus offensichtlich schon eine Rolle spielt (Gal 1,18f.). Auch bei seinem zweiten Besuch anlässlich des um 48 versammelten so genannten Apostelkonzils treten die Zwölf als Führungskollegium nur sehr unvollständig in Erscheinung. Verhandelt Paulus doch nur mit dem zwar den Aposteln, nicht aber dem Zwölferkollegium angehörenden Herrenbruder Jakobus sowie mit Petrus und Johannes, den anerkannten Säulen, wie er sie in Gal 2,9 nennt. Die maßgeblichen Autoritäten wirken nunmehr also als Dreiergremium in Jerusalem.

Freilich scheinen sich auf dem Apostelkonzil noch weitere Entwicklungen bemerkbar zu machen. Nehmen an dieser Versammlung – laut Apg 15,2.4.6.22f. – neben den Aposteln doch auch Presbyter (πϱεσβύτεϱοι) in führender Position teil, offensichtlich aus der jüdischen Synagogenverfassung übernommene Älteste, die spätestens beim letzten Jerusalemaufenthalt des Paulus um 56 „als fest etabliertes […] Führungskollegium mit ihrem Sprecher Jakobus unzweifelhaft bezeugt sind“22. Wie in den Synagogengemeinden dürften diese Presbyter also wohl neben Jakobus verantwortliche und entscheidende, unter anderem auch richterliche Funktionen wahrgenommen haben.

Erste Ansätze eines solchen presbyteralen Kollegiums könnten sich schon früher in den sieben Männern manifestiert haben, die in Jerusalem für den „Dienst an den Tischen“ der christlichen Hellenisten gewählt wurden, damit die Zwölf ungehindert „beim Gebet und beim Dienst am Wort“ bleiben konnten (Apg 6,1-6). Zwei dieser sieben – Stephanus und Philippus – werden nämlich auch als verkündigende „Diener des Wortes“ beschrieben (Apg 6,8-7,60; 8,5-8.26-40). So dürften die Sieben – zumal sie durchwegs griechische Namen tragen – nicht nur die Armenpflege, sondern auch andere Leitungsaufgaben unter den Hellenisten der Jerusalemer Gemeinde wahrgenommen haben.23 Als christliche Hellenisten geraten sie jedoch in einen schwerwiegenden Konflikt mit der griechischsprachigen Synagoge von Jerusalem und werden daher aufgrund ihrer Relativierung und Kritik des Tempels und des Gesetzes als jüdische Ketzer entweder getötet oder müssen nach dem um 31/32 erfolgten Stephanus-Martyrium aus der Stadt fliehen. Damit verschwinden die Sieben aber endgültig aus der Jerusalemer Gemeinde.

Insgesamt zeichnet sich in der Jerusalemer Gemeindeleitung also in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren – zwischen 35 und 56 – eine deutliche Entwicklung ab. Am Anfang stehen die Zwölf, es folgt das Dreiergremium Jakobus, Petrus und Johannes mit den Presbytern und am Schluss leitet Jakobus zusammen mit einem Presbyterkollegium die Gemeinde (vgl. Abb. 8). Damit liegt in Jerusalem bereits Mitte des 1. Jahrhunderts, also noch in apostolischer Zeit, ein Gemeindemodell vor, das eine zweistufige, aus Gemeindeleiter und Presbytern bestehende Leitungsstruktur charakterisiert.

Abb. 8 Mitte des ersten Jahrhunderts nimmt man in der judenchristlichen Gemeinde von Jerusalem eine zweistufige Leitungsstruktur wahr.

Die streng am jüdischen Gesetz ausgerichtete und daher noch unbehelligt gebliebene Gruppe der Aramäisch sprechenden Jerusalemer Hebräer entwickelt sich in der vorgegebenen Richtung weiter. Wird sie schon um 56 von einem Presbyterkollegium geleitet, an dessen Spitze der Herrenbruder Jakobus steht, so wählt man nach dessen Tod um 62 den Verwandten des Herrn Simon ben Klopas zum neuen Gemeindeleiter von Jerusalem. Es scheint also im hebräischen Judenchristentum „eine dem Kalifat vergleichbare Weitergabe der geistlichen Führung der Gemeinde an den jeweils nächsten Verwandten [des Herrn] gegeben zu haben“24 und damit schon eine Tendenz zum Monepiskopat, von dem später noch die Rede sein wird.

HÜBNER, Reinhard M., Die Anfänge von Diakonat, Presbyterat und Episkopat in der frühen Kirche, in: RAUCH, Albert / IMHOF SJ, Paul (Hg.), Das Priestertum in der Einen Kirche. Diakonat, Presbyterat und Episkopat (= Koinonia. Schriftenreihe des Ostkirchlichen Instituts Regensburg 4) Aschaffenburg 1987, 45-89; hier 46-49 (Gemeinde von Jerusalem); 61-64 (Presbyteralverfassung).

SCHNELLE, Udo, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 20076, 32-46 (Paulus-Chronologie).

2.2.2 Das heidenchristliche Modell
2.2.2.1 Propheten, Lehrer und Apostel in der Gemeinde von Antiochien

Apg 13,1 bezeichnet die Autoritäten Antiochiens, der ersten heidenchristlichen Gemeinde, als Propheten und Lehrer und zählt zu ihnen fünf Männer, unter ihnen an erster Stelle Barnabas und an letzter Paulus. Diese fünf bilden aber nicht zwei Gruppen, sondern sind gleichzeitig Propheten und Lehrer, wenn die einen auch mehr pneumatisch redende Propheten, die anderen mehr an der Überlieferung orientierte Lehrer gewesen sein dürften. Deutlich werden sie auch als Vorsteher des lokalen Gemeindegottesdienstes charakterisiert:

„Während sie zu Ehren des Herrn Gottesdienst feierten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Wählt mir Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie mir berufen habe! Da fasteten und beteten sie, legten ihnen die Hände auf und ließen sie ziehen“ (Apg 13,2f.).

Der Verfasser der Apostelgeschichte greift hier mit der Wendung „während sie zu Ehren des Herrn Gottesdienst feierten die den Tempeldienst der Priester und Leviten bezeichnende Terminologie der Septuaginta auf,25 gebraucht sie für das gottesdienstliche Handeln urchristlicher Autoritäten und charakterisiert dieses Handeln so – im geistig-übertragenen Sinn – als wahrhaft „priesterlichen Dienst“.26 Auf dieser Linie bewegt sich auch die Formulierung der von ihm überlieferten Geistesweisung, die Barnabas und Saulus durch ihr Ausgewählt-werden mit Leviten vergleicht (vgl. Num 8,11 LXX) und ihr künftiges missionarisches Werk damit in Analogie zum priesterlichen Tempeldienst interpretiert. Das entspricht aber genau dem Selbstverständnis des Paulus, der sich in dem um 56 entstandenen Römerbrief27 als priesterlichen Diener (λειτουϱγóν) Christi Jesu für die Heiden bezeichnet,

 

„das Evangelium Gottes priesterlich verwaltend , damit die aus den Heiden bestehende Opfergabe [Gott] angenehm werde, geheiligt durch den Heiligen Geist“ (Röm 15,16).

Laut der Apostelgeschichte ist es auch der Heilige Geist, der – durch Vermittlung der antiochenischen Autoritäten – die beiden Männer als seine bevollmächtigten Abgesandten aussendet,28 weshalb sie in Apg 14,4.14 im Rahmen ihrer ersten Missionsreise als Apostel bezeichnet werden. Ganz in diesem Sinn versteht sich Paulus nach dem einmütigen Zeugnis seiner um 55/56 geschriebenen Briefe29 nicht durch Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott selbst zum Apostel berufen (Gal 1,1).30

Wie an der Spitze der Charismenliste des um 54/55 entstandenen ersten Korintherbriefs (1 Kor 12,28) macht sich damit auch an der Spitze der Gemeinde von Antiochien die Charismatiker-Trias Apostel, Propheten und Lehrer bemerkbar. So wird deutlich, dass die heidenchristliche Gemeinde von Antiochien in der ersten Christengeneration von einem Kollegium von charismatischen Aposteln, Propheten und Lehrern geleitet wird. Erstere sind über die „Gemeindegrenzen“ hinaus zur Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden bestellt, während die Propheten und Lehrer in Antiochien bleiben und dort – neben prophetischem Wort, Lehre und anderen Leitungsdiensten – dem Gemeindegottesdienst vorstehen. Freilich sind sie auch hier – wie in Korinth – in die Gemeinde eingebunden, die im Zusammenspiel der verschiedenen Charismen den einen Leib Christi bildet (1 Kor 12,27f.). Von weiteren Mitarbeitern der Apostel, Propheten und Lehrer ist nicht die Rede. Doch gibt es solche in den heidenchristlichen Gemeinden des Paulus.

BALZ, Horst, λειτουϱγία ϰτλ., in: DERSELBE / SCHNEIDER, Gerhard, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 2, Stuttgart Berlin Köln 19922, 858-861.

HÜBNER (wie S. 32) 49f. (Apostel, Propheten und Lehrer in der Gemeinde von Antiochien).

MAYER, Bernhard, Die Kirche als Mysterium in ihren Ämtern und Diensten. Ansätze im Neuen Testament, in: DERSELBE / SEYBOLD, Michael, Die Kirche als Mysterium in ihren Ämtern und Diensten (= Extemporalia 5) Eichstätt Wien 1987, 9-42; hier 15-17, 19 (Apostel, Propheten und Lehrer in den Gemeinden von Antiochien und Korinth).